- Start: 10.10.2020 - 17:44 Uhr
- Ende: 10.10.2020 - 17:59 Uhr
Sie wusste, dass sie auch etwas für Cora hätte empfinden sollen. Aber in ihrem Herzen war nichts gewesen außer Leere. Zu lange lebte Martha nun schon in dieser Welt, die einen zu schwierigen Entscheidungen zwang. Ihr Gewissen war gleich als allererstes auf der Strecke geblieben. Tot. Verscharrt. Und Martha war weitergegangen, ohne sich umzusehen.
Man hatte sie gezwungen, auch der Hinrichtung beizuwohnen. Jakob hatte geschrien und getobt, als Cora von der Brücke kippte und dann am Strick tanzte und zuckte. Er hatte sich gewunden, Martha geschlagen, sich übergeben.
Vermutlich hasste er sie. Doch sie hatte einen Grund gehabt.
"Ich habe einen Plan", sagte sie. "Wir werden auf keinen Fall bleiben. Aber dieser Clan ist intelligent. Du hast die Schüsse doch auch gehört, nachts, wenn jemand fliehen wollte. Wir dürfen nicht den gleichen Fehler machen. Wir müssen das intelligent angehen." Martha sah zu Jakob, der keine Antwort gab.
Nach der Arbeit war er schweigend gegangen. Nicht einmal zum Abendessen war er erschienen, jetzt hatte Martha ihren Bruder in seinem Erdlochzimmer aufgespürt.
Martha atmete tief durch. "Du darfst jetzt nicht aufgeben, hörst du? Sonst war Coras Opfer umsonst. Sonst war alles umsonst. Das alles haben wir doch nur getan, um den Clan zu täuschen. Damit sie glauben, wir hätten aufgegeben und würden ihnen dienen, genau wie Marcel."
Jakob blieb auf der Matratze liegen, mit dem Rücken zu ihr. Im schwachen Kerzenlicht konnte sie sich nicht einmal sicher sein, dass er atmete.
"Und wir wären ja nicht allein." Vielsagend sah Martha zu den anderen Wohnöffnungen im Gang.
Unter den Minenarbeitern herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Menschen starben. An Unterernährung, durch Unfälle im Bergbau oder weil sie für ein Verbrechen erwischt wurden wie Cora. Andere wie Marcel wurden befördert oder an andere Standtorte versetzt.
Ihre Plätze nahmen fast direkte Neue ein. Arme Seelen, die der Clan aus der Wildnis pflückte wie köstliche Beeren. Einige der neuesten Opfer waren drei kräftige Männer, die Martha zu schätzen gelernt hatte. Viele der Neuankömmlinge protestierten, kämpften oder versuchten gar, zu fliehen. Sie mussten die neuen Regeln erst durch Faust und Peitsche lernen. Doch diese drei hatten sich ohne Murren eingefügt. Sie arbeiteten hart und verbissen, leisteten sich keinen Fehltritt und doch glitzerte in ihrem Blick ungebrochener Kampfgeist.
Zu ihrer Gruppe gehörte noch eine vierte Person, ein junges Mädchen. Der Clan hielt es in der Basis als Geisel. Die drei mussten ihren Fluchtversuch also klug angehen, eine Taktik, die Martha gefiel. Sie begann bereits vorsichtig, eine Freundschaft zu knüpfen. Gemeinsam mit drei starken und kampferprobten Kerlen würde die Flucht gelingen.
"Vermutlich bewachen sie uns jetzt weniger", fuhr sie fort. "Coras Hinrichtung war auch ein Test. Wir haben ihn bestanden, so schwer es war. Sie glauben, dass sie uns eingeschüchtert haben, genug, damit wir gar nicht mehr an eine Flucht denken. Wie alle hier."
In ihren Gedanken war der Plan spielerisch einfach: Sie mussten sich nur genug Vertrauen verdienen, um zu den Sammlern eingeteilt zu werden, die in der schützenden Dornenhecke Brombeeren suchten.
Fertig!
Martha sah Jakob an, der immer noch keine Reaktion zeigte. "Ich weiß, dass du traurig bist wegen Cora, aber jetzt müssen wir nach vorne sehen und ..."
"Ich bin nicht traurig", unterbrach er sie. "Ich fühle gar nichts."
Falls sich der Text hier anders liest als sonst, liegt es daran, dass ich ihn quasi rückwärts geschrieben habe, mit dem letzten Satz zuerst und dann immer einen oder mal zwei Absätze davor. Eine sehr ... chaotische Erfahrung. Bin gespannt, ob sich das irgendwie auswirkt.