- Start: 05.11.2021 - 17:43 Uhr
- Ende: 05.11.2021 - 18:06 Uhr
"Ist es tot?"
Die Worte drangen wie durch Nebel zu Martha vor. Sie blinzelte. Sonnenlicht stach in ihre Augen.
"Martha!" Jakobs Stimme. "Du lebst!"
Warum nur tat alles so weh?
Sie wollte sich aufrichten, aber noch mehr Schmerzen jagten durch ihre Beine. Entsetzt stellte sie fest, dass ihr Knie in einem unnatürlichen Winkel verdreht war. Dann beugte sie sich in einem Hustenkramp vor.
"Wir müssen sie hier herausschaffen." Marcels Stimme. "Und zwar, bevor das Ding aufwacht."
"Welches ... Ding ...?", krächzte Martha.
"Der Pestengel."
Sie hob den Blick. Neben sich bemerkte sie einen großen, gräulichen Berg. Der kam ihr bekannt vor ... Es war der Leib der Riesenschnecke. Kaum sichtbar hob und senkte sich seine Flanke.
"Du hast es ihm ordentlich gezeigt", sagte Jakob. Er kniete neben Martha. Weiße Dämpfe umwallten sie. Sie hustete und würgte erneut.
"Wo ... sind die ... Piranhas?"
"Die sind abgehauen, als der Pestengel brannte. Das hättest du sehen sollen!" Jakob grinste. Doch sein Blick war besorgt. "Geht es dir gut?"
"Das sind die Dämpfe", sagte Marcel. Viorel stand einen halben Schritt hinter ihm und kam jetzt nach vorne. Er kniete sich hin und fasste unter Marthas Arme. Sie schrie auf, als ihr Bein bewegt wurde. Viorel setzte sie wieder ab.
Sie rang nach Atem.
"Wir wissen nicht, wie lange der Pestengel bewusstlos bleibt", sagte Marcel.
"Vielleicht können wir eine Trage bauen", schlug Viorel vor.
"Nein", sagte Martha. Sie sah auf, fest in Marcels Augen. "Ich bin verletzt. Ich bin nutzlos!" Es fühlte sich irgendwie befreiend an, das auszusprechen. "Ihr müsst ohne mich gehen."
"Martha! Nein, das kann nicht dein Ernst sein!" Jakob umklammerte ihren Arm.
Sie ignorierte ihn und sah Viorel an. "Ich habe nicht gezögert, dich und deine Familie zurückzulassen."
"Das stimmt", murmelte Viorel, doch sein Blick wurde nicht finsterer. "Ich bin nicht wie du."
"Du musst es sein", widersprach sie. "Bitte. Nehmt meinen Bruder mit euch und flieht."
Marcel nahm die Schrotflinte auf. "Komm, Jakob."
"Nein. Nein! Das könnt ihr nicht machen!"
"So ist das Gesetz dieser Welt."
"Martha! MARTHA!"
Viorel sah zu, wie Marcel den zappelnden Jakob mit einem Arm umfasste und mit sich zerrte.
"Viorel", sagte Martha leise. "Kannst du mir noch einen Gefallen tun?"
"Welchen?"
"Bringst du mit Feuer und Öl aus dem Haus?"
Er nickte und trabte los, während Jakobs Schreie über das Land hallten. Rau, geradezu hysterisch. Martha sah nicht zurück.
Er würde es verstehen. Eines Tages.
Viorel reichte ihr das Gewünschte. Martha zog ihren Rucksack ab. "Das braucht ihr dringender als ich." Ihre Hände zitterten. "Pass auf ihn auf. Jakob, meine ich."
Viorel kniete sich zu ihr. "Ich verspreche es." Der Schmerz in seinem Blick stammte sicherlich nicht nur von diesem Abschied. Er hatte gerade seinen Cousin und seinen jüngeren Bruder verloren. Aber vielleicht würde er sich gerade deshalb um Jakob kümmern können.
Als er ging, sackten Marthas Schultern nach unten und Tränen liefen über ihre Wangen. Sie schluchzte hemmungslos. Sie musste nun nicht länger stark sein! Ihr Schicksal war besiegelt. Mit einem gebrochenen Bein konnte man hier draußen nicht überleben. Und nur die Starken überlebten, das hatte sie gelernt.
Sie erlaubte sich zum ersten Mal, um alle zu weinen. Um ihre Eltern. Um Lucky Charles, den kleinen Collie. Um Mustafa und Mai und um Josef. Um die Kinder: Amalia, Daniel, Alek und die artige Christina Hansen, die sie zurückgelassen hatten. Um Cora, für die sie keinen Finger gerührt hatte. Um Ciprian und Alexandru.
Sie weinte auch um sich und Jakob. Um all das, was ihnen genommen worden war. Um das, was die junge Valea verloren hatte, und ihr stummer Freund Finnik. Um Marcel, der seine Mutter hatte erschießen müssen. Um Viorel, der nun an ihrer Stelle stark sein müsste.
Und sie weinte um Louise. Es war, als wären all die Jahre seit ihrem Tod nicht verstrichen, als hätte Martha niemals eine Mauer um ihr Herz errichtet. Als wäre sie niemals die starke, pragmatische Anführerin gewesen, die sie geworden war. Sie weinte all die Tränen, die sie nach Louises Tod nicht gehabt hatte.
Denn nun war sie ebenfalls tot. Sie brauchte die Mauer nicht länger. Sie konnte schwach sein und emotional und ... menschlich!
Die Erde bebte. Es rumpelte, als der Pestengel sich langsam rührte. Mit einem fast menschlich klingenden Stöhnen wälzte sich das Monster auf die Seite.
"Guten Morgen, Schlafmütze", sagte Martha. Sie ergriff Öl und Streichhölzer.
Der Kopf des Monsters war verformt. Das Feuer hatte die Haut teilweise geschmolzen. Allein die unsicheren Bewegungen des Riesen machten deutlich, wie schwer verwundet das Alien war. Die Muskeln schienen nur noch auf einer Seite des Halses richtig zu funktionieren. Zuckend und krampfend tastete das Wesen mit den Tentakeln über den Boden.
"Ich bin hier." Marthas Stimme klang krächzend von den beißenden Dämpfen. "Komm und hol mich."
Der Pestengel streckt einen Tentakel aus und umklammerte sie. Martha schrie auf, als er sie anhob. Der feste Griff zerquetschte sie fast, doch sie kämpfte die Arme frei, ohne Rücksicht auf die Schmerzen.
Dann sah sie der Kreatur in ihr hässliches Gesicht.
"Du hast meine Freundin gefressen, Mistkerl. Ja, es war Bernhard, der Verräter, der Louise geopfert hat. Aber er hat bereits dafür bezahlt. Soll ich dir sagen, was ich mit ihm ... Ahhh!" Sie schrie, als der Tentakel sie weiter quetschte. Beinahe glitt ihr der Ölkanister aus den Fingern.
Der Pestengel öffnete das Maul. Die Dämpfe strömten Martha entgegen.
Sie riss das Feuerzeug an. "Für Louise."
Die Dämpfe entzündeten sich. Die Explosion erschütterte die Luft. Jakob, Marcel und Viorel sahen, wie der Kopf des Pestengels zerfetzt wurden. Finnik und Valea oben im Gebirge hörten den Lärm.
Und alle Menschen auf der Welt hörten ein vielstimmiges Kreischen, das die Panzerhörner und Papageien, Schwärme und Piranhas und Schneidarme ausstießen, als ihre Königin fiel.
Alles ... hatte sich geändert.