- Start: 08.09.2021 - 16:45 Uhr
- Ende: 08.09.2021 - 17:13 Uhr
Feldarbeit hatte sich Martha immer einfach vorgestellt. Nicht leicht, nein, das nicht - sie hatte gewusst, dass es harte Arbeit sein würde. Anstrengend. Ein Knochenjob, bei dem man sich die Hände schmutzig machte.
Aber sie dachte, wenigstens die Grundlagen wären einfach. Man steckte Samen in die Erde und holte die Ernte zum richtigen Zeitpunkt heraus - keine Zauberei.
Während sie entmutigt auf ihre Ausbeute eines langen, harten Tages sah, wurde ihr langsam klar, dass selbst Landwirtschaft kompliziert war.
Sie hatten Kartoffel gesät, doch ihre Ernte bestand nun nur aus einem kleinen Eimer mit winzigen, teils nur daumengroßen Knollen. Die meisten Pflanzen waren in der Hitze ausgetrocknet, denn sie hatten nicht genug Wasser herbeischaffen können. Der alte Brunnen des Bauernhofs war versiegt.
Die meisten Kartoffeln waren auch noch grün. Ciprian, der ein wenig von Pflanzen verstand, meinte, sie hätten zu dicht unter der Oberfläche gelegen.
Dieser Herbst war die erste Bewährungsprobe ihrer kleinen Gruppe. Und sie versagten.
Seufzend fragte sich Martha, wie so viel hatte schieflaufen können. Vor der Kartoffelernte hatten sie auch die Äpfel und Kirschen der alten Obstbäume, die Bohnen und Kräuter und die wilden Beeren im Wald verloren. Manche waren ihnen von wilden Tieren weggefressen worden, andere Regengüssen oder der Hitze zum Opfer gefallen.
Es brauchte nicht einmal die Kreaturen, um sie in die Knie zu zwingen! Das war das Schlimmste an der ganzen Sache.
Was sie jetzt tun sollten, wusste Martha noch nicht genau. Ihr Vorrat an Dosen schrumpfte rapide, und besonders die junge Valea, Alexandrus Tochter, fraß momentan wie eine Verhungernde. sie war jetzt fünf und wuchs wie Unkraut.
Es ließ sich nicht länger aufschieben: Sie würden neue Vorräte holen müssen. Dazu müssten sie den Hof verlassen und nach Städten in der Gegend suchen. Die würden aber entweder von dem großen Clan, dem sie entkommen waren, geplündert sein oder unter dessen Kontrolle stehen.
Sie konnten nicht auf dem Bauernhof bleiben. Da war sich Martha sicher. Und sie konnten auch nicht alle reisen. Valea war viel zu jung. Alexandru und dessen Cousins Viorel und Ciprian würden das Kind niemals zurücklassen. Also müssten sie auch bleiben.
Wie schon einmal würde Martha gehen. Sie würde Jakob mitnehmen, ob er wollte oder nicht - er hatte ihr noch immer nicht wirklich verziehen, dass sie Cora zurückgelassen hatte. Marcel würde ihnen hoffentlich auch folgen. Martha konnte seine Fähigkeiten gut gebrauchen. Blieb nur die Frage, ob sie Finnik mitnahmen. Ein Stummer, der kaum ihre Sprache verstand, ein weiteres Maul zu stopfen - aber auch ein weiteres Paar Hände bei allen Arbeiten, ein weiterer Mann, der einen Rucksack tragen konnte.
Über sein Schicksal musste sie noch entscheiden.
Entschlossen füllte sie die winzigen Kartoffeln in eine Schüssel und marschierte zum Rest ihrer Gruppe, ein falsches Lächeln auf den Lippen. "Hier, das ist unsere Ration für heute. Die machen wir uns heute."
Begeistert beugten sich die Überlebenden über ihre erste Ernte. Nur Jakob schwieg und schenkte ihr einen finsteren Blick. Er hatte gemeinsam mit Martha geerntet - er wusste, dass das nicht nur eine Ration war, sondern die gesamte Ernte.
Aber er schwieg. Als Martha zur Tür sah, lehnte sein Rucksack bereits gepackt daneben.
Alexandru spielte 'Hoppe, Hoppe, Reiter' mit Valea. Ciprian stand in der Küche und versuchte sich an einer Kartoffelsuppe mit Petersilie. Die Stimmung im Wohnzimmer war so gut wie lange nicht mehr. Die Aussicht auf frische Nahrung nach den Jahren der Dosen hatte sie alle beschwingt. Martha lächelte pflichtschuldigst, obwohl ihr Herz immer schwerer wurde.
Es war der letzte Abend in dieser großen, fröhlichen Runde.
Marcel ließ sich neben sie sinken. Der ehemalige Soldat strich sich durch das Haar, das ihm inzwischen bis auf die Schultern fiel. "Du gehst?"
Martha sah auf, zögerte, dann nickte sie.
"Wann?"
"Heute Nacht."
Marcel hob überrascht die Brauen.
Mit einem Blick vergewisserte sie sich, dass niemand der anderen sie hören konnte. "Die Ernte wird nicht für alle reichen. Nicht für den Winter."
"Verstehe." Er nickte ihr zu. Wenig später stand er auf, entschuldigte sich unter einem Vorwand und ging nach oben. Martha lächelte schwach.
Drei.
Als nächstes behielt sie Finnik im Auge. Er malte still in einer Ecke, bis Alexandru aufstand und Valea deshalb zu Fin tapste. Dann begann der Syrer, mit dem Mädchen abzuklatschen und ihr Bilder zu zeigen. Sein Lächeln war so rein und unschuldig, dass es ein Herz aus Eis erwärmen konnte.
Was bedeutete, dass er bleiben musste. Er würde sonst versuchen, Valea zu retten.
Als Ciprian die Suppe auftrug, aßen sie in großer Runde. Sie erzählten Märchen und Sagen aus der alten Welt, an die sie sich noch erinnern konnte. Viorel erzählte "Game of Thrones" nach, brachte aber ständig die Namen durcheinander. Martha gab es auf, den verwirrenden Intrigen folgen zu wollen, und lehnte sich zurück. Neben ihr aß Marcel, als würde er die nächsten Monate nichts mehr kriegen.
Vermutlich, ging ihr auf, dachte er, dass sie Alexandrus Familie die Ernte überlassen würden. Er dachte, sie gingen, damit die fünf anderen überleben konnten.
Er kannte Martha schlecht. Sie würde kein Risiko eingehen, wenn es um ihr eigenes Überleben ging. Aber die Ernte, die sie mitnehmen würde, war so spärlich, dass er vermutlich nicht einmal einen Verdacht schöpfen würde. Niemals würde er glauben, dass das, was in ihre bereits gepackte Tasche passte, alles wäre.
Alles, was sie im letzten Jahr geerntet hatten. Alles, was noch an Lebensmitteln im Haus gewesen war.
Eben alles.
Als es dunkel wurde, und die drei Männer, Valea und Finnik schliefen, trat Martha nach draußen. Ihrem stummen Zeichen folgten Jakob und Marcel. Sie schulterten ihre Taschen und schlossen die Tür hinter sich. Dann folgten sie dem vielbegangenen Weg vor der Hütte, hinein in den Wald. Sie verwischten ihre Spuren.
Niemand würde ihnen folgen können. Am Morgen würden Alexandru, Ciprian, Viorel, Valea und Finnik keinen Beweis finden können, dass ihre drei Freunde jemals existiert hatten.
"Wieso muss es immer so enden?", fragte Jakob leise.
"Wir haben dieser Gruppe eine Chance gegeben", sagte Martha. "Aber es funktioniert nicht. Wir können nicht in großen Gruppen überleben. In dieser jedenfalls nicht, und vielleicht auch in keiner anderen." Sie sah zu ihren beiden Begleitern. "Wir drei brauchen etwas anderes.