- Start: 24.11.2019 - 18:00 Uhr
- Ende: 24.11.2019 - 18:29 Uhr
"Es hilft alles nichts." Marcel warf den Rucksack wieder an Land. "Wir müssen Ballast abwerfen."
"Aber ..." Jakob fing das Gepäck verdattert auf.
"Sieh nach oben", knurrte Marcel. "Es wird gleich dunkel. Und ihr habt die Leichen gesehen - hier gibt es Vampire."
Vampire ... oder Fledermäuse, wie sie diese Monster auch nannten. Martha schauderte. Niemand wusste, wie sie aussahen, denn sie griffen nur im Dunkeln an und waren unglaublich schnell. Die schrecklich zugerichteten Leichen waren allerdings immer ein deutlicher Hinweiß auf ihre Anwesenheit.
Jakob sah sie flehend an.
"Tu, was er sagt!", befahl Martha ihrem jüngeren Bruder grob. Auch Finnik und Cora nahmen das als Aufforderung. Während Marcel das Kanu mithilfe eines Paddels am Ufer festhielt, stülpten die vier anderen ihre Taschen um und kippten die eben erst eingesammelte Beute auf den Boden.
Holz, Wasser und Essen verstreute sich auf dem feuchten Gras.
"Leert die Flaschen", befahl Martha nach einem kurzen Blick.
"Aber ... Wasser ist das wichtigste!", widersprach Cora.
"Wir sind direkt am Fluss", sagte Martha. "Und wir finden schon wieder eine Quelle, um die Flaschen aufzufüllen."
Murrend gehorchte ihre Truppe, während Martha die restlichen Vorräte betrachtete. Was war noch schwer und entbehrlich? Nun, eigentlich war nichts entbehrlich. Sie lebten von Tag zu Tag, manchmal nur von Stunde zu Stunde. Jedes noch so kleine Bisschen konnte später den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.
"Das Holz!", befahl Martha. "Legt alles Brennmaterial weg."
Während die drei anderen sich gehorsam durch den Stapel wühlten und die Holzscheite an die Seite warfen, fiel Martha etwas ins Auge. War das ...? Sie bückte sich und hob das schmuddelige Album auf. Es war irgendwann feucht geworden, vermutlich, als sie den Rucksack mal in eine Pfütze gestellt hatte, diese Fracht vollkommen vergessend. Wie viele Jahre hatte es am Boden ihres Rucksacks geruht?
"Werft mal rüber", rief Marcel. "Vielleicht reicht das schon."
Cora und Finnik machten sich daran, die Rucksäcke zu füllen und Jakob warf sie zu ihrem Bootsführer. Wieder senkte sich das Kanu ziemlich ins Wasser.
Martha schlug das Album auf und starrte auf die uralten Fotografien. verblichene Bilder mit Wasserrändern, teilweise ausgebleicht, sahen ihr entgegen. Sie strich sachte über die spröde Oberfläche.
Das Album hatte sie zusammen mit Louise angelegt. Jeder hatte ein paar Fotos in der Tasche gehabt, die hatten sie genutzt, um die ersten Seiten zu füllen. Es gab Bilder von Martha und Jakob als Kinder inmitten ihrer Familie. Eine lächelnde Louise zwischen beiden Eltern. Sie hatte damals so elegant ausgesehen. Doch der Anblick ihres hübschen Gesichtes schnitt Martha bis ins Herz.
Louise ... ach, Louise.
"Nein, so sinken wir, wenn ihr noch mit einsteigt", entschied Marcel.
"Vielleicht, wenn wir ein paar Schlafsäcke und Decken opfern ...", überlegte Jakob. Die anderen wühlten durch ihr Gepäck.
Martha blätterte um. Ernst guckende Menschen auf Passfotos. Eltern von Mustafa oder Josef. Schnappschüsse von Partys aus einer anderen Zeit. Ein Klassenfoto, zu zwei Dritteln vom Wasser verwaschen.
Und ein Foto mit einem grinsenden Bernhard. Impulsiv griff Martha zu und riss das Foto heraus. Verräter! Dieses Lächeln, das hatten Andere viel dringender benötigt, viel eher verdient. Es war unfair, dass er für alle Zeiten mit dieser Freude auf das Papier gebannt sein sollte.
Der Fluss riss das Foto mit sich.
"Die Dosen! Wir können noch ein paar Dosen loswerden."
"Spinnst du? Wollen wir vielleicht gleich alles hierlassen?"
"Dann müssen wir an das Werkzeug, das ist auch schwer. Willst du lieber die Axt hierlassen?"
Martha blätterte weiter. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Diese Fotos waren jünger. Irgendwann hatten sie ein verlassenes Fotostudio gefunden und es geschafft, einige Fotos drucken zu lassen. Da waren sie alle: Mit Daniel, Amalia, Alek und Christina Hansen, mit Mustafa, Mai, Josef, Bernhard und Kleinweg. Und Louise.
Ein Seufzen glitt über ihre Lippen. Ganze fünfzehn Leute strahlen in die Kamera und machten Possen, eine große, glückliche Familie.
Sie schlug das Buch zu. "Wartet hier."
Verwundert sahen Jakob und die anderen ihr hinterher, als Martha los rannte. Nur Marcel durchbrach die Stille. "Jetzt wären wir leicht genug."
"Was?" Jakob wirbelte herum. "Sag mal, spinnst du? Wir fahren nicht ohne sie!"
"Wir könnten auch euch beide hier lassen", fuhr Marcel fort. "Dann reichen die Nahrungsmittel auch länger."
"Du ..." Jakob ballte die Hände zu Fäusten.
Marcel hob die Hände. "Schon gut, schon gut. Es war eine Überlegung wert. Warten wir ab, aber wenn es dunkel zu werden beginnt, müssen wir los."
Jakob hob den Blick. Seine Schwester war bereits nicht mehr zu sehen. Blindlings war sie zurück in die Stadt gerannt.
Was auch immer sie vorhatte, hoffentlich war es das Risiko wert, dass Papageien oder Schwärme sie entdeckten. Hoffentlich wäre sie zurück, bevor es dunkel wurde und die Nacht die Vampire herauslockte. Hoffentlich würde sie nicht ...
"Na los, sortiert weiter!", drängte Marcel. "Packt vielleicht mal alles, was wir hierlassen, in ein, zwei Rucksäcke. Womöglich können wir zurückkommen und es wiederholen, dann ist das Holz wenigstens trocken."
Gehorsam beugte sich Jakob mit Cora und Finnik über die Taschen. Sie würden nicht zurückkommen. Das wussten sie alle. Sie würden mit der Strömung reisen und könnten nicht wieder flussaufwärts paddeln. Es war sinnlos, alles umzupacken und aus vier Rucksäcken zwei zum Mitnehmen und zwei zum Zurücklassen zu machen. Eine sinnlose Aufgabe - doch sie gab ihren Händen etwas zu tun und hielt die düsteren Gedanken fern. Auf seine Weise war auch Marcel ein Beschützer wie Martha.
Es dauerte keine Viertelstunde, da hörten sie das Klappern von Rollen. Wenig später bog Martha um eine Ecke, vor sich einen Einkaufswagen voller Pakete. Entgeistert starrten die anderen sie an. Was sollte das denn?
Das Rätsel lüftete sich, als sichtbar wurde, was für Pakete es waren.
"Schwimmringe?!", fragte Cora.
"Schwimmringe, Seile und wasserdichte Plastikplanen." Martha parkte den Einkaufswagen. "Wir müssen gar nichts wegschmeißen. Wir packen jeden Rucksack in einen Ring und binden die hinten ans Kanu."
"Das ... das ist genial!", gab Marcel zu. "Und wenn die Rucksäcke rausfallen? Das wird eine stürmische Reise."
"Wir müssen sie einfach mit Seilen festbinden. Ich wünschte, wir hätten das Buch mit den Seemannsknoten noch."
"Ich hab euch gesagt, nehmt lieber die Fantasybücher zum Heizen", brummte Marcel. "Jetzt los, an die Arbeit. Die Sonne sinkt."
Martha riss ein Paket nach dem anderen auf. Finnik sah sich von Jakob und Cora ab, wie man die Rucksäcke in die Plastikplanen stecke und die Planen dann an drei Seiten in die Schwimmringe band. Dann bildeten sie eine lange Leine aus insgesamt sieben Ringen mit Gepäck - sogar die absolut überlebenswichtigen Dinge, die schon im Kanu gelagert gewesen waren, packten sie in Ringe.
"Nehmt die Leine lieber doppelt", sagte Marcel. "Wenn das Seil reißt, sind wir wirklich am Arsch. Und dann geht alle nochmal auf die Toilette und verliert etwas mehr Gewicht. Es wird so oder so eine heikle Reise."