- Start: 02.11.2020 - 08:55 Uhr
- Ende: 02.11.2020 - 09:30 Uhr
Alexandru ließ den Blick über den Platz schweifen. Die Stadt bot einen atemberaubenden Anblick. Statt einfacher, aus Holz errichteter Hütten gab es hier richtige Gebäude aus der alten Welt. Der dicke Schutzwall erinnerte ihn an den Anime "Attack on Titan". Florim hatte den geliebt.
Alexandru seufzte.
"Nicht stehenbleiben!", zischte ihm das blonde Mädchen zu und stieß ihm den Ellbogen in die Seite.
Alexandru nickte und lehnte sich erneut in die Lederriemen. Die Deutsche mit dem harten Blick hatte recht: Sie durften nicht auffallen. Das hier war nicht die Zeit, um in Erinnerungen zu versinken, oder er würde nicht nur seinen Sohn, sondern auch seine Tochter verlieren.
"Schneller!", rief der Wächter, den die Deutschen überredet hatten, ihnen zu helfen. Wenn Alexandru das richtig mitbekommen hatte, war dieser Marcel früher ein Teil der Gruppe geworden. Bevor der Clan sie eingefangen und ihn zum Wächter befördert hatte.
Sie stemmten sich ins Joch und zogen den Wagen mit Vorräten weiter. Die Wachen hatten sie überwältigt, als diese mit dem Vorratswagen zu ihrer Siedlung gekommen waren. Dann hatten sie die anderen Menschen aus den Jochen gespannt und waren selbst als Zieher eingesprungen.
Außer Alexandru und seinen beiden Brüdern waren das die Deutsche Martha und ihr jüngerer Bruder Jakob. Marcel, der Wächter, war mitgekommen. Dann waren sie den Rundgang entlanggezogen und hatten weitere Träger und Vorräte aufgenommen, als ob alles nach Plan laufen würde.
Die beiden bewusstlosen und gefesselten Wächter lagen in den ehemaligen Quartieren der fünf Arbeiter. Doch in ihrem Lager waren noch genug Wachen, die ihre gefangenen Kollegen früher oder später entdecken mussten. Alexandru wusste nicht, wie viel Zeit ihnen noch blieb.
Sie mussten Valea finden, die irgendwo in der Stadt als Geisel gehalten wurde. Das war das Versprechen, das er Martha abgerungen hatte. Sie würden nicht ohne seine Tochter fliehen.
Nun transportierten sie ihren Vorratswagen durch die Stadt. Marcel brüllte Anweisungen. Sie taten, als ob alles normal wäre. Vermutlich hatten die Abgesandten aus den anderen Dörfern, die mit ihnen zogen, noch nicht einmal bemerkt, dass sie keine normale Lieferung machten, sondern die Deckung eines gewagten Fluchtplans waren.
"Martha!", flüsterte Jakob plötzlich. "Da vorne ist Finnik!"
Martha winkte und ein dunkelhäutiger Junge kam zu ihnen getrottet. Sein Blick war ernst und ... vorwurfsvoll?
"Wie geht es dir?", murmelte Jakob leise.
"Finnik, wir suchen eine Geisel. Ein vierjähriges Mädchen, rumänisch", drängte Martha. "Hast du sie gesehen?"
Der fremde Junge nickte.
"Wo?", fragte Martha.
Finnik machte einen Schritt zurück und warf ihr einen bösen Blick zu.
"Das ist jetzt nicht die Zeit für Spielchen!", zischte Martha eindringlich. "Wir holen sie, und dann hauen wir ab."
Finnik riss die Augen auf und sah sich wild um. Er gestikulierte. Währenddessen sahen die anderen Zieher verdutzt nach hinten.
"Wir hauen ab?", fragte ein Mann, der in einem der letzten Dörfer zu ihnen gestoßen war.
Martha nickte abgelenkt. "Marcel da oben gehört zu uns." Sie deutete auf den Wächter. Dann schlüpfte sie aus den Riemen. "Finnik, du bringst mich zu dem Mädchen. Ihr anderen müsst zum Tor. Nehmt so viele mit, wie ihr kriegen könnt."
"Ich komme auch mit!" Alexandru folgte Martha.
"Ich auch!", rief Viorel.
"Nein!", knurrte Martha. "Ich brauche euch bei den Ziehern."
Viorel knurrte etwas. Alexandru verschränkte die Arme vor der Brust.
"Na gut, du kommst mit", entschied Martha und deutete auf ihn. "Ihr anderen geht zum Tor. Sobald wir uns euch anschließen, müssen wir rennen. Sagt allen Arbeitern Bescheid, aber verratet uns um Gottes Willen nicht an die Wächter!"
"Wir schaffen das", sagte Marcel und ließ die Peitsche knallen. "Bewegung!"
Finnik ergriff Marthas Hand und rannte los. Alexandru folgte den beiden Jugendlichen auf den Fuß. Der Syrer führte sie zum Rand des Dorfes, wo sich ein großer Heuschober befand. Das Gebäude war von Wächtern umstellt. Leise gingen sie hinter einem Strauch in Deckung und sahen herüber.
"Da drin?", fragte Martha.
Finnik nickte.
"Das sind zu viele", sagte Alexandru.
Martha sah konzentriert zum Schuppen, dann zurück. Sie stand auf und marschierte zu einer Gruppe Arbeiter, die in der Nähe ein Haus ausbesserten.
Leise konnte Alexandru ihre Worte noch verstehen. "Wir hauen hier ab. Aber zuerst brauchen wir eine Ablenkung. Überzeugt die Wächter, dass das Haus brennt. Und dann kommt mit zum Tor."
Martha war noch nicht wieder bei ihnen, als ein lauter Schrei erklang. "FEUER!"
Die Arbeiter liefen panisch auseinander. Die Wächter beim Heuboden fluchten und stürmten los, um die Menschen wieder einzufangen. Nur einer blieb beim Lagerhaus zurück.
Martha schlug einen Bogen und näherte sich dem Schuppen von hinten.
"Schafft sie das?", fragte Alexandru ihren Bruder.
Jakob nickte. "Im Schleichen macht ihr keiner was vor."
"Warum haben wir nicht auch den Leuten in unserer Siedlung Bescheid gesagt?", fragte Alexandru. "Warum retten wir nur die hier?"
"Wir retten sie nicht", grummelte Jakob. Alexandru wusste nicht, wieso. Der Aufstand war doch genau das: Sie befreiten die Arbeiter aus dem Clan.
Es dauerte nicht lange, bis Martha zurückkam. Ihr folgten mehrere Menschen, überwiegend Kinder. Eines davon hielt sie an der Hand, ein kleines Mädchen.
Valea.
Alexandrus Herz zog sich zusammen, als er sah, wie abgemagert seine Kleine war. Er schlug sich in der Deckung einiger Büsche zu ihr vor und drückte das Kind an sich.
"Papa!" Valea zappelte. "Ich kriege keine Luft."
"Wir müssen weiter." Martha klang ungeduldig.
"Wer sind die anderen?", fragte Alexandru.
"Weitere Geiseln." Martha eilte bereits auf das große Tor im Wall zu.
Die restlichen Wächter trieben gerade die Arbeiter zusammen. "Hier brennt es doch überhaupt nicht!", donnerte einer. "Was soll der Quatsch?"
"Die Geiseln!", rief ein anderer.
Sie hörten das Trappeln von rennenden Füßen auf der anderen Seite des Hauses, hinter dem sie sich versteckten.
"Rennt", stieß Martha hervor.
Alexandru hob Valea auf den Arm und sie sprinteten durch das Dorf. Sie hörten Rufe von mehreren Wächtern, die sie fragten, was sie taten. Dann fiel ein Schuss.
"Schneller!", rief Martha.
Ein weiterer Schuss. Eine der Geiseln fiel zu Boden. Doch vor ihnen kam das Tor in Sicht. Vom Lärm aufgeschreckt hatte Marcel seine eigene Waffe gezogen. Blitzschnell schaltete er alle vier Torwachen aus. Um ihren getarnten Wagen hatten sich inzwischen mehrere Menschen versammelt. Alexandru sah seine Brüder hinter den Vorräten in Deckung gehen. Marcel schickte jemanden, um das Tor zu öffnen. während sich das Fallgatter hob und die Ersten hinausströmten, eröffneten die Wächter das Feuer auf die Fliehenden.
Alexandru, Martha und Finnik tauchten in das Gedränge ein. Jakob, Viorel und Ciprian schlossen sich ihnen an, dann sprang Marcel zu ihnen.
"Teilt euch auf!", brüllte Martha aus vollen Lungen. Dann drehte sie sich zu ihrem Grüppchen um. "Bleibt zusammen."
Das Tor war hoch genug, dass man sich darunter hindurchbücken konnte. Ein wahrer Strom an Arbeitern drängte nach draußen. Mehrere fielen unter den Schritten der Rennenden. Alexandru selbst stolperte, doch irgendwie blieb er auf den Beinen. Wäre er gefallen, hätte das Valeas Tod bedeutet, da war er sicher.
Schüsse hagelten auf die Menge und trafen diejenigen, die nicht schnell genug durch das Tor kamen. Dann wurden die beiden Arbeiter erschossen, die die Torkurbel bedient hatten, und das Fallgatter krachte hinunter, wobei es zwei weitere Unglückliche aufspießte.
Alexandru und seine Brüder waren hindurch. Sie folgten Martha, die vorwärtssprintete, ohne zurückzublicken. Fast fünfzig weitere Menschen waren mit ihnen geflohen, die sich nun aufteilten. Erst einmal vielen keine Schüsse mehr, denn es war niemand mehr auf dem Torhäuschen, der sie ins Visier nehmen konnte.
Die acht hielten erst, als sie einen kleinen Wald erreichten. Erschöpft setzte Alexandru sich.
"Papa? Wo sind wir?", fragte Valea ihn verwirrt.
"In Sicherheit", antwortete er instinktiv.
Dabei war das nicht gesagt. Sein Blick ruhte auf Martha. Sie hatte den anderen Arbeitern die Freiheit nur versprochen, um sie als Ablenkung zu benutzen. Das war ihm jetzt bewusst. Sie hatte niemanden gerettet, außer ihrer kleinen Gruppe. Wozu mochte sie noch fähig sein?
Er wollte sie dafür hassen, doch tatsächlich war er froh, dass dieses Mädchen auf seiner Seite war. Sie hatte seiner kleinen Valea eine neue Chance verschafft. Das blasse und verängstigte Kind war nicht länger eine Gefangene.
Martha war über Leichen gegangen, aber die Leichen seiner Familie gehörten diesmal nicht zu dem Berg. Und das war alles, was zählte.