- Start: 10.10.2020 - 09:33 Uhr
- Ende: 10.10.2020 - 09:57 Uhr
Ein Luftzug hatte seinen Weg in die Tunnel gefunden, die gewundene Spiraltreppe hinab und hinein in den Gang mit den Zimmern.
Er war eisig kalt und trug den Geruch von Schnee mit sich. Die Kerzen entlang der Wand flackerten und malten zuckende Schatten auf Marthas Gesicht.
Sie war erschöpft, zu erschöpft, um zu schlafen. Seit zwei Monaten lebten sie und die Anderen im Clan, und es sah nicht so aus, als würde sich ihnen bald eine Chance zur Flucht bieten.
Ihr Tag lief stetig gleich ab. Nach knappen sechs Stunden Schlaf wurden die Arbeiter von den Wächtern geweckt und in den Steinbruch getrieben, eine chaotische Mine am Ende ihres Tunnels, ein Labyrinth verschiedenster, mit Baumstämmen aus dem Wald oben abgestützter Gänge. Sie hatten Spaten und Spitzhacken, um Steine aus den Wänden zu brechen, aber keine Karren oder Säcke, sodass die Ausbeute mühsam zu den Sammelstellen geschleppt werden musste. Dort und am Ausgang standen immer einige Wachen mit Gewehren. Andere patrouillierten durch die Gänge, damit niemand auf die Idee kam, einen Fluchttunnel zu graben.
Am Abend fielen alle Arbeiter erschöpft in ihre Strohmatratzen und nach etwa einer Woche verdrängte Müdigkeit jeden Gedanken an eine Flucht.
Hinzu kamen die Strafen, wenn man den Wächtern widersprach oder zu wenig Stein schürfte. Bei den ersten Vergehen bekam man weniger zum Abendessen, doch Jakob hatte nun schon einige Male Peitschenhiebe kassiert. Er war nicht so trainiert wie Martha und geriet zusehends an seine Grenzen.
Sie tat für ihn, was sie konnte. Und das war nicht viel.
Marcel dagegen hatte sich dafür qualifiziert, ein Wächter zu werden. Etwa drei Wochen nach ihrer Ankunft war er eines Morgens abgeführt worden. Am nächsten Tag erst hatten sie ihn zerschlagen und entkräftet von irgendeiner harten Prüfung wiedergesehen - in den Lederklamotten, die alle Wächter trugen. Er war in ihrer Siedlung eingeteilt, aber er hatte kaum ein Wort mit Martha und Jakob gewechselt.
Was aus Finnik und Cora geworden war, hatte Martha erst nach einem Monat erfahren. Einmal die Woche kam ein großer Karren zu den Siedlungen, der mit Stein und Ernte beladen werden musste. Dann mussten die Arbeiter den Karren durch den breiten Haupttunnel bis zur Basis ziehen. In jeder Siedlung wurden Waren aufgeladen und Arbeiter eingespannt, und vor einem Monat war Martha an der Reihe gewesen.
Der Karren war gewaltig gewesen, und so schwer beladen, dass sie ihn zu acht, in ein Geschirr gespannt wie Ochsen, hatten ziehen müssen. Die breiten Haupttunnel waren gerade groß genug, um sie passieren zu lassen. Marthas Siedlung lag recht am Ende des großen Rundwegs, sodass sie die meiste Zeit an vorderster Position hatte ziehen müssen. Die frischen Arbeiter wurden jedes Mal vorne eingespannt. Zwei weitere Siedlungen hatten sie erreicht, deren Abgaben einmal aus Äpfel und Marmor und einmal aus Fisch bestanden hatte.
Offenbar scouteten die Wächter die Umgebung nach günstigen Standorten für Plantagen, Jagd oder Abbau ab und daraufhin wurde dort eine neue Siedlung über das Tunnelnetz erschlossen.
In der Basis angekommen war Martha überwältigt gewesen. Das Herz des Clanlagers befand sich in einem Dorf, auf grünen Hügeln und umringt von einem mächtigen Schutzwall, der teilweise zehn Meter hoch und mehrere Meter dick war. Durch Fenster von Häusern, die in die Mauer eingefasst waren, konnte man den Ring verlassen und hinaussehen. Außerdem gab es Schießscharten und andere Verteidigungsmittel. Im Inneren des Dorfes erhob sich eine alte Burg, die vom Clan ausgebessert worden war. In deren Nähe lag auch der Zugang zum Tunnelnetzwerk.
Im Dorf lebten etwa fünfhundert Wächter in den ehemaligen Wohnhäusern. Da es weitaus weniger Wächter als Arbeiter gab, konnte Martha mit leichtem Schwindel erste Erkenntnisse über die Größe des Clans gewinnen. Das war bereits eine Stadt, die sich nach der Apokalypse neu erhoben hatte.
Und ihre Herren die 'Könige', regierten mit eiserner Hand. Als Martha in der Basis ankam, wurden gerade einige Menschen zum Tode verurteilt, die Nahrungsmittel unterschlagen hatten. Wie ihr Schicksal aussehen würde - am Strick unter einer Brücke baumelnd - empfingen sie mit leerem Blick. Es gab keine Menschenmenge, die zusah. Die Verurteilung gehörte zum Alltag.
Hier traf Martha überraschend auf Finnik und Cora. Sie hatte schon mit beiden abgeschlossen, doch dann sah sie Cora auf einem freien Platz, wo sie Wäsche wusch. Finnik dagegen erblickte sie in den Gängen der Burg, wo er eine Art offener Schmiede besaß und dort hämmerte und arbeitete.
Weder Finnik noch Cora bemerkten Martha. Beide waren in ihre Arbeit vertieft, gezeichnet von Müdigkeit und ausgezehrt ebenso wie Martha selbst. Doch sie lebten. Damit hatte sie schon nicht mehr gerechnet.
Nun war ein weiterer Monat um. Bald wäre wieder Martha an der Reihe, um den Karren zur Basis zu ziehen. Obwohl es eine erniedrigende Knochenarbeit war, freute sie sich darauf. Es hieß, dass sie endlich einmal etwas anderes sehen würde als die Mine und den Schlaftunnel mit seinen flackernden Kerzen.
Andere Menschen! Sonnenlicht!
In der Basis blieb ihnen immer etwas Zeit, um herumzulaufen. Vielleicht konnte sie mit Cora sprechen. Pläne schmieden. Hoffen.
Aber wenn sie wirklich ehrlich war, dann war sie zu müde für Hoffnung. Erschöpft starrte sie in die kleine Kerzenflamme.
Hier war sie immerhin in Sicherheit vor den Monstern. Sie musste keine Verantwortung mehr übernehmen und sich nicht länger darum sorgen, wer sie womöglich hintergehen würde wie Bernhard damals.
Hier konnte sie ganz sie selbst sein und das Leben auf der Flucht hinter sich lassen.