- Start: 11.09.2021 - 10:54 Uhr
- Ende: 11.09.2021 - 11:21 Uhr
Dichte Fliegenschwärme surrten in der Luft. Ein untrügliches Zeichen, dass sie nicht allein waren. Irgendwo in der Nähe musste ein Pestengel sein, eines der größeren, aber auch langsameren Monster.
Wachsam stapften die drei vorwärts. Marcel spürte das Gewicht des Rucksacks schwer auf seinen Schultern. Nach fast einem Jahr bequemen Farmlebens war er keine langen Wanderungen mehr gewöhnt.
Dabei war er noch derjenige gewesen, der am meisten trainiert hatte. Ohne den Sport würde ihm etwas fehlen. Bei der Arbeit auf dem Hof hatte er vor allem Kraft aufgebaut, aber er hatte sich auch immer die Zeit zum Joggen genommen und oft lange Wanderungen unternommen, um Beeren zu sammeln oder ein paar Hasenfallen aufzustellen.
Jakob beispielsweise fiel zunehmend zurück. Marthas Bruder taumelte und stolperte vor sich hin. Wäre er nicht ihr Bruder, hätte Martha ihn sicherlich zurückgelassen.
Als es Mittag wurde, erreichten sie einen Steinbruch und Martha befahl eine Pause. Sie suchten in einer Aushöhlung der Wand Schutz, keine richtige Höhle, aber eine rundliche Einbuchtung, in der sich einige Schatten vor der Sonne verbergen konnte. Martha stellte den Rucksack ab und holte etwas Trockenfleisch heraus.
"Wie viel hast du mitgenommen?", fragte Marcel verwundert.
Martha sah auf. Täuschte er sich, oder zuckte sie zusammen?
"Nur ein paar Kleinigkeiten. Nichts, was ihnen fehlen würde."
Misstrauisch runzelte er die Stirn, als sie das Fleisch verteilte. Wenn sie nur so wenig dabeihätten, müssten sie doch deutlich sparsamer sein.
Ehe sie reagieren konnte, griff er zu und riss ihren Rucksack an sich.
"Hey!", rief Martha.
Marcels Augen weiteten sich, als er den Inhalt sah: Trockenfleisch, getrocknete Früchte, Äpfel und Rüben, Bohnen, sogar Dosen. "Das ... das ist alles, nicht wahr?"
"Marcel ..."
"Sag die Wahrheit!"
"Ja."
Er starrte sie an, ungläubig. "Was sollen die anderen denn essen?"
Martha wich seinem Blick aus. Jakob ebenso.
"Ihr rennt wieder weg." Marcel konnte es kaum fassen. "Ihr habt sie einfach dem Tod überlassen."
"Es hätte nicht für alle gereicht!"
"Das habe ich verstanden - aber wieso habt ihr entschieden, dass ihr diejenigen sein müsst, die überleben?!"
Darauf hatte keiner der beiden eine Antwort.
Sobald es etwas kühler wurde, standen sie auf. Dicke, schwarze Fliegen sirrten um sie herum, setzten sich auf ihre Kleidung und in ihr Haar, tranken ihren Schweiß. Martha stapfte unbeirrt voran, schwerfällig und offensichtlich ähnlich müde wie Jakob, aber zu stolz, um langsamer zu werden. Jakob folgte hinter ihnen und fiel weiter zurück. Doch Marcel kümmerte sich nicht um ihn.
Sein Blick ruhte auf Marthas Rücken und seine Hand spielte mit dem Holster seiner Pistole. Doch eigentlich sah er nur Alexandru und Valea vor sich, Ciprian, Viorel und Finnik.
Keiner von ihnen hatte den Hungertod verdient, zu dem Martha sie verdammt hatte. Das war nicht fair.
Er wusste, dass es hier ums Überleben ging. Dass sie in einer Welt der schweren Entscheidungen lebten.
Aber er konnte Marthas Entscheidung nicht akzeptieren. Sie hatte ihn wissentlich im Unklaren gelassen, ihn belogen. Er wäre ihr gefolgt, wenn sie von Anfang an ehrlich gewesen wäre.
Aber so ...? Nein, das konnte er nicht. Er musste zu den fünf anderen zurückkehren.
Die Fliegen surrten in dichten Wolken. Ihr Flügelschlag übertönte die Schritte der Reisenden. Die Luft war erfüllt von Insekten, sodass man aufpassen musste, sie nicht einzuatmen.
Man konnte nicht einmal besonders weit sehen.
Marcel atmete tief durch und traf seine Entscheidung. Er zog die Pistole aus dem Holster.
"Martha!", rief Jakob, als er Marcels Bewegung sah.
Ein Schuss krachte.
"Wir sollten hier weg. Der Lärm hat den Pestengel sicherlich alarmiert", erklärte Marcel.
"Warum musstest du auch schießen?", fragte Jakob vorwurfsvoll.
"Weil ich zurückkehren werde. Wir können die anderen nicht im Stich lassen. Ich gehe wieder zu ihnen - und nicht mit leeren Händen."
"Wir kommen mit dir", sagte Martha und stand auf. Während sie sich den Dreck von der Kleidung wischte, sahen sie alle drei auf den Hirsch hinab.
Die Wildtiere waren keine Jäger mehr gewohnt, keine menschlichen Jäger jedenfalls, weil es nur noch so wenige Menschen gab. Deshalb, und weil der Lärm der Fliegen ihr Kommen übertönt hatte, war der Hirsch nicht geflohen. Das hatte sein Schicksal besiegelt.
"Gib mir deinen Rucksack", sagte Martha und Marcel reichte ihr sein Gepäck. Dann beugte er sich herunter und kontrollierte erneut, dass das Blut, das aus der Wunde am Kopf trat, klar und rot war. Martha hatte bereits bestätigt, dass das Tier nicht infiziert war, aber er wollte dennoch sichergehen. Er hatte Geschichten darüber gehört, was geschah, wenn Menschen infiziertes Fleisch aßen. Es waren keine schönen Geschichten.
Leicht ächzend wuchtete er sich das erlegte Tier auf die Schultern und stand wieder auf, schwankend unter dem Gewicht.
"Kennst du den Weg?", fragte er Martha.
"Ich erinnere mich. Kommt."
Und so marschierten sie zurück. Es war ein bisschen wie ein merkwürdiger Traum. Nichts weiter als diesen Zufall hatte es gebraucht, um Martha von ihrer Entscheidung abzubringen und das Schicksal ihrer fünf Gefährten zu wenden - und sei es nur für einige Wochen.
Man konnte leicht vergessen, welche Gefahr von Martha Wagner ausging. Aber niemand konnte behaupten, dass sie unnötig grausam wäre.