- Start: 01.10.2019 - 14:05 Uhr
- Ende: 01.10.2019 - 14:46 Uhr
"Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn ich gehe."
Jakob sah sie überrascht an. "Das kannst du nicht machen. Alle hier verlassen sich auf dich!"
Martha sah ihn ernst an. "Dann haben sie sich wohl in mir getäuscht. Jeder täuscht sich mal. Ich habe ja auch Bernhard gerettet ..."
"Martha!", rief ihr Bruder anklagend. "Willst du jetzt jeden hier dem Tod überlassen, weil sie könnten ja wie Bernhard sein?! Das ist verrückt!"
"Nein. Du bist verrückt, wenn du noch Hoffnung hast." Marthas Gesicht war wie aus Stein. Sie seufzte. "Was meinst du, wie lange wir hier noch durchhalten? Die Häuser in der Umgebung sind alle abgegrast. Für Nahrungsmittel müssen wir immer weiter laufen. Und jeder Weg ist ein Risiko. Du warst dabei, als Daniel meinte, er hört einen Helikopter. Die Papageien kommen immer näher. Vielleicht können diese Viecher sogar riechen! Vielleicht haben sie unsere Witterung aufgenommen ..."
Jakob sah sie entsetzt an. Vermutlich malte er sich aus, wie die langen Greifarme der Papageien, wie sie die Monster genannt hatten, durch das Dach der verlassenen Fabrik stießen. Die drei Vordergliedmaßen der langbeinigen Riesen sahen aus wie die Greifarme von Gottesanbeterinnen. Martha und Jakob hatten gesehen, welche grausame Kraft in ihnen steckte.
"Dann ziehen wir weiter!", schlug Jakob schließlich vor. "Wir suchen uns einen anderen Unterschlupf. Verwischen unsere Spuren ..."
"Und wo sollen wir mit einer derartig großen Gruppe hin?", fragte Martha. "Außerdem würden die Zombies uns folgen. Du hast es doch selbst erlebt, die sind wie Jagdhunde. Wenn dagegen nur wir beide gehen, dann fällt den Monstern vermutlich nicht einmal auf, dass zwei fehlen. Wir könnten entkommen, während die Gruppe sie für uns aufhält ..."
Jakobs Blick verfinsterte sich. "Du bist die Älteste, Martha. Willst du all diese Kinder wirklich zurücklassen, um dich selbst zu retten? Bist du so egoistisch?"
"Es ist das Ende der Welt, Jakob. Wir beide können keine Vierjährige beschützen. Wir können nicht alle retten. Christina Hansen - du hast doch wohl mitbekommen, dass es ihr immer schlechter geht. Es gibt Menschen, die sind nicht für die Apokalypse geschaffen. Leute wie Alek oder ..."
"Louise", beendete Jakob den Satz, den Martha nicht zu Ende sprechen wollte.
"Ich bitte dich, mit mir zu kommen", sagte sie leise und wandte den Blick ab, damit er die Tränen in ihren Augen nicht bemerkte. "Vielleicht können wir Marcel auch mitnehmen. Aber ..."
"Wir lassen die anderen nicht im Stich!" Jakob wurde lauter. "Das kannst du nicht von mir verlangen!"
Sie umfasste seinen Arm. "Bitte, Jakob ... Ich hab die Schwärme draußen gesehen. Vier, fünf Stück, sie kreisen dicht über den Häuserdächern. Du weißt, was das heißt."
Seine Augen weiteten sich und er hauchte: "Sie sind bereits hier?"
Martha schluckte und nickte. Beständig strich sie über seinen Arm und zog ihn immer näher zu sich. "Wir können nicht entkommen. Nicht alle. Bitte, Jakob, ich ... ich kann nicht schon wieder zusehen, wie Menschen sterben. Ich kann dem Tod auch nicht wieder und wieder ins Auge sehen. Lass uns wegrennen. Noch ist Zeit."
Jakob riss sich los. "Du widerst mich an!", zischte er giftig und stürmte aus dem kleinen Vorratsraum heraus. Martha blieb auf dem Tisch sitzen und vergrub langsam das Gesicht in den Händen.
Ihr Bruder ... sie atmete tief durch. Einmal. Zweimal. Nach dem dritten Mal sah sie auf, ihr Blick hart. Sie nahm einen Stoffbeutel, eine sackartige Umhängetasche aus der Zeit vor dem Erstkontakt, und begann damit, Brot, Konserven, Wasserflaschen und ein paar andere Lebensmittel einzupacken. Selbst das Trockenfleisch packte sie mit beiden Händen ein. Als sie in den Nebenraum wechselte, wo sie Batterien, Waffen und dergleichen lagerten, stahl sich ein Schluchzer über ihre Lippen. Es wollte ihr das Herz zerreißen. Sie war nicht mehr stark genug, um zu kämpfen. Mit zitternden Fingern stahl sie alles, was sie in die Tasche packen konnte.
"Marcel, hol deine Ausrüstung!" Die kalte Stimme ihres Bruders ließ Martha zusammenzucken. Er hatte ihren Plan bisher nicht verraten und die anderen nicht vor der Gefahr gewarnt, doch dass er jetzt Marcel losschickte, der in ihrer neunköpfigen Gruppe die Funktion eines Polizisten übernahm, machte sie nervös.
Hatte Jakob gesehen, dass sie bereits im anderen Lagerraum war? Sie zog die Tür leise zu und kletterte an den wackeligen Regalen empor. Die Tasche schlug gegen ihre Oberschenkel. Sie war voll und schwer. Hoffentlich passte sie durch das Fenster ...
Schon nach wenigen Sekunden hörte Martha noch etwas anderes über dem Klang ihres keuchenden Atems. Ein elektrisches, tiefes Surren. Es erinnerte an das Geräusch einer Mücke, war aber deutlich lauter.
Auf ihren Armen breitete sich eine Gänsehaut aus. Die Schwärme. Sie waren hier!
Lautes Gelächter und Gejohle aus dem Hauptraum übertönte das Grauen im nächsten Augenblick. Hatte Jakob den Spielautomaten freigegeben? Tat er es, um die Kinder vor dem nahenden Tod abzulenken, oder damit sie nicht mitbekamen, wie ihre Anführerin für ihren Verrat büßte?
Martha hörte, wie eine Tür geöffnet wurde. Gleich würden Jakob und Marcel die Jagd eröffnen. Sie zog sich auf das Regal, krabbelte durch den Staub zum Fenster und schob die Tasche hindurch, die draußen auf die Erde fiel. Mit angehaltenem Atem quetschte sich Martha hinterher und rollte sich auf dem Gras ab. Eilig zog sie die Tasche über ...
"Warte!"
Sie wirbelte herum. Jakob, Marcel, Cora und Finnik kamen auf sie zu. Martha hatte nicht die Tür zum Lagerraum gehört, sondern die Außentür! Verflixt! Jetzt hatten die vier sie entdeckt.
Martha ließ die Tasche sinken und wollte sich kampfbereit machen. Jakob und die drei anderen blieben allerdings zwei Meter vor ihr stehen.
"Worauf wartest du?", fragte Jakob. "Nimm die Tasche wieder auf!"
Verdutzt starrte Martha sie an. Marcel trug den großen, schwarzen Rucksack aus dem Armygeschäft. Die Geschwister Finnik und Cora hatten jeder ein Bündel in der Hand. Jakob hatte kein Gepäck, aber er trug Jacke und Stiefel, die er in der Halle meistens ablenkte.
"Ihr wollt mich nicht aufhalten?"
"Wir wollen mitkommen", antwortete Jakob. Er sah zur Seite und Martha bemerkte, wie blass er war. Er fürchtete sich! Offenbar hatte er seine Meinung geändert, als das Surren des Schwarms erklungen war. Martha hob den Blick und sah die großen, fetten Drohnenwesen über sich. Es mochten hunderte oder tausende sein, jedes so groß wie ein Fußball, mit Insektenflügeln und schwarzem Fell.
"Ich weiß, wir sind etwas mehr als du wolltest, aber ..." Jakob ergriff Coras Hand und ein Hauch von Röte huschte über seine Wangen.
Martha musste unwillkürlich grinsen, als würde diese ganze verkorkste Welt nicht existieren. Ihr kleiner Bruder hatte eine Freundin! Gut, die Syrerin sprach kaum ein Wort Deutsch, aber das reichte. Natürlich hätte sie ihren Bruder Finnik nie zurückgelassen, und Marcel hätte Martha ohnehin gerne mitgenommen.
Sie schulterte ihre Tasche. "Der Schwarm ist hier, dann brauchen die Panzerhörner auch nicht mehr lange. Gehen wir. Wir müssen uns beeilen, um die Schwärme abzuhängen."
Die vier anderen nickten ernst. Dann drehte Martha sich um und führte ihre geschrumpfte Gruppe in die schmalen Gassen zwischen den Fabriken.
Aus der Lagerhalle drang das fröhliche Gelächter von Daniel und Amalia, während Alek schimpfte, weil die beiden Kindergartenkinder den Flipper nicht richtig bedienten, und Christina Hansen mit krächzender Stimme versuchte, ihn zu beruhigen. Doch die Geräusche der vier, die sie zum Sterben zurückließen, blieben rasch hinter Martha und ihren Freunden zurück.