- Start: 17.11.2020 - 17:53 Uhr
- Ende: 17.11.2020 - 18:28 Uhr
Erschöpft stolperten sie vorwärts.
Alexandru trug Valea auf dem Arm. Das Mädchen hatte sich mit geschlossenen Augen an seine Schulter gekuschelt und schlief die meiste Zeit. Ab und zu wurde sie wach, blinzelte, sah sich um und schlief wieder ein.
Ihre Flucht hatte ihnen viel abverlangt. Es war der zweite Mittag, seitdem sie dem Lager entkommen waren, und die acht Geflohenen hatten keine Pause eingelegt. Martha trieb sie unbarmherzig weiter, obwohl sie selbst eine Pause brauchte. Sie zitterte in dem Hemd der Arbeiter, ihre Schuhe waren auf der Flucht kaputt gegangen und sie lief barfuß über Steine und gefrorenen Boden.
Ihre Jacke trug Jakob. Martha überließ den Anderen das wenige Essen, das sie mitgenommen hatten. Wenn sie eine kurze Pause einlegten, um an einem Bach etwas zu trinken und ihre Blasen zu massieren, bliebt Martha stehen und hielt Ausschau nach Verfolgern. Sie gönnte sich kaum eine Pinkelpause, während die Gruppe immer mehr Abstand zu dem Lager des Clans aufbaute.
Viorel musste dieses Mädchen bewundern. Die Deutsche schien so viel Kraft zu besitzen, wie er es sonst nur aus den Helden der alten Welt kannte, aus Film und Fernsehen. Hunger oder Müdigkeit schienen für sie nicht zu existieren.
Sie waren durch den Wald gereist, dann über eine offene Wiese. Aus der Ferne hatten sie eines der Dörfer des Clans gesehen, die Barrikaden hatten sich über einen Fluss gespannt.
Sie waren den Gebäuden weiträumig aus dem Weg gegangen und schienen nun tatsächlich in einem Gebiet zu sein, das nicht mehr zum Revier des Clans gehörte. Die grünen Hügel verwandelten sich in verwilderten Ackerboden. Hier und dort kreuzten sie eine ehemalige Landstraße oder kamen an Bombenkratern vorbei. Manchmal sahen sie auch Spuren, die von den gewaltigen Klauenfüßen der Papageien aufgerissen oder von einer Herde Panzerhörner niedergetrampelt worden war. Die Abdrücke aus zwei insektenartigen Klauen waren unverkennbar.
Doch sie sahen weder Aliens noch Verfolger aus dem Clan. Viorel gestattete sich die Hoffnung, dass die Deutsche sie in Sicherheit geführt hatte.
So langsam sank die Sonne wieder, als sie ein Bauernhaus erreichten. Es stand an den Überresten einer asphaltierten, zweispurigen Straße. Sein Garten wurde durch eine Mauer dichtstehender Tannen in ein Rechteck eingegrenzt. Die Pflanzen waren inzwischen derartig verwildert, dass an der ehemaligen Einfahrt kein Durchkommen mehr war. Martha umrundete das Viereck und fand eine Stelle, wo eine der Tannen umgeknickt war.
Vorsichtig balancierte sie über den Stamm und kletterte in den Garten. Dann sah sie sich um. "Sichert das Haus. Wir können hier rasten."
Viorel seufzte erleichtert auf. Eine Pause. Endlich!
Vorher allerdings mussten sie dafür sorgen, dass sie blieben, was sie waren: Überlebende.
Marcel, ein weiterer Deutscher, der offenbar früher zur Polizei oder zum Militär gehört hatte, zückte seine Waffe. Viorel und Ciprian besaßen beide nur einen kräftigen Ast. Sie folgten Marcel langsam und lautlos.
Alexandru setzte seine Tochter ab. "Kann einer von euch auf sie aufpassen?"
"Jakob, bleib bei Finnik", befahl Martha. "Falls irgendwas schiefgeht, lauft."
"Papa ...", murmelte Valea schläfrig.
"Ich bin gleich zurück, Liebes." Alexandru streichelte ihr über den Kopf.
Er und Martha folgten den anderen drei. Martha zückte ein breites, grobes Stahlmesser und Alexandru hob einen Ast auf, der im Gras lag. Zu fünft stiegen sie die Treppe zur Eingangstür hinauf. Marcel ging voran und suchte die Räumlichkeiten routiniert ab. Hinter der Diele und einem kurzen Flur trafen sie auf eine Küche, eine Waschküche und ein Wohnzimmer. Eines der Fenster war zerbrochen, Laub hatte sich auf dem Boden angesammelt, doch ansonsten war das Haus erschreckend gut in Schuss. Marcel probierte den Lichtschalter aus. Nichts geschah.
Martha ging in die Küche und riss die Schränke auf. Viorel trat zu ihr und sah zu, wie sie Dosen durchwühlte und in ihren Rucksack packte.
"Jackpot!", flüsterte sie triumphierend, als sie ein Paket Kerzen entdeckte.
Marcel, Alexandru und Ciprian stiegen die Treppe hinauf. Viorel lauschte angespannt nach oben, ob Kampfgeräusche erklangen. Doch die drei kehrten ohne Zwischenfälle zurück.
Martha stellte den vollgepackten Rucksack ab. "Alles sauber?"
"Alles sauber, denke ich", antwortete Marcel. "Wir haben oben zwei Schlafzimmer, ein Doppelbett und ein Einzelbett. Auf dem Dachboden steht ne Menge gutes Zeug."
Martha deutete aus dem Fenster. "Da hinten ist noch eine Klappe zum Keller. Schnapp dir einen der Männer und sieh dort nach. Dann könnt ihr die Anderen reinholen."
Marcel deutete auf Ciprian und verließ das Haus mit Viorels Bruder. Alexandru ging hinterher, um Valea und die beiden Jungen zu holen.
"Endlich wieder ein richtiges Haus", murmelte Viorel, um die Stille zu durchbrechen.
"Gewöhn dich nicht daran." Martha hing halb unter der Spüle und fischte ächzend irgendwas aus dem hinteren Winkel. "Wir müssen noch ein bisschen weiterziehen, bevor ich glaube, dass wir diesem Clan entkommen sind." Sie brachte eine Flasche Spüli zum Vorschein. "Aber das hat Zeit bis morgen."
"Wo willst du dann hin?", fragte Viorel.
Martha sah ihn an. "Kommt ihr nicht mit?"
"Äh ... das muss ich mit meinem Bruder und meinem Cousin besprechen."
"Wer von denen ist welcher?"
"Ciprian ist mein Bruder. Er ist der jüngere. Alexandru ist unser Cousin."
"Aha." Martha packte den Rucksack wieder aus. "Ich weiß nicht genau, wohin wir wollen. Wenn ihr mitkommt, würde ich sagen, wir bilden unseren eigenen Clan. Ihr drei könnt hart anpacken, und das könnten wir gebrauchen. Ich hab auf den Feldern noch einige Kartoffeln gesehen. Wir könnten verbliebene Feldfrüchte plündern, uns ein Haus wie dieses suchen und ein Leben aufbauen."
Viorel schwieg einen Moment. "Denkst du, das könnte funktionieren? Felder anlegen? Sesshaft sein?"
"Ohne euch drei jedenfalls nicht. Dann müssten Marcel und ich alleine für vier Personen aufkommen." Martha sah auf. "Wenn es fünf Leute sind, die für acht Personen arbeiten, sieht das schon besser aus. Aber ja, ich habe Hoffnung, dass es klappen könnte. Vielleicht nicht für immer, wer weiß. Aber dieser Clan hat ein richtiges Städtenetzwerk aufgebaut! Dann schaffen wir eine kleine Siedlung."
"Wir müssen uns nur von den Aliens fernhalten", fügte Viorel hinzu. Er verstummte, weil in diesem Moment die restlichen sechs hereinkamen. Martha begann sofort mit der Organisation. Sie fand heraus, dass der Ofen nicht länger funktionierte, und befahl Finnik, ein Feuer zu machen und eine der Dosen darüber zu kochen. Jakob sollte das kaputte Fenster abdichten, der Rest das Haus plündern. Obwohl Marcel vermeldete, dass der Keller noch voller guter Nahrung war, fand Martha, dass es zu dunkel war, um die wackelige Leiter noch hinabzusteigen.
"Das machen wir morgen. Und jetzt los, jeder sucht sich ein Zimmer. Dabei könnt ihr gleich abklären, wer wo schlafen will. Jakob und ich nehmen das Sofa."
Viorel ging mit Ciprian und Alexandru nach oben.
"Wollen wir bei ihnen bleiben?", fragte er sie leise. "Oder hattet ihr andere Pläne?"
"In einer Gruppe ist es eigentlich sicherer", sagte Alexandru zögerlich.
"Sie sind vielleicht nicht die besten Menschen, aber sie haben uns geholfen", fügte Ciprian hinzu.
"Da wäre ich auch für." Viorel berichtete den beiden anderen Männern von Marthas Plan mit den Feldern. "Ich weiß nicht, wie ihr es seht, aber ich habe das Gefühl, da könnte was draus werden. Was Gutes."
Die beiden anderen nickten schweigend. Sie waren noch nicht bereit, dem Glück vorbehaltlos zu trauen - doch sie schöpften Hoffnung.