- Start: 06.10.2020 - 11:43 Uhr
- Ende: 06.10.2020 - 12:06 Uhr
Als Martha zu ihrem Landeplatz zurückkehrte, hatten die Anderen endlich alles auf Rucksäcke verteilt und waren bereit zum Aufbruch.
Martha nahm den weißen Beutel auf, der noch am Boden lag, und schulterte ihn. "Es gibt keine frischen Spuren. Vielleicht haben wir Glück und der Clan ist weg."
Die vier Anderen nickten ernst. Niemand würde sich auf diese schwache Chance verlassen.
Mit einem letzten Blick kontrollierte Martha, dass ihre Kanus und die Plane unter den Sträuchern nicht zu sehen waren. Dann verabschiedete sie sich stumm von dieser einfachen Art, zu reisen, und trat die Führung an.
Im Gänsemarsch gingen sie durch kniehohes Gras, wobei an den rostenden Ruinen von Autos, in denen bereits kleine Gärten erblühten. Sie hielten sich von der Straße mit ihrem geborstenen Asphalt fern und reisten im Schatten der verfallenen Häuser.
Ab und zu sahen sie verfallene Spuren von Leben. Einfache Holzhütten, die aussahen wie auf den Zeichnungen in Marthas historischen Romanen. Kleine Felder und die eingebrochenen Zäune verlassener Weiden.
Nach dem Krieg schien das Leben zum Mittelalter zurückgekehrt zu sein. Strom ließ sich nur noch selten reparieren und konnte Monster anlocken. Ein Großteil der alten Technik konnte nicht mehr aufgeladen werden oder war kaputt gegangen.
Früher hatte Martha das Mittelalter romantisch gefunden, wie vermutlich jeder andere Mensch auch. Die Einfachheit des Lebens hatte sie fasziniert.
Doch in der Realität sah der frische Neubeginn irgendwie anders aus. Das Leben ohne moderne Zivilisation war hart und entbehrungsreich. Ein einziger blöder Winter oder ein Schnitt zur falschen Stelle konnte den Tod bedeuten. Nahrung war vielleicht nicht länger chemisch behandelt, doch dafür konnte sie von Schädlingen gefressen werden. Es war unwahrscheinlich, wie viel Grünkohl eine hungrige Maus in einer Nacht vernichtete. Kartoffeln, die man stereotypisch irgendwie für ein Grundnahrungsmittel im Mittelalter hielt, waren giftig, wenn man bei der Ernte auch nur einen Fehler beging. Andere Pflanzen gingen an der Witterung zugrunde.
Es brauchte keine Monster und keine anderen Menschen, um das Leben in der Welt nach der Katastrophe furchtbar zu machen. Es reichte bereits die Natur selbst, die ihren Planeten unweigerlich zurückeroberte.
Martha seufzte unglücklich und hielt an. Finnik war ein Stück zurückgefallen. Während Martha ihn beobachtete, ertappte sie sich unwillkürlich bei der Frage, ob sie ihn nicht langsam loswerden sollte. Finnik war eindeutig zu krank für diese Reise. Er lebte nur noch, weil Jakob Cora liebte und Cor aihren Bruder niemals zurückgelassen hätte.
Martha schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Das war noch so etwas, wo sie sich einen Neuanfang wünschte. Sie würde all die furchtbarne Entscheidungen der Vergangenheit gerne vergessen und mit Hoffnung für die Menschheit weitermachen. Unbelastet von allem, was gewesen war.
Diese Chance war vorbei. Es würde kein zweites Leben ohne Schuld geben.
Sie erreichten einen kleinen, offenen Platz, dessen Pflaster in Brennnesseln versank. Martha hielt an seinem Rand und ging in die Hocke, während die Anderen zu ihr aufschlossen.
Wachsam blickten sie über den leeren Platz. Dort gab es keine Deckung und somit war die Gefahr groß, dass sie in einen Hinterhalt geraten würden. Sie hatten vielleicht bisher kein Anzeichen von Leben entdeckt, doch Martha hatte alle möglichen Taktiken der Clans gesehen.
Während sie wachsam spähte, hörte sie ein metallisches Klicken.
Erschrocken drehte sie sich um, doch sie sah nichts, als auch schon ein schweres Stahlnetz auf ihre Köpfe fiel.
Cora schrie auf. Marcel fluchte.
Das Gewicht der Maschen drückte sie zu Boden. Finnik zappelte panisch und wickelte nicht nur sich, sondern auch alle anderen ein. Martha hörte Rufe, Schritte, Gelächter.
"Fünf auf einen Streich! Super!"
Verdammt. Sie waren zu nah beieinander geblieben. Dieser Clan hatte damit gerechnet, dass seine Opfer den Platz nicht ohne Zögern überqueren würden, und hatten ihre Fallen entsprechend angepasst.
"Lasst uns frei!", verlangte Martha und erntete weiteres Gelächter.
"Ein Sturrkopf. Die ist stark. Wie sieht es mit den Anderen aus?"
Es wurde am Netz gezogen. Endlich konnte Martha einen Blick auf die sieben Männer werfen, die sie umkreist hatten. Alle trugen schwarze Bikerjacken, waren muskulös, rasiert und gebräunt. Sie waren stark, das spürte Martha allein daran, wie sie an dem Netz zogen.
"Der hier sieht ordentlich aus." Einer der Männer begutachtete Marcel.
Kritische Blicke glitten zu Jakob, Cora und Finnik. Marthas Herz krampfte sich zusammen.
"Die beiden können arbeiten. Holt sie da raus."
Raue Hände packten Marthas Arme. Sie wehrte sich nicht, als sie aus dem Netz befreit wurde. Der Griff der Männer war stahlhart und jetzt würden sie mit einem Fluchtversuch rechnen.
"Was sollen wir arbeiten?", fragte sie stattdessen.
"Steinbruch", antwortete der Mann neben ihr, ein wenig überrascht von ihrer Frage.
"Das kriegen wir hin. Mein Bruder kann auch hacken. Er sieht nicht so aus, aber er ist zäh." Martha deutete auf Jakob.
Der umklammerte Coras Hand. "Ich gehe nirgendwohin!"
Die Männer des Clans lachten. Mühelos trennten sie Jakob von Cora und ignorierten dessen Gezappel.
"Habt ihr noch andere Arbeit?", fragte Martha verzweifelt. "Cora kann kochen. Und Finnik ist ein Bastler. Wenn ihr irgendwas repariert haben müsst ..."
"Klappe halten", fuhr der Mann, der ihr eben geantwortet hatte, sie an. "Ob wir die zwei behalten, entscheidet der Boss. Ihr drei kommt direkt mit. Ich hoffe, du arbeitest so viel, wie du plapperst, Mädchen."
Sie nickte stumm. Auf keinen Fall durfte sie es sich mit diesen Leuten verspielen, wenn sie überleben wollte.
Vier Männer führten sie ab. Drei weitere fesselten Cora und Finnik und brachten die Syrer in eine andere Richtung. Jakob verdrehte sich den Hals, selbst als Cora schon lange außer Sicht war.
Die vier Männer brachten sie an eine tiefe, von Staubwolken überschattete Grube.
"Willkommen in euer neuen Heimat."