- Start: 04.11.2021 - 14:24 Uhr
- Ende: 04.11.2021 - 14:39 Uhr
"Was machst du da?"
Martha sah auf. Jakob war in der Tür zum Wohnzimmer aufgetaucht und betrachtete das Chaos auf dem niedrigen Tisch mit gerunzelter Stirn.
"Ich packe."
"Martha ..."
Sie stand auf und nahm etwas vom Tisch auf. "Hier, sieh mal." Sie drückte Jakob die Postkarte in die Hand. "Erinnerst du dich?"
Verwirrt sah ihr Bruder auf die Karte.
Es war eine ganz gewöhnliche Karte. Sie zeigte ein Meer. Die Rückseite war beschrieben.
Doch es fehlte eine Briefmarke, und auch die Adresse machte eher stutzig: Martha Wagner, Am Lagerfeuer, Vor dem Baumstamm 2.
Sie lächelte traurig. "Wir haben so viele von diesen dummen Dingern geschrieben. Erinnerst du dich?"
Jakob sah schweigend auf die Unterschrift der Karte. Louise.
"So viele dumme, dumme Karten!"
"Martha ... hast du getrunken?"
"Nein." Sie trocknete ihre Tränen. "Nein, es waren nur die Erinnerungen."
Jakob überflog die Zeilen der Karte. Louises verschlungene, schlanke Schrift war nicht mehr gut zu lesen. Feuchtigkeit hatte die Tinte verschwimmen lassen. Er erinnerte sich jedoch, wie Louise ihre Texte absichtlich schmachtend vorgetragen hatte, am Lagerfeuer in ihrem ersten Winter, unter leichtem Schneefall.
Teuerste Martha,
mein Herz sehnt sich zurück nach deiner Umarmung und der Kühle deines Blickes. Ganze fünf Minuten ist es her, dass wir nun getrennt wurden, und du in den Krieg auf die Jagd zogest. Mögest du recht viele der wilden Cornflakes-Bestien töten und heil zu mir zurückkehren, meine Liebste, mein Augenstern, du Sonne meines Lebens! ...
Er senkte den Brief. Martha, die früher knallrot geworden war und gelacht hatte, wischte sich nun erneut die Tränen von den Wangen. Ihr Lächeln war gequält. "Wir waren so jung."
"Wo hast du sie her? Ich dachte, du hättest alle verloren."
"Ich hätte sie niemals wegwerfen können."
Jakob seufzte leicht. So albern die Postkarten auch waren, die Liebe der Mädchen war echt gewesen.
Martha streckte die Hand aus. Er reichte ihr die Karten, die sie in eine Plastiktüte packte und sorgsam vorne im Rucksack verstaute.
"Martha. Warum packst du? Wir sind gerade erst zurückgekommen."
Sie hielt inne und sah auf ihre Hände, die in fingerlosen Wollhandschuhen steckten. Vor dem helleren Licht, das durch die zugenagelten Wohnzimmerfenster fiel, war ihre Silhouette dünn, schwarz und starr.
"Es kommt ein Pestengel." Sie drehte den Kopf so schwungvoll, dass ihr Haar sich bauschte, und lächelte erneut so traurig. Tränen schimmerten in ihren Augen. "Der tote Hirsch hat ihn vielleicht angelockt. Er wird sie alle töten."
"Und du willst wieder wegrennen?", fragte Jakob entgeistert.
"Wir fliehen ans Meer oder so. Ziehen auf eine Insel. Wie wir es in den Postkarten immer beschrieben haben. Nur ... ohne Louise."
"Nein, Martha." Jakob machte einen Schritt zurück. "Nein! Ich laufe nicht mehr weg. Wir können die anderen nicht im Stich lassen."
"Dann wird er uns alle töten."
"Dann ist das eben so!" Jakob funkelte sie an. "Hast du gehört? Wir bleiben hier."