- Start: 05.11.2021 - 17:07 Uhr
- Ende: 05.11.2021 - 17:41 Uhr
Diese Welt kannte Schwärme, auf deren Ruf hin Panzerhörner ankamen. Martha war diesen Kreaturen schon viel zu oft begegnet. Doch Schwärme und Panzerhörner waren harmlos im Gegenzug zum Pestengel.
Soweit sie wussten, gab es nur einen einzigen Pestengel. Aus der Ferne erinnerte er an eine riesige Schnecke. Martha erinnerte sich, die Aufnahmen im Fernsehen gesehen zu haben. Damals, als es das Fernsehen noch gegeben hatte.
Pestengel waren groß und langsam, weich, rundlich. Ein länglicher Körper, an dessen Kopfende ein Gewirr aus Tentakeln saß. Manche hatten das Gesicht der Kreatur mit Cthulhu verglichen.
Die kleine Martha hatte damals darüber gelacht.
"Das ist doch nur eine große Schnecke!"
Nun wusste sie es besser.
Sie konnte den Pestengel noch nicht sehen. aber sie wusste, dass er näher kam. Es war der Geruch in der Luft, süßlich und faulig, wie Verwesung. Das war, weil die kleineren Monster dem Pestengel ihre Beute brachten. Panzerhörner, Schneidarme und Papageien trugen ihre Beute zu diesem riesigen Moloch, der sich langsam durch die Gegend fräste. Nicht alle dieser Geschenke wurden angenommen, und so war das riesige, runde Haus der Schnecke mit verrottenden Leichen übersät.
Doch das alles würde sie höchstens riechen. Denn bevor der Pestengel kam, kamen seine treuesten Diener: Die Piranhas.
Martha und die fünf Männer standen regungslos im Flur ihres Hauses. Es war dunkel. Draußen schien zwar inzwischen wieder die Sonne, doch alle Fenster und Türen hatten sie verriegelt, sowohl draußen als auch drinnen. Im Flur standen sie wie im innersten Kokon des Hauses, nur die Haustür führte von hier ohne Puffer nach draußen. Sie hofften, dass ihnen das Zeit verschaffen würde.
Immer wieder waren die Knacklaute draußen zu hören, und hin und wieder das hohe Sirren großer Flügel. Ansonsten war es trügerisch still. Doch die Menschen wussten, dass die Piranhas draußen schwärmten, und diese konnten den Geruch der Beute wahrnehmen.
Es war nur eine Frage der Zeit.
Ihre Waffen hielten sie fest in den Händen. Spaten, Holzbalken und Feuerzeuge, um die Fackeln zu entzünden.
Ein lautes Poltern ließ sie herumwirbeln. Holz splitterte. Ein Schauer kroch über Marthas Rücken. Niemand brauchte es auszusprechen, sie wussten auch so Bescheid.
Ein Fenster in der Küche war durchbrochen worden.
Sie waren im Haus.
Ciprian stolperte ängstlich zurück. Der Spaten in seinen Händen bebte. Viorel drückte mit beschwörender Miene den Finger auf die Lippen und wollte nach seinem jüngeren Bruder greifen, ihm bedeuten, stehen zu bleiben.
Ciprian bemerkte ihn nicht. Er machte noch einen Schritt und das Blatt der Schaufel stieg gegen die Tür. Das entstehende Klirren schien ohrenbetäubend laut zu sein.
Alles starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Küchentür, als die Haustür in Ciprians Rücken mit einem Mal barst. Eine Flut kleiner, kaum faustgroßer Wesen verwandelte das Holz in Sekundenschnelle in Sägespäne - und auch von Ciprian blieb nur eine Wolke aus feinen Blutstropfen und kleinen Knochensplittern.
Ungläubig starrten sie auf die Stelle, wo er eben noch gewesen war. Sonnenlicht flackerte durch die dichtgedrängten Leiber des Piranha-Schwarms.
Mit einem wütenden Brüllen sprang Viorel vor. Er schwang den Deckel einer Mülltonne aus Blech als Waffe und hieb auf die Piranhas ein. Gleichzeitig wurde die Küchentür zerfetzt. Ein Schuss klingelte in ihren Ohren, als Marcel die Ladung der Schrotflinte in die Angreifer jagte. Doch ein paar entkamen der Streuung und rasten auf Jakob zu.
"Nein!" Mit einem Schrei sprang Martha vor ihren Bruder. Mit einer schnellen Bewegung hatte sie ein Streichholz angerissen und den in Öl getränkten Lappen ihrer Fackel daran entzündet. Die Piranhas jagten vor dem Feuer zurück und ballten sich als schwarze, surrende Wolke in der Türöffnung.
"Weg von meinem Bruder!", schrie Martha sie an.
Marvel lud nach. Jakob robbte hinter sie. Aus der Decke über ihnen rieselte Staub, als die ersten Piranhas sich am Holz zu schaffen machten.
"Viorel!", rief Alexandru. Von seinem Cousin war nicht zu sehen. Den Holzbalken schwingend rannte er durch die Haustür.
"Raus, los!", befahl auch Marcel und sie stürmten ins Sonnenlicht.
Dichte Wolken der Piranhas waberten über dem Haus. Das Surren war tosend laut, wie ein Sturm. Martha schwang verzweifelt die Fackel. Neben ihr zog Jakob die seine mit zitternden Fingern hervor.
Die Piranhas umschwärmten sie. Marcels zweite Ladung riss ein klaffendes Loch in ihren Schwarm, das sich sofort wieder schloss.
Dann stolperte Viorel aus dem Schwarm zu ihnen. Das Blech seines Schilds war angebissen.
"Viorel!" Alexandru streckte den Arm aus und zog seinen Bruder an sich.
Feuer und die Schrotflinte konnten die Piranhas zunächst auf Abstand halten. Doch Martha wusste, dass sich die Kreaturen nicht verziehen würden.
Der Gestank, der sich nun ausbreitete, ließ sie würgen. Stechend biss er in ihre Nase.
"Der Pestengel!", brachte sie keuchend hervor.
"Dieses Untier - töten wir ihn!", knurrte Viorel. Er rannte los.
"Viorel, nein!", brüllte Alexandru. Marcel jedoch war schneller und setzte sich an die Seite von Alexandrus Cousin. Schon schloss sich der Schwarm hinter ihnen.
"Was machen die Idioten?", brüllte Martha.
"Ich muss hinterher." Alexandru packte Jakobs Fackel und riss daran. "Lass ... los ...!"
Beide schwankten. Martha streckte die Hand aus und bekam Jakob zu fassen. Alexandru fiel. Eine schwarze Wolke hüllte ihn ein.
Das war Valeas Vater, dachte Martha und sie betäubt konnte sie sich nicht rühren. Wie mein Vater.
Jakobs Schrei riss sie aus ihrer Starre. Martha wirbelte herum und schlug mit der Fackel nach mehreren Piranhas, die sich dem Rücken ihres Bruders genähert hatten. Sie ergriff seine Hand und rannte los. Instinktiv sprang sie über jene Stelle hinweg, wo Alexandru gestürzt war, doch dort war längst kein Hindernis mehr, über das man stolpern konnte. Seine Fackel war erloschen.
Die Piranhas blieben hinter ihnen zurück. Vor sich sah Martha Marcel und Viorel auf dem offenen Feld. Sie liefen unter einem mächtigen Schatten, und der Gestank war nur noch schlimmer geworden.
Der Pestengel ragte über ihnen auf.
"Martha!", brüllte Jakob.
Sie sah auf das graue Wesen. Narben und dunklere Wunden zierten seine glatte Haut unter einer fast handbreiten Schleimschicht. Lange Tentakel ringelten sich im Himmel über ihr. Dämpfe umwaberten die Kreatur als sichtbare, gräuliche Nebel, die über den Boden wallten. Pflanzen verfärbten sich beim Zusehen schwarz, wenn diese Nebel sie erreichten.
Nicht einmal die Piranhas wagten sich in die vergiftete Umgebung unter dem Pestengel.
Martha sah, wie Marcel Viorel auf einen Steinbrocken hob. Viorel krümmte sich in Krämpfen. Marcel kniete neben ihm und lud die Schrotflinte erneut, als ein Tentakel auf ihn zukam. Der Schuss ließ den Tentakel auch wirklich zurückzucken, doch nun richtete der Pestengel seinen Blick nach unten und bemerkte Martha und Jakob.
Sie hatte nur Sekunden, um zu reagieren, als das grausige Gesicht herunterkam.
"Nicht mein Bruder!", knurrte sie und schleuderte ihre Fackel.
Die Reaktion überraschte sie. Aufkreischend warf sich der Pestengel zurück, als die Fackel den Schleim sofort entzündete. Tentakel peitschten wild umher, einer jagte auf Martha und Jakob zu. Sie warf sich vor ihren Bruder und spürte den Schlag im Rücken, der sie beide über den Boden rollen ließ.