- Start: 04.10.2020 - 17:41 Uhr
- Ende: 04.10.2020 - 17:54 Uhr
Irgendwie hatte sich die Pflanze ihren Weg durch den Asphalt erkämpft. Nun streckte sie das Köpfchen zur Sonne, ein weißer, flaumiger Ball.
Martha hielt an und ging neben der Pusteblume in die Hocke. Ein Blick zurück bewies ihr, dass die Anderen noch damit beschäftigt waren, das Kanu an Land zu ziehen. Auf dem Fluss hatten sie viel Strecke gewinnen können, aber nun wurde es Zeit, das Boot zu verstecken und zu Fuß weiterzugehen.
An den Brücken hatten Leichen gebaumelt. Sie waren in das Gebiet eines Clans eingedrungen. Und dieser Clan schien nicht besonders gastfreundlich zu sein. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass die Toten wegen Verstößen gegen das Allgemeinwohl hingerichtet worden waren, doch dazu musste man sie nicht wie zur Abschreckung unter eine Brücke hängen.
Martha wollte kein Risiko eingehen.
Vorsichtig umfasste sie den Stil der Pusteblume und riss sie aus. Für Andere war die Blume womöglich nur ein Zeichen dafür, dass die Natur sich die Welt der Menschen unnachgiebig zurückholte, seitdem der Krieg begonnen hatte.
Aber Martha las daraus auch, dass hier in letzter Zeit kein Auto gefahren war. Mit etwas Glück besaßen ihre Feinde also keine Fahrzeuge mehr.
Vielleicht konnten sie dem Clan unbemerkt entschlüpfen. Martha wollte es nicht auf einen Konflikt ankommen lassen.
Clans - Gruppen von Menschen, die irgendwo ein dauerhaftes Lager errichtet hatten - hatten ihre Gruppe schon früher viele Mitglieder gekostet. Martha wusste nicht, was es war, das die Menschen in Tiere verwandelte. Vielleicht eine Art Krankheit wie die Seuche. Vielleicht war es auch tief in ihnen allen drin, wie auch in Martha, denn immerhin hatte sie einen Haufen Kinder schutzlos zurückgelassen, um mit nur vier Leuten zu fliehen. Um die Schwärme auszutricksen.
Um ein paar Stunden länger zu überleben.
Sie sah zurück. Marcel, Jakob, Cora und Finnik stritten darum, wer welchen Rucksack tragen sollte. Finnik stritt, indem er die Hände bewegte. Cora hatte mal versucht, ihnen alle die Gebärdensprache beizubringen, doch sie hatten niemals genug Zeit dafür gehabt.
Martha atmete tief durch. Sie wusste, sie sollte etwas für ihre kleine Gruppe empfinden. zwei herzensgute Flüchtlinge, ein ehemaliger Soldat, ihr eigener Bruder ... aber sie sah in ihnen nur noch hungrige Mäuler, wunde Füße, Geräusche, die sie an einen Clan oder an die Schwärme verraten konnten. Sie sah in ihnen Zielscheiben, und sobald jemand in der Nähe wäre, der eine Waffe hatte ...
Sie blies gegen die Pusteblume. Die Samen trudelten davon, erhoben sich in die Luft, tanzten im Wind. Frei und scheinbar unbeschwert, und doch konnte Martha nur daran denken, wie kurz das Leben geworden war.