- Start: 27.11.2019 - 20:36 Uhr
- Ende: 27.11.2019 - 21:04 Uhr
"Wie kannst du eigentlich nachts schlafen?", fragte sie ihn.
Er sah auf ihre Gestalt im kalten Mondlicht, auf der dunklen Erde, und sein Finger krümmte sich um den Abzug. "Ganz einfach, Mutter. Schau nie zurück."
"Was hast du? Warum weinst du?"
Der kleine Junge drückte sich an seine Mutter. "Heute war die erste Probe für das Krippenspiel." Er schluchzte. "Ich hab meinen Text geübt, aber dann wusste ich plötzlich gar nichts mehr. Jetzt hat Frau Rosental Max meine Rolle gegeben!" Der Junge schluchzte auf. "Ich hab sooo viel geübt! Aber immer kriegt Max alles, weil der alles besser kann!"
"Pscht, scht." Seine Mutter wiegte Marcel sanft im Arm.
"Ich hätte noch mehr proben sollen! Ich kann den Text ja eigentlich, aber mir fiel der Anfang einfach nicht ein! Ich hätte nur die ersten Worte gebraucht, dann wäre jetzt nicht Max der Josef!"
"Geschehen ist geschehen", sagte seine Mutter leise. "Mach dir keinen Kopf, Marcel. Schau nicht zurück und bei der nächsten Probe machst du es besser."
"Welche nächste Probe?", heulte der Junge. "Die Rollen sind jetzt schon fest!"
"Es gibt immer ein neues Jahr und ein neues Krippenspiel." Seine Mutter schob ihn leicht von sich, um ihm die Tränen von den Wangen zu wischen. Dass Max die Rolle bekommt, ist doof, aber es ist passiert und man kann nichts mehr daran ändern. Es bringt nichts, sich zu ärgern. Schau nie zurück."
"Aber ich will nicht umziehen! Alle meine Freunde sind hier! Das ist mein Zuhause!"
"Es reicht jetzt, Marcel." Seine Mutter stellte den Umzugskarton ab.
Ihr Sohn stampfte mit dem Fuß auf und versperrte ihr zornesrauchend die Eingangstür. "Ich will hier nicht weg!"
"Das will ich auch nicht", sagte seine Mutter und wischte sich Schweiß und Staub von der Stirn. "Aber uns bleibt leider keine Wahl."
"Nur wegen Papas blödem Job!"
"Auch Papa kann nichts dafür", sagte Marcels Mutter streng. "Ich möchte mich nicht mit dir streiten. Wir müssen hier weg. Da führt kein Weg dran vorbei. Ich verliere auch vieles, woran mein Herz hängt, aber wir können nichts tun. Es bringt nichts, zu trauern. Wir finden neue schöne Dinge. Neue Freunde. Ein neues Zuhause."
"Die haben da bestimmt keinen Park!", schniefte Marcel.
"Dafür einen Zoo, habe ich gehört", sagte seine Mutter und lächelte aufmunternd. Der Siebenjährige lief zu ihr und umarmte ihr Bein. Sie streichelte über seinen Kopf. "Schau nie zurück. Freu dich auf das, was vor dir liegt."
"Hey, ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte."
"..."
"Mama? ... Ich ... ist er schon ... bin ich ...?"
"Es tut mir so leid."
Auf dem Krankenhausflur brach Marcel zusammen. Seine Beine gaben einfach nach, als hätten sich die Knochen plötzlich in Gummi verwandelt, und er setzte sich schwerfällig in den Plastikstuhl. Sein Mund klappte auf und zu wie bei einem Fisch, als er nach Worten suchte.
Seine Mutter ergriff seine Hände und sah mit ihren eigenen tränengefüllten Augen in die seinen, die einfach nicht feucht zu werden schienen.
"Der Bus hatte Verspätung und ...", hauchte Marcel wie im Traum. "Ich dachte ..."
"Es ist nur ein paar Minuten her", sagte seine Mutter. "Wenn du willst, kannst du rein gehen."
Zweifelnd sah Marcel auf die Tür.
Seine Mutter drückte seine Hand. "Zusammen?"
Marcel nickte. Er stand auf.
"Komm, lass die Tasche hier." Seine Mutter zog dem Fünfzehnjährigen die Schultasche von der Schulter. Hand in Hand betraten sie das Krankenzimmer und standen schweigend da. Es war seltsam. Marcel wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. Oder überhaupt was er denken sollte.
"Scheiße", flüsterte er.
"Mundwerk!", tadelte seine Mutter ihn schwach.
"Ich hab das dumme Shirt übrigens gefunden, es war die ganze Zeit in meinem Sportbeutel." Marcels Stimme zitterte. Er wurde blass. "Ich kann es ihm nicht sagen. Mich nicht entschuldigen! Das wird für immer meine letzte Erinnerung an Papa sein!"
"Sch, sch!" Seine Mutter nahm den schluchzenden Jungen in den Arm. "Dein Vater wusste, dass du ihn liebst. Ich hab ihm gestern schon gesagt, dass du das T-Shirt vermutlich nur mal wieder übersehen hast. Ist schon gut. Er weiß es, Marcel. Er weiß es."
"Dieser beschissene Fahrer!", knurrte Marcel in ihre Schulter. "Diese beschissene Welt!"
"Jetzt achte aber wirklich auf dein Mundwerk!", rief seine Mutter. "Beruhige dich, tief durchatmen. Deine Wut und dein Schmerz bringen jetzt nichts mehr. Es ist geschehen. Wir können es nicht mehr ändern." Sie wiegte sich leicht im Stehen, wiegte den Jungen mit. "Du weißt, was du tun musst."
"Schau nicht zurück", murmelte Marcel.
"Marcel! Du hast mich gefunden!"
"Natürlich, Mama."
"Nein! Komm nicht näher." Sie krabbelte rückwärts über den Waldboden. "Ich habe es auch."
Marcel blieb wie angewurzelt stehen. "W-was?"
"Ich habe es auch. Das, was alle haben. Die Seuche. Du darfst mir nicht zu nah kommen."
"Aber ... Mama!" Dem Mann schnürte sich die Brust zu. Seit der Katastrophe hatte er Tage und Nächte gekämpft. Fünf Monate lang hatte er nach seiner Mutter gesucht, und nun, da er sie gefunden hatte ...
"Oh, mein Junge. Es tut mir so leid! Es tut mir so unendlich leid."
"Es ist ja nicht deine Schuld", erwiderte er wie in Trance. "Du hast das Gift nicht zusammengemixt. Du hast die Welt nicht vor die Wand gefahren."
"Ich hätte es dir nur so gerne erspart. Die Vernichtung. All die Toten ... Ich hab gehört, was du dem Mädchen erzählt hast, dieser Martha. Ach, Marcel! Du bist so tapfer. So unglaublich, unglaublich mutig."
"Mama!"
"Doch, das bist du. Und so stark. Wie überlebst du das nur? Ein Mensch muss an so viel Verlust zerbrechen. Ihr alle müsstet das. Das müsste euch zerreißen!"
Ein Krampf schüttelte sie. Sie würgte und wich weiter vor ihm zurück, die Augen vor Schreck verzerrt. Jetzt konnte er den Wundschorf auch sehen, der sich über ihre Haut ausbreitete. Dort, wo der Ärmel hochgerutscht war.
"Wie kannst du eigentlich nachts schlafen?", fragte sie ihn.
Er sah auf ihre Gestalt im kalten Mondlicht, auf der dunklen Erde, und sein Finger krümmte sich um den Abzug. "Ganz einfach, Mutter. Schau nie zurück."
Ein Schuss. Gegen die Seuche gab es nur eine Heilung, und das war der Tod.
Marcel schloss die Augen. Er sah nicht auf, als Martha und die andere seinen Namen riefen, auch nicht, als sie angelaufen kamen und kurz hinter ihm stehen blieben. Sie sahen die Verletzungen, die Male der Pest.
"Es tut mir so leid", sagte Jakob leise. "Marcel ..."
"Schau nie zurück", knurrte er, sicherte die Waffe und steckte sie wieder ein. "Habt ihr alle Vorräte? Wir müssen weiter, bevor noch Schwärme kommen."