- Start: 09.10.2020 - 09:57 Uhr
- Ende: 09.10.2020 - 10:23 Uhr
Und auf einen Schlag waren sie in einer völlig anderen Welt.
Die Clanmembers brachten Martha, Jakob und Marcel fort von der Siedlung. Das war bereits seltsam, denn für gewöhnlich nistete ein Clan sich in den Ruinen einer Stadt ein, die leicht zu verteidigen waren. Auf offenem Feld war man den neuen Lebensformen dieser feindlichen Welt schutzlos ausgeliefert.
Doch dieser Clan hatte mitten im Wald ein neues Lager geschaffen. Zunächst entdeckten die drei Gefangenen einen umfassenden Kahlschlag, wo zwischen modernden Baumstümpfen die ersten neuen Setzlinge wuchsen. Kalter Wind strich über die raue Landschaft, jage durch wucherndes Gestrüpp, dass immer dichter wurde, je weiter sie kamen. Bis auf einen breiten Trampelpfad verwilderte das Gelände und bald befanden sie sich in einem Tunnel durch meterhohe Brombeeren, die offenbar auf Gerüsten wuchsen. Anders konnte sich Martha nicht erklären, wie ein Brombeerstrauch fünf Meter hoch und bestimmt hundert Meter dick werden konnte - das musste eine angepflanzte Schutzmauer sein.
Nach einem fast einstündigen Fußmarsch erreichten sie einen Platz im Inneren der Brombeerhecke. Es war eine große, aber nicht wirklich riesige Lichtung. Etwa fünfhundert Meter maß der Kreis, und der meiste Platz wurde von Feldern eingenommen. Darüber erstreckte sich ein hohes Gerüst aus Baumstämmen, bedeckt mit Folie, sodass Licht hereindrang, aber die Schwärme getäuscht wurden. Diese fliegenden Wesen würden glauben, dass sich hier einfach eine Wasserfläche erstreckte.
Martha musterte den geschützten Hof anerkennend. Die abgeholzten Baumstämme wurden offenbar als Material für das Gerüst genutzt. An manchen Stellen war die Folie offen, dort wurde das Regenwasser gesammelt, um Felder und sicherlich auch Menschen zu ernähren. An den Rändern der Lichtung erkannte sie mehrere Tunneleingänge, manche davon kleiner, sodass es sich vermutlich um Gänge zum Ernten handelte. Außerdem sah es so aus, als würden die Brombeeren innen abgehackt, um das Lager zu erweitern, während die Mauer außen wuchs. Hier und da ragten jedenfalls Rankhilfen aus Baumstämmen aus dem dichten Dornengestrüpp.
"Einem Panzerhorn hält das aber nicht stand", murmelte Martha.
"Ist ja auch noch ne kleine Siedlung", brummte der Mann, der ihren Arm ergriffen hatte und sie bewachte.
"Klein?", fragte Martha zweifelnd.
Ihr Bewacher schnaubte herablassend.
"Wo sind die Häuser?", fragte Marcel.
Martha sah sich aufmerksam um und merkte, dass der ehemalige Soldat recht hatte: Es waren Menschen zu sehen, die auf den Feldern arbeiteten, und einige offene Unterstände, in denen die Ernte offenbar gelagert wurde, aber keine Hütten, Zelte oder gar Häuser. Wohnten diese Menschen im Brombeergestrüpp? Schliefen sie in den Scheunen?
"Unten", antwortete ein anderer der Männer. Er hatte kurzes, blondes Haar und blaue Augen, die nicht so ganz zu seiner muskulösen, braungebrannten Statur passen wollten.
"Unten?", wiederholte Marcel, erhielt jedoch keine Antwort mehr.
Die vier Clanmember führten sie zu den Scheunen im Inneren der Lichtung. Ringförmig erhoben sich hier die Schuppen, vermutlich der Ursprung der Siedlung, ehe der Schutzwall, das Dach und die Felder entstanden waren.
Sie traten zwischen den Scheunen hindurch und stießen auf ein rundes, mit stein ausgekleidetes Loch im Boden.
"Steinbruch", murmelte Martha. Die Männer hatten gesagt, dass sie dort arbeiten sollten.
"Ah, Schnellmerkerin." Der Mann stieß sie zum Loch. "Abstieg."
Eine Treppe führte an der Wand entlang in die Tiefe. Es gab kein Geländer und die Stufen bestanden lediglich aus festgetretener Erde. Martha balancierte in die muffige Dunkelheit.
Jakob folgte ihr zitternd. Er war klaustrophobisch, unter der Erde fühlte er sich nicht wohl.
Sie gelangten in eine kleine Kammer, von der mehrere Gänge abgingen, die offenbar per Hand in den Stein gehauen worden waren.
"Hier lang", brummte einer der Kerle und duckte sich in den ersten Gang. "Die großen Gänge führen zu den anderen Siedlungen. Wenn sie mit Stein verstärkt sind, geht es dort zur Basis. In beide Richtungen, es sind drei Rundgänge, die von der Basis aus zu den Siedlungen gehen, immer mit Abzweigungen und dem Kram."
Die Gänge waren von Kerzen mäßig erleuchtet. Von ihrem jetzigen Gang öffneten sich auf der linken Seite mehrere niedrige Kammern, die mit Stroh angefüllt waren. Neben jeder Öffnung hing eine Schiefertafel oder ein Stück Stein, beschrieben mit knappen Zeichen und Codes. Doch Martha erkannte auch einige Worte.
"Besserwisser" ... "faul" ... "hat Extraration Brot verdient" ... "heute doppelte Menge geliefert" ... "gibt Widerworte" ...
Die letzten beiden Tafeln hatten zwei identische, mehrfach unterstrichene Worte darauf: "beseitigen".
"Das sin' eure", sagte der Mann, der sie herumführte.
"Unsere was?", fragte Marcel. Er und Martha waren die Angesprochenen gewesen.
"Eure Zimmer." Der Mann drückte Jakob eine Schaufel in die Hände. "Du gräbst dir deines selbst. Heute Abend musst du fertig sein."
"F-f-fertig?", stammelte Jakob. Unsanft wurde er vor die feste Wand neben Marthas 'Zimmer' geschoben.
"Ihr beide kommt mit", brummte ihr Führer und bückte sich, um zwei Spitzhacken vom Boden zu nehmen. "Ich zeig euch den Steinbruch. Und damit ihr gleich wisst, wie das hier läuft: Ihr seid Arbeiter. Wir sind Wächter. Ihr habt euch zu benehmen, sonst gibt's kein Essen." Er wischte die Schrift von den beiden nun leeren Zimmern. "Oder Schlimmeres."
Zwei der Männer begleiteten Martha und Marcel. Einer blieb, um Jakob zu überwachen, und der Vierte wurde losgeschickt, um eine Schiefertafel, Stroh und eine Spitzhacke für Jakobs Zimmer zu besorgen.
Martha warf ihrem Bruder einen letzten Blick über die Schulter zu, als sie abgeführt wurde. Doch ihr Blick glitt zu der leeren Tafel neben ihrem neuen Zimmer.
Sich benehmen. Oder es würde Konsequenzen geben. Sie wusste, wenn sie überleben wollte, musste sie mitspielen.