- Start: 17.11.2020 - 19:50 Uhr
- Ende: 17.11.2020 - 20:18 Uhr
Am nächsten Morgen durchsuchten sie das Haus ein weiteres Mal. Auf dem Dachboden hatten sie Decken gefunden, die sich mit einigen groben Stichen in primitive Rucksäcke umnähen ließen.
Die hatten sie bitter nötig. Ihre Gruppe hatte viele Vorräte am Ufer des Flusses zurückgelassen, Vorräte, die sie erst kurz vorher gewonnen hatten. Den Rest hatte der Clan genommen, als sie gefangen worden waren.
Das ehemalige Bauernhaus war ein echter Glücksfall. Viele Nahrungsmittel waren leider inzwischen verdorben oder hatten neues Leben hervorgebracht, doch sie fanden mehrere Dosen mit haltbarem Essen aus der alten Welt. Im Garten standen auch zwei Fahrzeuge, ein Auto und ein Traktor, doch beide funktionierten nicht mehr und sie wären mit ihnen auch nicht an den Tannen vorbeigekommen.
Doch im Keller fand Martha unzählige Gläser Marmelade und Apfelmus. Sie begann, alle in einen der neuen Rucksäcke zu packen. Im Endeffekt würden sie die Schubkarre, die sie gefunden hatten, dafür verwenden, das Essen zu transportieren.
Die Kellerleiter knarzte. Als Martha aufsah, stieg Jakob gerade die letzten Stufen hinunter.
"Wie geht es dir?", fragte sie. In der Nacht hatte sie ihn weinen gehört.
"Beschissen", murmelte er. Jakob legte einen leeren Rucksack auf den Boden, den er mitgenbracht hatte.
"Wegen Cora?"
Er wich ihrem Blick aus. "Auch. Oder eher nicht. Ach, keine Ahnung."
Martha setzte den Rucksack ab und sich daneben. "Erzähl."
"Ich möchte lieber was tun."
"Wir haben heute noch ein paar Stunden Wanderung vor uns. Das wird dich genug ablenken."
Jakob zögerte, dann seufzte er. "Es ist dumm. Ich dachte nur ... als Kind wollte ich immer gerne auf einem Bauernhof wohnen. Genau wie dieser hier. Das war mein großer Traum. Schafe, Pferde, Felder, Natur ..."
"Du hattest vor jedem Käfer Angst", erinnerte Martha ihn.
"Ich hab es nie richtig durchdacht, das stimmt schon." Jakob grinste schief. Der Blick aus seinen Augen blieb traurig. "Trotzdem war es ein Traum. Und jetzt hier zu sein, wo alles kaputt ist ..."
"Ich weiß", murmelte Martha. "Aber falls es dich tröstet: Es wäre auch nicht schöner gewesen, wenn die Welt noch stünde. Bauernhöfe sind dreckig und voller Arbeit. Und es gab hier kein Internet. Das hätte dir nicht gefallen."
"Ach, das Internet." Jakob winkte ab. "Wir kommen ja auch ohne zurecht, oder nicht? Jetzt werden wir am Ende echte Bauern. So gesehen wird mein Traum also wahr."
Er schwieg und Martha sah auf ihre Hände.
"Weißt du, ich hatte auch einen Traum", murmelte sie schließlich. "Ich wollte Politikerin werden. Oder eine Firma leiten. Irgendwas, wo ich das Sagen hätte."
Jakob lächelte. "Dann ist dein Wunsch ja auch in Erfüllung gegangen."
"Nicht so, wie ich es mir erhofft hatte." Martha seufzte mutlos. "Seit das Ganze hier angefangen hat, wünsche ich mir nur noch, dass alles normal wird. Dass wir wieder normal werden. Dass wir Kinder sein können und keine ... Krieger."
"Das ist jetzt, was wir sind", sagte Jakob leise. "Es gibt kein Zurück mehr."
"Schon lange nicht mehr. Dazu haben wir zu viel getan und erlebt." Martha nickte und stand auf. "Wir brauchen neue Träume, Bruderherz."
"Ich hab von einer Familie geträumt", sagte Jakob. "Mit Cora." Seine Stimme brach.
Martha sah zu Boden. "Ich wünschte, wir hätten etwas tun können. Aber ein Rettungsversuch hätte unser Schicksal besiegelt."
Jakob stand auf und schulterte Marthas vollen Rucksack. Den leeren ließ er zurück, als er sich zum Gehen wandte. "Ich weiß nicht, ob ich dir das jemals verzeihen kann."
"Ich musste dein Leben retten", flüsterte Martha.
"Ich wäre lieber gestorben", sagte Jakob mit harter Stimme. "Und du hattest kein Recht, für mich zu entscheiden."
"Du warst nicht Herr deiner Sinne!"
"Das sagst du nur, weil du noch nie zuvor jemanden geliebt hast. Sonst würdest du mich verstehen." Jakob stieg die Leiter wieder hinauf, unter dem Gewicht des Rucksacks taumeln. "Beeil dich. Die Sonne steht schon hoch."
Martha rührte sich dennoch eine ganze Weile nicht, auch nachdem er bereits gegangen war.
Seit Gestern träumte sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder von der Zukunft. Von einem Hof, selbst angebauter Nahrung, einem sicheren, versteckten Leben.
Doch auch dieser Traum würde sich nicht erfüllen. Sie würden keine kleine, glückliche Familie sein. Diese Zukunft war verloren.