- Start: 08.10.2019 - 15:22 Uhr
- Ende: 08.10.2019 - 16:04 Uhr
Erinnerung, schön wie ein Traum. Sie war alles, was Marthas Leben erträglicher machte. Das letzte bisschen Normalität in dieser von Monstern überrannten Welt.
Wie ein Spiegel zeigte sie ihr die ehemalige Martha und das Monster, das sie selbst nun geworden war. Wie Spiegelscherben schnitt sie tief in ihr Herz und brachte die Tränen wie Blut zum fließen.
"Was hast du da?" Jakob trat zu ihr und beugte sich über ihre Schulter.
Martha reichte ihm die Puppe. "So eine hatte ich damals."
Jakob nahm die Barbie entgegen. Früher hatte er die Puppen wenn, dann nur mit spitzen Fingern angefasst, und lauthals behauptet, dass sie die "Pinkseuche" übertragen würden. Heute packte er sie an den Beinen und schwang sie testweise, wie um festzustellen, ob sie sich als Knüppel eignen würde. Der Oberkörper der verschmutzten Puppe klappte vornüber und Martha schnürte es den Hals zu.
"Ich erinnere mich", sagte Jakob schließlich und gab die Puppe mit beiden Händen zurück. Er schien sich für seine Taktlosigkeit zu schämen und die Barbie jetzt wie ein wertvolles Fossil behandeln zu wollen. Martha warf die Puppe zurück in den Dreck. "Nichts, was wir gebrauchen könnten."
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die leergeräumten Regale zu sehen. Finnik, Cora und Marcel waren ein Stück entfernt und suchten. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass sie fündig werden würden. Nur noch vereinzelte Objekte lagerten in dem ehemaligen Geschäft. Alles, was nur im entferntesten nützlich war, hatten andere Überlebende vor ihnen ausgeräumt. Spielzeuge lagen ausgeweidet auf dem Boden, die Batterien herausgebrochen. Alles aus Holz oder Pappe, das man verbrennen konnte, war ebenfalls fort. Die Schreibwaren waren ausgeräumt. Zurück blieb Schrott wie die Puppe. Plastik, das man nicht verbrennen oder essen oder als Energiequelle nutzen konnte.
Warum hatte die frühere Welt bloß so viel Wert auf das Zeug gelegt?
Martha stiefelte die Gänge entlang und spähte auch unter die Regale. Jakob folgte ihr in einigem Abstand und übernahm die andere Seite.
Schließlich entdeckte sie etwas. Martha ließ sich auf den Bauch nieder und streckte den Arm in den Staub unter einem Regal. Spinnweben strichen über ihre Haut. Das Metall des untersten Regal schnitt leicht in ihren Oberarm, doch mit gestreckten Fingern konnte sie den Widerstand ertasten und das weiche Objekt zuerst mit den Fingernägeln und dann mit festem Griff zu sich ziehen.
"Was hast du da?", fragte Jakob.
"Zunächst hab ich Glück, dass ich so dünn bin." Martha präsentierte grinsend das Kissen. Es war klein und hatte die Form eines Löwen. Im Grunde war es mehr ein Kuscheltier als ein Kissen. Aber es bedeutete einen weicheren Schlafplatz oder zusätzliches Innenfutter für eine Jacke.
Jakob lächelte. "Hey, erinnerst du dich, wie wir 'König der Löwen' gesehen haben?"
Oh ja, Martha erinnerte sich. Es war in diesen ersten Tagen gewesen, als die Apokalypse kein Schock mehr und noch kein deprimierender Untergang gewesen war. Sie, Jakob und Louise hatten den Verlust ihrer Familien langsam überwunden und für einige Wochen war das Leben wie ein Paradies gewesen. Alle Supermärkte hatten ihnen offengestanden, sie hatten völlig kostenlos tun und essen können, was sie wollten. Schließlich hatte Jakob herausgefunden, wie die Technik im Kino funktionierte und sie hatten die Blockbuster der letzten Woche der Zivilisation rauf und runter geguckt und sich dabei mit über dem Gaskocher zubereitetem Popcorn vollgestopft.
Das war gewesen, bevor die Monster in diesen Teil der Welt vorgedrungen waren. Martha wischte sich das Lächeln aus dem Gesicht und stopfte das Kissen in ihren Rucksack. Jakob drängte nicht auf eine Antwort.
Schnelle Schritte ließen die Geschwister in die Höhe springen. Sofort zückten sie ihre Waffen, Martha das rostige Messer und Jakob die mit Nägeln besetzte Keule aus einem Stück Holz. Doch es war nur Finnik, der um die Ecke bog. Der Dunkelhaarige wedelte mit einem Holzschiffchen in der Hand, das er ihnen unbedingt zeigen wollte.
Holz ... Brennmaterial. Martha verdrängte die Bilder an den Strand, an dem Finnik und Cora damals mit ihrem halb gefluteten Ruderboot angekommen waren. Jakob hatte sich vermutlich schon damals Hals über Kopf in Cora verliebt und Martha war keine Wahl geblieben, als ihm dabei zu helfen, die syrischen Geschwister an Land zu ziehen. Damals waren sie noch eine größere Gruppe gewesen. Mit Daniel, Amalia, Alek und der artigen Christina Hansen, die wenige Wochen zuvor aus Dänemark gekommen war - zu Fuß. Marcel hatten sie noch nicht gekannt, der war wohl alleine irgendwo anders gewesen. Er war ein ziemlicher Einzelgänger. Aber Bernhard war noch Teil ihrer Gruppe gewesen. Bernhard, dem sie vertraut hatte. Mustafa und Mai und Josef ... und Louise natürlich. Sie hatten auch diesen Piloten gehabt, Kleinweg. Und die alte Frau, die jedoch nicht einmal mehr ihren eigenen Namen wusste.
Martha schüttelte den Kopf und steckte das Holzboot ein. Geistesabwesend klopfte sie Finnik auf die Schulter. "Danke." Danach hob Martha die Stimme. "Seid ihr fertig?"
"Gleich!", antwortete Marcel. Seine Stimme klang dumpf. Offenbar war er im Lager.
"Wir sollten nicht zu lange zögern. Die Schwärme könnten uns wittern."
Cora kam herangeeilt. In der Hand hielt sie eine Wasserflasche, die sie Martha stolz reichte. "Hier!"
Für einen Moment sah sie Louise vor sich. Die verbeulte Thermoskanne, aus der sie abwechselnd getrunken hatte. Der Alkohol war ihnen zu Kopfe gestiegen, Martha jedenfalls, und bald hatten sie um das Lagerfeuer getanzt. Die Flasche dort zu berühren, wo eben noch Louises Lippen gewesen waren, war jedes Mal wie ein Kuss gewesen. So hatte sich der wahre Schritt plötzlich weit weniger groß angefühlt und sie hatte sich einfach vorgebeugt. Niemals hatte sie gefragt, ob Louise den Sinn ihres "Kürzen wir das doch einfach ab!" wirklich verstanden hatte.
"Die hat ein Loch", sagte Martha und hielt die Flasche so, dass jeder den Boden sehen konnte. Enttäuschung malte sich auf Coras Gesicht ab. Martha warf die Flasche auf den Boden. "Marcel!"
"Kommt mal her. Können wir das brauchen?"
Sie eilten zu ihm. Er hatte die Tür zu einem der Lagerräume aufgebrochen und diesen auf eigene Faust durchsucht. Er war die meiste Zeit der Apokalypse ein Einzelgänger gewesen und hatte sich nicht wirklich an das Vorgehen in einer Gruppe angepasst. Martha störte sich nicht daran.
"Ist das ein Kanu?", fragte Jakob.
Marcel nickte. "Damit wären wir schneller als die Schwärme. Aber wir müssten es bis zum Wasser kriegen."
Den Fluss hatten sie bereits gesehen. Er war vielleicht drei Kilometer Fußmarsch hinter ihnen. Zurück in Richtung der Schwärme und Papageien.
"Und es ist nur Platz für vier Leute. Einer wird immer am Rand hängen müssen und nass werden. Selbst wenn wir uns stündlich abwechseln, wird das die reinste Folter", fuhr Marcel fort. "Und am Ende sind wir alle erkältet."
Tee mit der Familie, während sie und Jakob mit Schnupfen auf der Couch lagen, dick in Decken gemummelt. Draußen prasselte der Regen.
Ein Kanuausflug mit der Schule, Martha und ihre drei Freundinnen im gleichen Boot. Natürlich kenterten sie und Marias Handy ging dabei kaputt.
Sie und Dad beim Angeln. Nun konnte sie die Fähigkeit zum Überleben nutzen, aber es fühlte sich jedes Mal seltsam an, ohne ihn am Wasser zu sitzen.
Martha blinzelte die Tränen fort und konzentrierte sich. Eine schnelle, riskante Fahrt oder langsame, bequeme Wanderung?
"Wir nehmen es mit", entschied sie und sah sich in der Gruppe um. Jakob und Cora nickten, Finnik rührte sich nicht. Ob er taub war oder einfach die Sprache nicht verstand? Sie müsste Cora fragen, aber dann wiederum beherrschte auch das Mädchen nur wenige Sätze und es würde langwierig werden, sich ihr verständlich zu machen. Im Endeffekt war es auch egal, was genau mit Finnik los war.
Marcel packte ein Ende des Kanus. Die anderen beeilten sich, ihm zu helfen. Zu fünft ließ sich das schmale, lange Boot leicht tragen, aber sie kamen nur langsam voran. Sie mussten erst einmal aus dem schmalen Lager heraus, dann auf die Straße. Dort wurde es besser, denn die einzigen Hindernisse waren vereinzelte, rostende Autos, in deren Sitzpolstern Blumen wuchsen.
Während sie liefen, setzte ein schwacher Nieselregen ein. Er tropfte auf Marthas Stirn und lief ihr durch die Haare.
Regen ... auch damals hatte es geregnet, als sie mit Louise auf dem Dach des knarzenden Wolkenkratzers gewesen war. Sie hatten die ganze Nacht dort gesessen. Hinter ihnen flackerte ein kleines Feuer in einer Tonne, das kaum Wärme zu spenden vermochte. Sie tranken ein wenig und redeten viel über nichts bestimmtes. Teilweise sogar aneinander vorbei, ohne sich zuzuhören. Am Ende dieser langen Nacht voller Erinnerungen hatten sie zugesehen, wie sich die Sonne über der Stadt hob. Schulter an Schulter, die Finger miteinander verschränkt, die Füße über dem Abgrund baumelnd. Zerfetzte Wolken leuchteten rot am Himmel. Aus den schwarzen, unförmigen Schatten wurden mit Pflanzen überwucherte Bürogebäude. Der Wind war kalt gewesen und das Feuer fast heruntergebrannt. Vor allem aber war die Welt absolut still gewesen. Kein Vogel war zu hören, kein Mensch, keine Kampfgeräusche, keine Monster. Nur der leise rauschende Wind und das knarzende Hochhaus.
Martha senkte den Blick. Eine Träne tropfte von ihrer Nase, doch niemand der anderen schien es zu bemerken.
Erinnerung, schön wie ein Traum, schmerzhaft wie ein Messer, kalt wie der Regen. Endlos fern wie die Vergangenheit.