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Kapitel 21
Lands End Teil I
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Als ich meine Augen öffne, fühle ich mich für einige Sekunden vollkommen orientierungslos. Verwirrt setze ich mich auf, die Decke rutscht von meinem Brustkorb. Durch das Fenster scheint die Sonne, obwohl es vor wenigen Momenten noch dunkel war. Eilig steige ich aus dem Bett, um zum Fenster zu gelangen. Meine Beine geben nach, doch ich finde meine Balance schnell wieder. An der Fensterbank halte ich mich fest. Ich bin fasziniert und erschrocken gleichermaßen. Der Himmel spielt schon wieder verrückt. Es ist hell! Mitten in der Nacht!
„Killian!“, sage ich etwas lauter, dabei klettere ich zurück auf das Bett. Normalerweise wecke ich ihn nie und schon gar nicht mitten in der Nacht, doch das muss er sehen. „Killian, wach auf. Sofort. Sieh dir das an.“
Mit einem widerwilligen Brummen öffnet Killian die Augen. Erst kneift er seine Augen wieder zusammen, doch dann sieht er mich verschlafen an. Dass er überfordert ist, merke ich deutlich, als er mich von sich drückt. „Was?“, murrt er und legt seinen Arm gleich über seine Augen. Gut, das Licht bemerkt er bereits.
„Killian, es ist hell draußen.“
„Ja, und?“, nuschelt er. „Ist mir egal.“ Sein Tonfall verdeutlicht seine schlechte Laune noch mehr. Ich muss ihn nicht einmal genau ansehen, um zu wissen, dass er sich am liebsten umdrehen und weiterschlafen würde.
„Du verstehst das nicht. Es ist Tag und das mitten in der Nacht.“
„Hm? Was? Ilaria. Bitte. Ich bin müde. Geh weg.“ Er hebt den Arm, der nicht in seinem Gesicht liegt. „Oder komm her.“
Ich lege eine Hand an seinen ausgestreckten Arm und sehe Killian eindringlich an. Als ob er meinen Blick spüren würde, nimmt er seinen Arm von seinen Augen. Er tastet grobmotorisch nach seinem Smartphone. Brummend blinzelt er. Das helle Display ist ihm wohl unangenehm. Killian legt das Smartphone wieder weg und sieht mich neutral an.
„For God’s sake, Ilaria. Es ist neun Uhr morgens. Es ist Tag. Leg dich wieder hin oder lies etwas, nimm ein Bad, mir egal…“
„Was?“, frage ich nun vollkommen irritiert und nehme das Smartphone zur Hand. Ich traue meinen Augen kaum, als ich die Zeitanzeige betrachte. „Nein, nein, das kann nicht sein. Ich habe nur kurz meine Augen zugemacht. Wie kann das sein? Irgendetwas stimmt nicht, Killian.“
Nervös lege ich das Smartphone wieder weg. Killian schnaubt.
„Mhm, passiert mir oft, dass ich mein halbes Leben verschlafe, nur weil ich meine Augen mal kurz ausruhe.“
Ängstlich sehe ich Killian an. „Irgendetwas ist mit mir passiert. Vielleicht sind das Auswirkungen von dem grünen Schimmern? Oder ich bin zu lange in der Menschenwelt. Was passiert mit mir, Killian? Ich brauche deine Hilfe.“
Killian atmet tief durch. „Fuck, es ist zu früh für sowas.“ Er greift nach meinem Arm und zieht mich an seine Brust. „Du warst müde, hast die Augen zugemacht und bist Stunden später wieder wach geworden, hm?“
„Ja, genau so war das. Das ist unheimlich, Killian. Was passiert mit mir?“ Nun lacht der Mensch leise. „Vielen Dank dafür, dass du meine Gefühle nicht ernst nimmst.“ Gerade, als ich mich von Killian abwenden möchte, drückt er mich fester an sich.
„Ilaria. Prinzessin.“ Er streichelt meinen Rücken. „Beruhig dich. Das klingt, als wärst du einfach eingeschlafen. Und das will ich auch. Zwei, drei Stunden sind noch drin.“
Ich bin von Killians Aussage so geschockt, dass ich sie einige Sekunden sacken lassen muss. Eingeschlafen? Ich soll eingeschlafen sein? Wie ist das möglich? Ich schlafe nicht!
Eilig schüttle ich den Kopf. „Nein, das kann nicht sein. Ich habe in den letzten zweihundert Jahren keine einzige Minute geschlafen.“
„Wait. Du bist zweihundert Jahre alt?“
„Ich weiß, ich bin noch sehr jung, aber das heißt nicht, dass ich nicht erwachsen bin. Und das ist auch vollkommen nebensächlich. Ich schlafe nicht. Mein Volk schläft nicht. Du weißt das“, erkläre ich ihm überzeugt.
Der Mensch lässt mich los und mustert mich, dabei fallen ihm immer wieder die Augen zu. „Das sind echt zu viele Infos für einen Morgen.“ Er schüttelt den Kopf und zieht an seiner Decke, was mich dazu bringt, ein Stück von ihm Abstand zu nehmen. Als er die Decke anhebt, lege ich mich wieder zu ihm. Etwas schwerfällig legt Killian sie über mich. Ich werde sofort von Killians Körperwärme umhüllt. „Beruhig dich und wir denken später nach.“ Killian zieht mich wieder in seine Arme. Ich lasse es geschehen, da ich ohnehin nicht dazu fähig bin, irgendetwas zu tun oder zu ändern. Ich weiß nur, dass mir diese neue, vollkommen unbekannte Situation Angst macht und ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll.
༄ ♫ ༄
Killian macht nicht nur ein Nickerchen, er nimmt sich danach auch genug Zeit, um wach zu werden. Ich hingegen mache mir Sorgen und Gedanken über die verlorenen Stunden meines Lebens. Dass ich geschlafen habe, kann ich mir nicht vorstellen. Mein Volk schläft nicht. Wieso sollte sich das plötzlich geändert haben? Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Mein Körper ist immer noch derselbe, auch wenn ich nicht mehr in meiner Welt bin und seltener die Möglichkeit habe, im Meer zu schwimmen. Bei den Expeditionen hatte ich wochenlang keinen Kontakt mit Wasser und nichts hat sich geändert. Vielleicht hat das grüne Schimmern irgendetwas in mir ausgelöst. Vielleicht muss ich sogar sterben!
Killian tritt auf mich zu. Er bringt mir eine heiße Schokolade und einen Teller, auf den er einige Kekse gelegt hat. Mir ist vollkommen bewusst, dass er mich damit aufheitern möchte, doch mir ist nicht danach, etwas zu essen. In meinem Kopf habe ich nur einen einzigen Gedanken. Was ist in den letzten Stunden mit mir passiert?
„Willst du jetzt den ganzen Tag auf der Couch sitzen und deine Finger betrachten?“, fragt Killian mich, dabei legt er seine warme Hand auf meine eiskalten Finger. „Dich so ruhig zu sehen, ist ungewohnt.“
„Ich habe Angst.“
„Wovor?“, fragt Killian nach. „Dir geht es doch gut, oder nicht?“
Ich sehe auf, direkt in ein Paar besorgte, blaue Augen. „Was ist, wenn es wieder passiert?“
Killian zieht einen Mundwinkel hoch. „Dann schläfst du abends in meinen Armen ein und wachst morgens wieder neben mir auf.“ Er streicht durch mein Haar. „Es gibt schlimmeres, als neben jemandem aufzuwachen, den man sehr gerne hat.“ Ich presse meine Lippen zusammen und senke meinen Kopf, doch mit einem sanften Griff an mein Kinn richtet Killian meinen Blick wieder auf sich. „Mach dir keine Gedanken darüber. Vielleicht träumst du ja sogar etwas Schönes.“
„Und wenn ich nie wieder aufwache?“, frage ich ängstlich.
Killian zieht seine Brauen zusammen, sein eben noch freundlicher Gesichtsausdruck ist wie weggeblasen. „Wieso solltest du nicht mehr aufwachen? Du bist heute Morgen auch aufgewacht. Du steigerst dich viel zu sehr hinein. Atme tief durch, okay?“ Ich nicke und tue, was Killian mir vorschlägt. Nach meinem Atemzug, spricht er weiter: „Es ist nur eine Theorie, aber was ist, wenn du den Schlaf von mir angenommen hast? Unsere Seelen sind jetzt verbunden, nicht? Das heißt, dass ein Teil von dir menschlich ist. Ich nehme deine Gefühlswelt wahr und im Austausch dafür schläfst du jede Nacht ein paar Stunden.“ Er zuckt mit den Schultern. „Müdigkeit ist ja auch ein Gefühl. Und Ruhe tut deinem Kopf bestimmt gut. Ständig schwirrt etwas in deinen Gedanken herum. Du willst etwas unternehmen, du hast Fragen, dir ist dieses oder jenes zu langweilig. Du willst ständig beschäftigt werden und etwas erleben. Das ist auf eine gewisse Weise charmant, aber es ist auf Dauer auch sehr anstrengend für einen Menschen. An manchen Tagen kann ich es kaum erwarten, einfach nur noch ins Bett zu kommen.“
„Du findest meine Persönlichkeit also anstrengend“, fasse ich seine Worte enttäuscht zusammen.
Killian reibt sich das Gesicht. Er seufzt. „Es ist vollkommen egal, was ich jetzt sage, der Strick hängt bereits.“
„Was?“, frage ich irritiert nach, dabei kneife ich meine Augen zusammen.
Der Mensch legt seine Hände an meine Wangen und küsst meine Lippen. Er sieht mir direkt in die Augen, ehe er erklärt: „Du bist ein wunderbares Wesen, Ilaria. Wenn deine Persönlichkeit ein Problem für mich wäre, hätte ich dich nie geküsst und du würdest jetzt nicht mehr vor mir sitzen.“ Er lässt seine Hände sinken und zieht einen Mundwinkel hoch. „Ich wollte damit sagen, dass nicht nur mir, sondern auch dir eine Pause guttut.“
„Ja, vielleicht hast du ja auch Recht. Aber du verstehst mich im Moment nicht. Schlaf ist für mich unnatürlich. Ich bekomme neue Kräfte, wenn ich meine Augen für einige Minuten schließe.“
Killian schnaubt amüsiert. „Das machst du jetzt auch, nur eben gründlicher. Du hast doch gesagt, dass du dich gut fühlst und du machst auch nicht den Eindruck, als wärst du krank. Mach dir keinen Kopf. Wir behalten deinen Schlafrhythmus im Auge. Wenn du morgens schwer in die Gänge kommst, dann trinken wir zusammen einen Kaffee.“
Ich lege meine Hand an Killians Brust und streichle ihn. „Es ist nett, dass du dich so um mich kümmerst. Vielleicht mache ich mir auch zu viele Gedanken, aber dir würde es nicht anders gehen, wenn du dein ganzes Leben wach gewesen wärst.“
Killian zuckt mit einer Schulter. „Es ist schon anstrengend genug, drei Tage wach zu bleiben. Dann schlaf ich doch lieber jede Nacht.“ Er greift nach einem der Kekse und steckt ihn sich in den Mund. Ich verfolge seine Bewegungen mit meinen Augen.
„Ich dachte, dass das meine Kekse sind“, gebe ich gespielt schockiert von mir, was Killian zum Grinsen bringt, während er mich kauend ansieht.
Als er hinuntergeschluckt hat, antwortet er mir: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“ Killian beugt sich Richtung Teller, doch nun bin ich schneller. Amüsiert drücke ich den Menschen von mir und verschiebe gleichzeitig den Teller, sodass er den Keks, nach dem er greifen möchte, nicht erreichen kann. „Hey!“
„Das sind meine Kekse!“, antworte ich frech.
„Na warte“, entgegnet Killian mir.
Anstatt aufzustehen und die Kekse zu stehlen oder den Teller an sich zu nehmen, schlingt Killian seine Arme von hinten um meine Taille und zieht mich in seine Richtung. Er lässt sich nach hinten fallen. Ich strample, doch Killian hält mich fest im Griff und zieht mich auf sich. Lachend versuche ich mich zu wehren, doch meine Kräfte lassen viel zu schnell nach, abgesehen davon möchte ich überhaupt nicht fliehen. Killian lässt mich für eine Sekunde los. Ich nutze die Zeit, um mich zu ihm zu drehen. Das Lächeln in seinem Gesicht spricht Bände, als er mich ein weiteres Mal zu sich zieht. Seine Augen strahlen, es ist nicht zu übersehen, wie glücklich er in diesem Moment ist. Nicht nur er fühlt sich gut, auch ich fühle mich wohl. Killian drückt meinen Kopf gegen seine Brust. Er brummt zufrieden, als er durch mein Haar streicht. Nun gebe ich meine letzten Widerstände auf und bleibe schlaff auf Killian liegen. Auch wenn er alles andere als grob mit mir umgeht, bin ich von unserem kleinen Kampf erschöpft. Er ist viel kräftiger als ich, das kann ich nicht abstreiten. Ich atme tief durch. Mit geschlossenen Augen lausche ich dem leicht beschleunigten Herzschlag des Menschen.
„So gefällt mir das schon viel besser“, gibt Killian zufrieden von sich. „Was hältst du davon, wenn wir heute eine kleine Wanderung machen?“
„Zum Strand?“
Auf meine Frage reagiert Killian mit einem Schnauben. Es dauert einen Moment, doch dann antwortet er mir: „Ja, zum Strand. Aber ich möchte nicht wieder darüber diskutieren, ob du dort schwimmst oder nicht, weil es zu gefährlich ist. Du kannst dir das Meer ansehen, aber du wirst nicht schwimmen gehen. Ich habe keine Möglichkeit, dir zu helfen, wenn du dich verletzt. Das verstehst du doch, oder?“
Obwohl ich Killian widersprechen und mich erklären möchte, schlucke ich meine Worte hinunter. „Ja, ich verstehe das.“
Anstatt das zu sagen, was mir auf der Seele liegt, beiße ich mir auf die Unterlippe. Er wird in dem Punkt nicht nachgeben, da bin ich mir sicher, aber vielleicht gibt es ja doch eine ungefährliche Stelle, an der ich mich zumindest ins Wasser legen kann. Vielleicht finden wir ja doch noch einen Kompromiss.
༄ ♫ ༄
Anstatt meine Handtasche zu packen, packe ich heute einen Rucksack. Es ist praktischer, eine volle Tasche auf dem Rücken zu tragen. Killian hat mich gefragt, ob es für mich in Ordnung wäre, auch seine Freunde einzuladen und ich habe zugestimmt. Angus und Lauren haben leider keine Zeit, doch Ian und Marc begleiten uns auf unserer Wanderung.
Die Fahrt mit dem Bus dauert meiner Meinung nach viel zu lange, doch mittlerweile habe ich mich schon fast daran gewöhnt, weite Strecken mit dem Bus hinter mich zu bringen. Auch wenn der Bus meistens sehr voll ist und die Menschen öfter mal lauter werden, ist diese Art zu reisen nicht unangenehm für mich. Durch die motorbetriebenen Fortbewegungsmittel legt man in kürzester Zeit erstaunlich weite Wege zurück. Diese Strecken zu Fuß zu bewältigen würde viel länger dauern, außerdem wäre es sehr anstrengend.
Meine Begleiter haben keine Sitzplätze mehr ergattert, also stehen sie im Bus. Während sich Killian mit seinen Freunden unterhält, sitze ich am Fenster und sehe mir die Stadt an, die an uns vorbei zieht. Die Kopfhörer in meinen Ohren ermöglichen es mir, den Lärm des Busses und auch die Gespräche der Menschen zu dämpfen. Sanfte Gitarrenklänge helfen mir dabei, mich zu entspannen. Es war Killians Idee, dass ich während der langen Fahrt Musik höre, um mich zu beschäftigen und mein Gemüt nicht zu überlasten.
Ich sehe auf, als ich an der Schulter angestupst werde, dabei ziehe ich einen der Kopfhörer aus meinen Ohren. Fragend blicke ich in das Gesicht von Killians Freund. Ian beugt sich in meine Richtung. Eine seiner knallroten Haarsträhnen fällt ihm ins Gesicht, doch er streicht sie schnell wieder zurück.
„Wir steigen gleich aus“, erklärt Ian mir freundlich. Er lächelt mich breit an, ich erwidere diese Geste.
„Danke“, antworte ich ihm. Mit einer Berührung des Displays schalte ich die Musik aus, dann stecke ich das Smartphone samt Kopfhörern in den Rucksack auf meinem Schoß. Ich lege ihn mir um, als ich aufstehe. Die Frau neben mir dreht sich und somit auch ihre Beine zur Seite, sodass ich an ihr vorbei gehen kann. „Vielen Dank.“ Ian reicht mir die Hand, ich ergreife sie und lasse mich von ihm stützen. Durch die Bewegungen des Busses ist es nicht so einfach, meine Balance zu halten.
Kaum mache ich einen Schritt in den Gang, hält der Bus plötzlich an. Ich stolpere in Ians Arme, er fängt mich auf und drückt mich leicht an sich. Mit der anderen Hand hält er sich an einer der Stangen fest, die überall im Bus für genau diese Zwecke angebracht wurden. Ich nehme einen angenehmen Duft an Ians Hoodie wahr. Ihn zu beschreiben fällt mir schwer, dennoch gefällt mir der Duft ausgesprochen gut.
„Alles cool?“, fragt Ian mich. Ich sehe zu ihm auf, direkt in seine grünen Augen. Killians Freund lächelt freundlich.
„Mir geht es gut, danke“, antworte ich ihm. Trotz seines Lächelns erkenne ich Traurigkeit in seinen Augen. Sie ist nicht deutlich zu erkennen, trotzdem ist sie sichtbar. Was es damit auf sich hat, kann ich wohl nur erahnen.
Ian dreht sich zu Killian. „Mann, deine Freundin ist verdammt süß. Wie oft sie eigentlich danke sagt.“
„Sie ist eben sehr nett“, antwortet Killian ihm, dann grinst er mich an.
Ich nehme Abstand von Ian und halte mich nun selbst an der Stange fest. Es vergeht keine weitere Minute, schon steigen wir aus und machen uns auf den Weg. Schon nach wenigen Schritten entdecke ich etwas, das mir gefällt. Am Ende einer Gasse befindet sich eine aufwändig gestaltete, bunte Treppe, die uns zu Bäumen führt. Sie sieht ausgesprochen hübsch aus. Ich erkenne viele Blüten und Blätter. Das Zusammenspiel aus Blau, Grün, Gelb und Orange gefällt mir ausgesprochen gut.
Eigentlich möchte ich nach Killians Hand greifen und neben ihm laufen, doch Marc legt seinen Arm um mich und zieht mich an seine Seite. „So, Kleines, jetzt bekommen wir auch mal die Möglichkeit zu plaudern.“ Ich drücke Marc vorsichtig von mir, bleibe jedoch in seiner Nähe.
„Worüber möchtest du denn sprechen?“
„Mich würde es interessieren, wie es dir in Amerika gefällt“, antwortet er. „Killian meinte, dass die Erdbeben dich erschrecken.“
„Das tun sie. Es ist ein sehr bedrückendes Gefühl, aber ich werde mich daran gewöhnen. Kalifornien wird nicht damit aufhören, nur weil ich mich fürchte.“
Marc lacht. „Ja, das stimmt. Wie gefällt’s dir sonst so? Jetzt bist du ja schon eine Weile hier.“
„Gut“, antworte ich knapp. Wir kommen gerade an den Treppen an und steigen sie hinauf. „Ich wünschte nur, dass ich mehr von der Stadt sehen könnte. Wir sind doch sehr im Alltag gefangen.“
„Wo wart ihr denn schon?“, erkundigt Marc sich interessiert.
„Wir waren in einigen Parks und am Strand. Gut, einkaufen waren wir auch, aber das gehört zum Alltag“, antworte ich ihm.
„Das war alles?“ Er dreht sich zu Killian um. „Du hast dir nicht mal die Zeit genommen, ein bisschen Sightseeing zu machen? Wie faul kann man eigentlich sein?“
„Das hat nichts mit Faulheit zu tun“, entgegnet Killian ihm. „Ilaria fühlt sich nicht wohl, wenn es zu laut oder zu voll ist. Sie will sich lieber die Natur ansehen und das machen wir heute oder nicht?“ Es ist nicht zu überhören, dass er verstimmt klingt.
„Mhm“, antwortet Marc, dann schnaubt er. „Wird sowieso Zeit, dass du mal wieder ein bisschen rauskommst. Du verkriechst dich schon viel zu lange in deiner Wohnung.“
„Ich bin mit meinem Leben zufrieden, danke, Marc.“
„Bittet streitet nicht“, bitte ich ruhig.
„Einfach ignorieren“, wirft nun auch Ian ein. „Das legt sich schnell wieder, wenn man die beiden nicht beachtet.“
Wir kommen oben an der Treppe an und ich sehe mich sofort interessiert um. Hier gefällt es mir. Es ist ruhig und vergleichsweise grün. Killian öffnet eine Flasche und trinkt einige Schlucke. Er reicht sie mir, doch ich lehne mit einer Handgeste ab. Nach einem Schulterzucken trinkt er noch einmal. Interessiert betrachte ich das bunte Mosaik an der Wand und den Sitzgelegenheiten. Die bunten Farben und die Muster faszinieren mich. Vorsichtig streiche ich über eines der grünen Blätter in dem Mosaik. Die Menschen haben sich wirklich Mühe gegeben, diesen Ort zu etwas Besonderem zu machen.
„Gehen wir weiter?“, fragt Ian, worauf ich nicke.
Er geht zusammen mit Killian vor. Marc und ich spazieren hinter ihnen her. In der Ferne kann ich das Meer erkennen. Schon der Anblick dieses winzigen Fleckchens stimmt mich zufrieden. Zu wissen, dass das Meer in der Nähe ist, weckt allerdings auch andere Gefühle in mir. Einerseits fühlt es sich nach Zuhause an. Anderseits kann es eine Qual für mich sein, wenn es zum Greifen nahe ist, ich es aber nicht erreichen kann. Ich muss heute sehr vorsichtig sein.
Die ersten Minuten des Weges sind ruhig und idyllisch. Wir spazieren zwischen Bäumen und gerade, als ich mich in der Illusion der Natur verliere, kommen wir zu meinem Bedauern wieder an die Straße. Die Enttäuschung darüber, dass wir nun an der befahrenen Straße entlang gehen, verschwindet schnell, als ich erneut einen genaueren Blick auf das Meer werfen kann. Killian hatte Recht. Es gefällt mir hier. Und das obwohl wir noch lange nicht am Ziel sind.
„Du siehst das Meer so an wie ich eine Pizza“, meint Marc amüsiert.
„Ich liebe das Meer“, antworte ich ihm. Ich bleibe für einen Moment stehen und sehe Richtung Ozean. Dass das Meer nach mir ruft, wird immer deutlicher. Nicht nur mein Körper, sondern auch meine Seele sehnt sich danach. Es ist schwer, wenn nicht sogar unmöglich, meine Instinkte zu ignorieren.
„Das ist nicht zu übersehen. Komm, lass uns weitergehen, sonst hauen uns die beiden noch ab. Wenn wir am Strand angekommen sind, kannst du hunderte Fotos machen.“
Ich wende meinen Blick vom Ozean zu Marc, dieser deutet wiederum zu Killian und Ian, die einige Meter vor uns auf uns beide warten. Nach einem kurzen Seitenblick zurück zum Pazifik, gehe ich weiter. Marc folgt mir.
„Hast du gestern dieses grüne Schimmern gesehen? War ziemlich abgefahren, oder?“, fragt Marc, um an unser Gespräch anzuknüpfen.
„Ja“, antworte ich ihm. „Ich war im Park und habe gelesen. Die Veränderung ist mir überhaupt nicht aufgefallen. Erst als ich nach Hause gehen wollte, habe ich es bemerkt. Der Himmel muss sich schleichend gewandelt haben.“
„Im Internet hab' ich Zeitrafferaufnahmen gesehen. Das Ganze hat in realer Zeit ungefähr zwei Stunden gedauert. Aber schon krass, dass man immer noch nicht einschätzen kann, was das war.“
„Hast du eine Idee, was passiert sein könnte?“, frage ich interessiert nach.
„Ich dachte erst, dass das Licht seltsam gebrochen wurde, aber das Schimmern war auf der ganzen Welt zur gleichen Zeit zu sehen, also auch nachts.“ Marc zuckt mit den Schultern. „Vielleicht irgendwelche radioaktiven Strahlungen? Das würde erklären, wieso uns niemand Bescheid sagt. Die Menschheit soll nicht in Panik geraten. Aber wenn es so wäre, würden wir bald unsere Haare verlieren.“
„Unsere Haare verlieren?“, frage ich irritiert nach.
„Ja, du weißt schon, durch die Strahlen. Wie bei Krebs.“
Was ein Krebs damit zu tun haben soll, ist mir vollkommen schleierhaft. Haben die Menschen Krebse, die bekannt dafür sind, Haare auszureißen oder abzuschneiden? Gerade, als ich den Gedanken abschütteln möchte, erinnere ich mich an Killians Worte. Es ist eine Krankheit. Seine Mum hatte Krebs und sie ist daran gestorben. Ich schlucke hart.
„Oh, natürlich“, antworte ich so gelassen wie möglich. Ich möchte mir keine Gedanken um eine tödliche Krankheit machen, also versuche ich, das Gespräch umzulenken. „Hast du das grüne Schimmern auch gesehen?“
„Ja, ich war einkaufen, komm aus dem Laden und sehe das grüne Schimmern am Parkplatz. Das Chaos auf der Straße war nicht lustig. Ich war kurz davor, meinen Wagen einfach stehen zu lassen und die paar Meilen zu Fuß zu gehen.“
„Hättest du es sehr weit gehabt?“, hake ich nach.
Marc macht eine vage Handbewegung. „Nein, aber ich hatte viel zu tragen.“
„Ich verstehe.“
Unser Gespräch schläft ein, aber das macht mir nichts aus, immerhin zieht das Meer meine Aufmerksamkeit immer wieder auf sich. Mich auf ein Gespräch zu konzentrieren, fällt mir immer schwerer. Je länger wir unterwegs sind, desto deutlicher spüre ich die Nervosität in mir aufkeimen. Sie wächst und wird immer größer. So groß, dass auch Killian sie zu spüren scheint. Er nimmt meine Hand und küsst meine Schläfe, sagt jedoch nichts zu mir. Wahrscheinlich ist es auch besser so. Meine Erklärung, wieso ich so aufgewühlt bin, würde auch an die Ohren der anderen Menschen dringen.
Der Weg unter unseren Füßen ist erst aus Stein, doch irgendwann gehen wir auf Erde weiter. Eigentlich bin ich ganz froh, dass wir die Stadt heute hinter uns lassen, anderseits bin ich etwas enttäuscht von der Umgebung. Ich habe schon einige Wälder in meiner Welt besucht, doch die wenigsten Wälder sind so trostlos wie die der Menschenwelt. Zwischen all dem Grün befinden sich auch viele braune, vertrocknete und traurig wirkende Bäume und Pflanzen. Obwohl ich mich zu gerne auf die positiven Aspekte unserer Wanderung konzentrieren würde, zerrt der Ruf des Meeres immer wieder an meinen Nerven. Um mich nicht zu verraten oder einen schlechten Eindruck auf Killians Freunde zu machen, schweige ich den größten Teil unseres Weges.
Nach einem langen Marsch steigen wir endlich die letzten Treppen hinab. Wenn ich nicht gewusst hätte, was mich erwartet, wäre ich jetzt wahrscheinlich noch enttäuschter. Mit den einladenden weißen Sandstränden meiner Heimat hat dieser hier nichts gemein. Durch die vielen Steine wirkt die Atmosphäre hart und so kalt wie das Wasser selbst. Der Strand wirkt trostlos und fast traurig, dennoch liegt das Meer direkt vor meinen Augen. Wie in dem Video, das Killian mir zur Vorbereitung gezeigt hat, gibt es hier statt einem Sandstrand beinahe nur Steine. Vielleicht hatte er recht damit, dass es gefährlich ist. Obwohl mir Killians Einwand immer deutlicher wird, würde ich mich im Moment nicht daran stören, mich in Gefahr zu begeben, sollte das bedeuten auch nur eine einzige Minute das Wasser spüren zu dürfen. Die Felsen brechen die Wellen, die so erbarmungslos nach meiner Seele rufen. Wie hypnotisiert starre ich auf das Meer hinaus. Der Wind streicht durch meine Haare. Ich könnte schwören, dass er meinen Namen flüstert.
Als plötzlich jemand an meiner Schulter rüttelt, sehe ich irritiert zu ihm. In Killians Augen liegt große Sorge. „Hast du mich nicht gehört?“
„Hm? Nein, entschuldige, was wolltest du?“
Killian streift mir den Rucksack von den Schultern. Er legt ihn zu seinen Freunden, die gegenüber voneinander auf umgefallenen Bäumen Platz genommen haben. „Wir kommen gleich wieder.“ Nach dieser kurzen Erklärung legt er seine Hand an meinen unteren Rücken. Er führt mich weg von seinen Freunden. „Bist du wütend auf mich?“
Überrascht sehe ich Killian an. „Wütend? Wieso sollte ich wütend sein?“
Er macht eine ausladende Handgeste Richtung Meer. „Du hast fast den gesamten Weg nichts gesagt und jetzt starrst du auf das Meer und bist kaum ansprechbar. Irgendetwas stimmt doch nicht.“
„Es liegt nicht daran, dass ich wütend bin“, antworte ich, wobei ich leicht den Kopf schüttle. „Es ist schwer für mich, einen klaren Gedanken zu fassen, wenn das Meer zum Greifen nah ist.“
„Kannst du mir genauer erklären, was los ist?“, hakt Killian nach.
„Ich muss ins Wasser. Es ist nicht auszuhalten. Ich brauche es.“
Killian nickt leicht, als er sich umsieht. Wir sind nicht die einzigen hier, genau wie erwartet. Er zieht die Brauen zusammen, als er mich wieder ansieht. „Das geht nicht und das weißt du ganz genau. Du wusstest das schon, bevor wir losgegangen sind.“
„Ich weiß“, antworte ich ihm verunsichert. Ich lege meine Hände in mein Gesicht und schließe meine Augen. Als ich mich etwas nach vorne beuge, fallen mir meine Haare ins Gesicht.
Killian packt mich am Arm und zieht mich zu sich. „Fang jetzt bitte nicht an zu weinen.“ Er nimmt mich zwar nicht in den Arm, aber er nimmt meine Hände aus meinem Gesicht und richtet meinen Blick durch einen Griff an mein Kinn auf sich. „Ich habe dir von Anfang angesagt, dass du hier nicht schwimmen kannst. Wenn du wusstest, dass es dir am Strand schlecht geht, weil du nicht ins Wasser kannst, wieso hast du nichts gesagt?“
„Ich dachte, dass es reicht, wenn ich vorher ein langes Bad nehme“, antworte ich deprimiert. Ich versuche, seinen Blick zu meiden, doch Killian hält nicht nur meinen Arm fest, er lässt auch mein Kinn nicht los und erzwingt somit unseren Augenkontakt.
„Möchtest du wieder nach Hause gehen?“
„Ich kann nur noch an das Wasser denken“, erkläre ich kleinlaut.
Der Mensch lässt von meinem Kinn ab und seufzt. „Dann lass uns gehen.“ Er zuckt mit den Schultern. „Uns bleibt ja nichts Anderes übrig. Der Ausflug sollte Spaß machen, aber so funktioniert das weder für dich, noch für mich. Das ist doch scheiße.“
„Ich will nicht, dass du wütend auf mich bist, Killian.“ Verunsichert lege ich meine Hand an seine Brust. „Bitte.“
„Klar, jetzt erinnere ich mich wieder. Im Bus nach Montara warst du auch schon so aufgewühlt. Ich Idiot hätte daran denken können, aber wieso hast du nichts gesagt? Du hast doch bestimmt nicht vergessen, dass dich die Nähe zum Wasser so fertig macht. Wenn du etwas gesagt hättest, dann wären wir heute nicht hier her gekommen.“
Ich schlucke hart und senke meinen Blick. „Vielleicht habe ich gehofft, dass du es dir anders überlegst und ich doch schwimmen darf.“
Killian brummt verstimmt. „Ist das dein Ernst? Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass es zu gefährlich ist. Ich habe dir das Video gezeigt und dir mehrmals erklärt, dass die Strömung stark ist, dass es hier viele Steine gibt und dass ich nicht wüsste, was ich tun soll, wenn du verletzt wirst. Ist das so schwer zu verstehen? Ich dachte, dass ich mich mehr als deutlich ausgedrückt habe.“
„Das hast du, aber ich habe gedacht, dass du deine Meinung doch noch änderst.“
„Das tue ich nicht. Und mein Mitleid hält sich gerade auch sehr in Grenzen.“ Killian nimmt mich an der Hand. Seine Berührung ist wieder sanfter. „Lass uns gehen.“
Da er wirklich sehr aufgebracht klingt, gebe ich keine weiteren Widerworte. Killian ist sonst ein sehr geduldiger Mensch, ich muss ihn also sehr wütend gemacht haben, wenn er so reagiert.
„Sorry Leute, wir müssen gehen“, erklärt Killian deutlich verstimmt.
„Was? Wieso das denn?“, fragt Ian nach. „Wir sind noch keine zehn Minuten hier.“
„Ilaria fühlt sich nicht gut und es wäre das Beste, wenn sie sich ausruht.“
Killian lässt meine Hand los. Er will gerade meinen Rucksack hochheben, doch Marc hält ihn fest. „Sie hat irgendwas eingeworfen, richtig?“
Dass Killian von dieser Frage geschockt ist, ist schwer zu übersehen. Er lässt den Rucksack los und räuspert sich. „Nein, das hat sie nicht.“
„Komm schon. Sie ist still, sie ist nervös und vollkommen abgelenkt. Letztens war sie ganz anders. Und dass sie ständig krank ist, kann ich mir schwer vorstellen, außer es ist etwas Ernstes. Versuch gar nicht erst, uns zu verarschen.“
Ich weiß zwar nicht genau, was das alles bedeutet, doch ich fühle mich unwohl, als ich Ians Blicke auf mir spüre. Nervös verschränke ich die Arme vor meinem Brustkorb. Wenn ich Killian gesagt hätte, dass es mir am Strand schlecht gehen wird, dann würden sie jetzt nicht miteinander streiten.
„Ich will dir keine Vorschriften machen, Killian“, meint Marc neutral. Er lässt meinen Rucksack sinken, ehe er weiterspricht. „Aber ich halte es für eine Scheißidee, dass du wieder diesen Weg einschlägst.“
Killian schnaubt genervt. Nun verschränkt auch er seine Arme vor seiner Brust. „Marc, komm schon. Für wie blöd hältst du mich?“
„Nein, ohne Scheiß jetzt. Nicht nur du hast Scheiße durchgemacht. Ich habe mir den Arsch aufgerissen, um dir da raus zu helfen“, spricht Marc aufgebracht. Seine weiteren Worte spricht er wieder sanfter: „Du schuldest es mir, zumindest ehrlich zu mir zu sein.“
Da mir die Aggressivität der Menschen zu viel wird, mache ich vorsichtshalber zwei Schritte rückwärts. Die Worte ergeben für mich kaum einen Sinn. Dass mein Kopf nicht ganz bei der Sache ist, macht es nicht leichter, zu verstehen, was vor sich geht. Ratlos sehe ich erst Marc und dann Ian in die Augen, ehe ich wieder Killian ansehe, der mit dem Rücken zu mir gewandt vor mir steht.
Nun ist Killian wirklich wütend, seine Stimme ist noch lauter als sonst, als er antwortet: „Marc, hör auf. Sie hat nichts eingeworfen und ich fasse das Zeug nicht mehr an. Hältst du mich wirklich für so dumm?“
Marc hebt seine Arme, um seine Ratlosigkeit auszudrücken. „Was weiß ich? Süchtige haben ständig Rückfälle. Ich will dir auch nicht ans Bein pissen, Killian. Ich mache mir Sorgen.“ Er deutet mit dem Kopf zu mir. „Sie ist zwar ein süßes Ding, aber wenn sie dich wieder in die Scheiße zieht, ist es das nicht wert.“
Killian stellt sich schützend vor mich, sodass ich Marc nun noch kaum sehen kann. „Du weißt nicht, wovon du redest und an deiner Stelle wäre ich sehr vorsichtig, was ich über Ilaria sage. Sie hat nichts mit Drogen zu tun und sie zieht mich nicht zurück in die Abhängigkeit.“
Als Marc aufsteht, steht auch Ian eilig auf. Er streckt seine Arme aus, um Distanz zwischen Marc und Killian zu schaffen. „Leute, Leute, Leute. Jungs, chillt, okay? Wir setzen uns jetzt alle hin, hören auf mit den Anschuldigungen und Ilaria erklärt uns, was mit ihr nicht stimmt.“ Er steigt über den umgefallenen Baum, auf dem er eben noch gesessen hat und legt seine Hand an meinen Oberarm. „Wenn gerade deine anxiety kickt oder du einen miesen Tag hast, ist das nichts, wofür du dich schämen musst. Wir haben alle mal einen scheiß Tag.“
Verwirrt und auch ein wenig verängstigt sehe ich zu Ian. Ich fasse meinen Mut zusammen, um wieder sprechen zu können: „Es tut mir leid, ich wollte nicht, dass ihr jetzt streitet. Das lag nicht in meiner Absicht.“
Marc setzt sich. Er atmet tief durch. Mit der flachen Hand klopft er zweimal neben sich, was Killian dazu bringt, sich neben ihn zu setzen.
Die Stimmung wird zwar wieder etwas lockerer, dennoch fühlt sie sich nach wie vor gefährlich an. In meinem Brustkorb und an meinem Hals kann ich deutlich spüren, dass mein Herzschlag beschleunigt ist. Die Umstände sorgen dafür, dass unsere heutige Reise ans Meer alles andere als angenehm ist.
Killian räuspert sich, ehe er spricht: „Ich schwöre es euch, sie hat nichts mit Drogen zu tun. Sie versteht wahrscheinlich nicht einmal, was gerade los ist.“
Marc schnaubt. „Dein Ernst? Tipp ein paar Sätze in Google Translate, damit wir das klären können.“
„Nein, das ist es nicht“, antwortet Killian. „Das hat nichts mit einer Sprachbarriere zu tun.“
Ian legt einen Arm um mich, wir setzen uns, ehe er spricht: „Was auch immer es ist, wir sind erwachsen und wir können damit umgehen.“ Er drückt meine Schulter. „Es gibt keinen Grund, dass wir uns jetzt die Köpfe einschlagen.“
Marc atmet durch. Er streicht durch seinen Bart. Er sieht mich eindringlich an. „Gut, wenn du nicht drauf bist, was ist es dann?“
„Ich, ähm …“
Killian übernimmt meine Antwort: „Sie fühlt sich nicht gut und würde gerne nach Hause gehen, das ist alles.“
Marc mustert mich ausgiebig. „Das ist nicht alles.“
„Ihr würdet es ohnehin nicht glauben“, meint Killian geschlagen.
Ian grinst. „Nach den verrückten Dingen, die aktuell auf der Welt abgehen, bin ich mir gar nicht so sicher.“
Fragend blicke ich zu Killian. Seine Worte verunsichern mich. Ich weiß nicht, was er von mir möchte. Eine weitere Notlüge? Soll ich mir eine Geschichte ausdenken? Was für eine Art Geschichte soll das sein? Was ist glaubhaft genug, dass Ian und Marc sich damit zufrieden geben? Vollkommen überfordert senke ich meinen Blick.
„Wenn ich es euch sage, kann ich es nicht mehr zurücknehmen“, erklärt Killian neutral. „Vielleicht bekommt ihr dadurch früher oder später ein großes Problem.“
Marc lacht. „Okay, das klingt, als würdest du jetzt mit einer Verschwörungstheorie ankommen.“
Ian gestikuliert in Killians Richtung. „Wenn du jetzt wie mein Bruder mit Echsenmenschen anfängst, die an dem grünen Schimmern und an den Erdbeben schuld sind, dann trete ich dir in den Arsch“, wirft er dabei amüsiert ein. „Spuck’s endlich aus, Großer.“
Ich hebe meinen Blick und sehe Killian an. Er erwidert meinen Blick und nickt leicht. Aus Angst, etwas Falsches zu sagen, zögere ich einen ausgedehnten Moment, ehe ich doch meine Lippen öffne und spreche.
„Die Wahrheit ist, dass mir die Nähe zum Meer stark zusetzt, weil ich spüre, dass es nach mir ruft. Ich stamme nicht aus eurer Welt. Meine Heimat ist der Flüsternde Ozean. Ich bin eine Meerjungfrau und bin unbeabsichtigt in eurer Welt gelandet.“