„Goldener Oktober, huh?“, murmele ich und blicke missmutig aus dem Fenster. Warum müssen sich meine Geschwister nur immer so etwas wünschen? Sie wissen genau, wie schwer es ist, genau solche Wünsche zu erfüllen! Aber gut. Für meine kleinen Geschwister würde ichnunmal einfach alles tun, und dass wissen sie auch. Ich setze mich auf den Teppich auf meinem Zimmerboden und lege meine Hände mit den Handflächen nach oben auf meine Oberschenkel. So, habe ich für mich herausgefunden, kann ich am besten Welten kreieren. Dabei achte ich besonders auf Details, als ich das Szenario zu beschreiben beginne. Und schon bald scheint in meinem Kopf die goldene Sonne durch die in gelb- und orangetönen gefärbten Blätter an den großen Bäumen, was Licht- und Schattenspiele auf dem Boden verursacht. Außerdem möchte ich einen See haben. Einen großen, spiegelglatten, in dem sich der Himmel und die Birken am Rand spiegeln. Ihre goldenen Blätter rascheln ein wenig, als der Wind ganz leicht und sanft durch sie hindurchstreift. Eine angenehme Brise, nicht zu warm und nicht zu kalt. Dann lasse ich meine Gedanken zu dem wandern, was Juan und Lino wohl gerne machen würden. Denn schöne Natur und alles ist zwar nett, aber für zwei zwölfjährige Jungs nach einiger Zeit nicht unbedingt weiter erstrebenswert. Ich weiß, dass sie sich einen Teil selbst hinzu imaginieren werden, und dass finde ich auch gut. Ich bin mehr oder weniger nur für das Grundgerüst dieser Welt zuständig. Dennoch, ich versuche zumindest, ihren Wünschen nachzukommen. Sie brauchen meine Fantasiewelten mindestens ebenso sehr wie ich, und diese Idee, die da gerade in meinem Kopf entsteht, brauche ich wahrscheinlich mindestens genauso sehr wie sie. Vielleicht sogar mehr. Denn sie ist mehr als nur eine Idee - sie ist eine Erinnerung. Und daher erschaffe ich eine Insel mit in der Sonne leicht golden angehauchtem Gras und einer mächtigen Eiche, deren Blätter leicht roten Spitzen haben. Goldene Lichtflecken auf dem Boden, auf dem eine blau-weiß-karierte Picknickdecke ausgebreitet ist. Ein Picknickkorb, mit all den Sachen, die meine Brüder am liebsten essen. Ich bin bereits total in meine Welt vertieft und als etwas nasses auf mein Schlüsselbein tropft, sehe ich zuerst verwirrt nach oben, in der Annahme, Regen zu entdecken, obwohl ich den eigentlich nicht gedacht habe. Doch da ist kein Wölkchen am Himmel, nur die Sonne, die ihre wärmenden Strahlen nach mir ausstreckt. Und da wird mir bewusst, dass es Tränen sind, die meine Wangen hinabfließen. Die Erinnerung tut noch immer viel zu sehr weh, als dass ich sie einfach so zulassen könnte. Ich kann meinen Vater beinahe über die Wiese laufen sehen, wie er erst Juan und dann Lino durch die Luft wirbelt. Und meine Mutter, die in ihrem grünen Sommerkleid am Rand steht und uns lächelnd beobachtet. Ich blinzele und meine Familie verschwindet. Seufzend wische ich mir über die Augen und schüttele den Kopf. Nein, das werde ich nicht imaginieren. Mein Vater ist tot, und er wird nicht wiederkommen. Ich habe ihm versprochen, dass ich niemals Menschen in eine meiner Welten imaginiere, egal ob lebendig oder tot. Das würde niemals dem kompletten Wesen der besagten Person entsprechen. Und wenn meine Mutter möchte, kann sie ja schließlich auch von selbst hierherkommen, nachdem sie von der Arbeit wieder zurück ist. Also lasse ich es und betrachte meine Welt noch einmal genau. Die Sonne scheint noch immer und lässt die Bäume golden erstrahlen. Immerhin das kann ich – niemand hindert mich daran, die Sonne so lange scheinen zu lassen, wie ich möchte. Mein Blick fällt auf die kleine Hortensie, die zu meinen Füßen gewachsen ist – wohl durch meine Tränen. Eine blaue Hortensie. Ich muss lächeln. Ja, die Lieblingsblume meines Vaters hat definitiv Platz in dieser Welt. Langsam ziehe ich mich wieder aus der Welt zurück und als ich die Augen öffne, kann ich noch immer den See und die Bäume um mich herum riechen. Sehen kann ich sie jedoch nur noch in der kleinen Glaskugel, die vor mir in der Luft schwebt. Sanft lege ich meine Hände darum und sie fügt sich perfekt in sie hinein. Das Glas ist genauso warm wie der goldene Sonnenschein, aus dem ich gerade gekommen bin. Noch immer lächelnd stehe ich auf und werfe einen Blick aus dem Fenster, jetzt allerdings kein bisschen missmutig mehr. Draußen ist es mittlerweile dunkel, in meiner Glaskugel leuchtet hingegen noch immer die goldene Oktobersonne an einem wunderschönen Nachmittag. Das ist definitiv goldener Oktober, was ich da geschaffen habe. „Juan! Lino!“, rufe ich durch das kleine Haus, in dem wir zu viert wohnen – meine Mutter, meine beiden kleinen Geschwister und ich. „Ich bin fertig!“
Die beiden kommen sofort angelaufen und ich halte ihnen die Glaskugel hin. Juan lächelt mich kurz dankbar an, dann legt er seinen Finger auf die Glaskugel. Ich schließe meine Augen, um nicht sehen zu müssen, wie er in die Kugel gezogen wird. Dabei kann einem schon mal schlecht werden. Lino umarmt mich kurz, aber fest, dann verschwindet auch er. Ich bin allein in dem schmalen Flur. Behutsam setze ich die Glaskugel auf dem Küchentisch ab, schreibe eine kurze Notiz an unsere Mutter – Goldener Oktober gefällig? – und folge den zwei. Ich weiß, sie werden es lieben.