Tanyas gesamter Körper kribbelte vor Aufregung, als sie gemeinsam mit all den anderen jungen Menschen durch das Tor mit den riesigen Torflügeln trat und sich bewundernd umsah. Sie war, im Gegensatz zu einigen anderen hier, nicht besonders reich geboren, auch wenn ihre Familie nicht gerade zur ärmsten Schicht zählte. Sie war wohl das typische Beispiel einer klassischen Bürgerin beziehungsweise eines klassischen Bürgers dieser Stadt. Dennoch war dieser Tag nicht nur für sie einer der wichtigsten ihres Lebens: Heute würden sie und noch jede Menge anderer Jugendliche in ihrem Alter ein Grimoire bekommen, der wichtigste Gegenstand im Leben einer Magierin oder eines Magiers. Nervös strich Tanya sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, nur um sie dann doch wieder nach vorn zu ziehen und ihr Kleid glatt zu streichen. Der dunkelblaue Stoff fiel locker bis zu ihren Knien und es war so leicht und elegant, dass es Tanya noch immer recht unwirklich vorkam, dass gerade sie ein solches Kleid tragen durfte. Was würde passieren, wenn sie nicht von einem Grimoire ausgewählt wurde? Das wäre eine Katastrophe, denn sie wusste, dass ihre Eltern hohe Erwartungen in sie setzten. Sie hatte in ihrer Kindheit so viel magisches Talent gezeigt, wie niemand anderes mehr in ihrer Familie es seit zweihundert Jahren getan hatte, auch wenn dass nicht besonders viel hieß. Tanyas Familie war keine besonders starke magische Familie und Tanya war damit ungefähr so magiebegabt wie ein etwas durchschnittlich begabter Magier aus einer Familie mit hohen magischen Fähigkeiten. Ihren Traum hatte sie dennoch nicht aufgeben wollen und jetzt bekam sie schließlich ihr Grimoire, was alles noch mal verändern konnte und vielleicht-
Eine magieverstärkte Stimme durchbrach ihre Gedanken und Tanyas Blick schnellte zu dem Sprecher, einem alten Mann, der, auf einen kunstvoll geschnitzten Stab gestützt, vorne an einem Rednerpult stand. „Guten Abend“, sagte er mit einer Stimme, die absolut gelassen klang und Tanyas hektisch schlagendes Herz ein wenig beruhigen konnte. „Herzlich willkommen an all euch junge Leute, die heute Abend einen wichtigen Schritt in Richtung Erwachsenwerden machen, und natürlich an eure Eltern und alle anderen Begleiter. Sogar der Kaiser beehrt uns heute mit seiner Anwesenheit“, fügte er mit einem trockenen Kichern hinzu, das Tanya ihm niemals zugetraut hätte. Sofort erhob sich Getuschel in dem weitläufigen Raum, das sich schnell in dem Gewölbe über ihren Köpfen verlor, als der Mann die Hände hob. „Ja, der Kaiser. Ihr habt mich schon richtig gehört. Wo doch heute sein Töchterchen eine Entscheidung über ihr restliches Leben treffen muss.“ Er brach wieder in trockenes Kichern aus und ein blasses Mädchen neben Tanya zuckte zusammen, nur um daraufhin noch blasser zu werden. Tanya fragte sich, ob sie wohl die Tochter war, von der der Mann geredet hatte. Besonders glücklich oder kaiserlich schien sie nicht zu sein, Tanyas Meinung nach.
„Aber halten wir uns nicht länger mit nebensächlichen Dingen auf, sondern lasst uns zum eigentlichen Grund für unser Zusammentreffen kommen. Junge Magier, kommt nach vorn!“
Für einen Moment rührte sich nichts, dann strömte eine Menge junger Menschen nach vorn, der sich Tanya gemeinsam mit dem blassen Mädchen anschloss, während ihr schon wieder neue Schreckensszenarien durch den Kopf schwirrten. Jeder musste einen Wunsch äußern für sein zukünftiges Leben als volljähriger Magier, bevor er sein Grimoire erhielt. Wenn sie sich verhaspeln würde, wäre das absolut peinlich. Vielleicht würde sie auch vor der erwartungsvollen Menge stehen und gar kein Wort herausbekommen. Das wäre noch viel schlimmer und sie wollte schon allein bei der Vorstellung am liebsten im Erdboden versinken. Verdammt, warum gab es nur so viele Dinge, die schief gehen konnten? Tanya bekam kaum etwas von den ersten Wünschen mit und erst als der Junge neben ihr sprach – er wünschte sich ein gutes und sicheres Leben – drang die Realität wieder zu ihr durch. Sie war schon dran! Alle Augen starrten sie an und für einen schrecklichen Moment hatte Tanya das Gefühl, wirklich ihren Wunsch vergessen zu haben, doch dann entdeckte sie ihre Schwester in der Menge, die fest die Hand Papas Hand umklammert hielt und Mama, die Tanyas kleinen Bruder eng an ihre Brust drückte, und sie wusste es wieder. Tief atmete sie ein, bevor sie mit fester Stimme verkündete: „Ich möchte eine gute Heilmagierin werden, um meinem kleinen Bruder und all den anderen kranken Menschen auf dieser Welt zu helfen.“
Der alte Mann nickte ihr anerkennend zu und ein Teil der Anspannung viel von ihr ab. Beim Wunsch ihres Nachbarn runzelte er jedoch nachdenklich die Stirn: Ein Junge, der definitiv aus einer der reichsten Familien stammte und auch kein Problem damit zu haben schien, dies in die Welt heraus zu posaunen, wünschte sich, die Herrschaft als Kaiser eines Tages zu übernehmen. „Ein gefährlicher Wunsch“, sagte er leise, während sich wieder Getuschel im ganzen Raum ausbreitete. Der Junge zuckte mit den Schultern und der Mann wandte sich ab. „Nun denn, lasst uns beginnen. Ich bin mir sicher, es wird einige Überraschungen unter den diesjährigen Magiern geben.“ Der Mann kicherte schon wieder. Irgendwie fand Tanya ihn gruselig. Doch ihre Aufmerksamkeit wurde wie die aller anderen von ihm abgelenkt, als die Bücher durch die Luft glitten und sich ihre Besitzer suchten. Das Buch, welches in ihren Händen landete, war ein dickes, ledergebundenes Buch, das stark nach einem der Medizinbüchern aussah, die sie bereits studierte, seitdem ihr kleiner Bruder so krank war. Sie lächelte. Tanya konnte regelrecht spüren, dass ihr Traum gerade einen ganzen Schritt näher gerückt war.