Stimmen dringen von allen Seiten auf mich ein, doch ich nehme sie kaum wahr. Hinter meinen Augen brennen Tränen und all die Stimmen um mich herum überfordern mich. Sie alle wollen wissen, was mit mir los war, doch ich weiß es doch selbst nicht genau. Ich kann meinen Trainer sehen und obwohl er nur hundert Meter von mir entfernt steht, scheint er unerreichbar zu sein. Er drängelt sich ebenfalls in meine Richtung durch, doch auch ihm wird der Weg von Reportern aller Art versperrt. Eine blonde Journalistin hält mir ihr Mikrofon praktisch ins Gesicht und ihre durchdringende Stimme dringt bis zu mir durch, obwohl ich beinahe in einem tranceartigen Zustand bin: „Julia Meyer, von der Bild: Maeve, was sagen Sie zu Ihrer Leistung heute? Was war los mit Ihnen?“ Ich kann sie nur anstarren, kein Wort kommt über meine Lippen. Zu Ihrer Leistung, hallen ihre Worte in meinem Kopf wider, ohne dass ich die Bedeutung wirklich verstehe. Und dann, endlich, erreicht mich Thomas und rettet mich davor, die Frage beantworten zu müssen. Sein Arm liegt stark und sicher um meine Schultern, als er mich sanft, aber bestimmt von der Journalistin wegführt, während er ihr und all den anderen nichtssagende Antworten gibt. Doch ich kann seine Anspannung und seine Verärgerung spüren, ebenso wie seine Sorge um mich. Eine seltsame Mischung.
Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, bis wir den für die Tänzer reservierten Raum erreichen und uns endlich Stille umgibt, die beinahe durchdringender zu sein scheint als das Geschrei draußen. Außer uns ist niemand hier: Ich war die Erste und alle anderen bereiten sich noch auf ihren eigenen Auftritt vor. Thomas setzt mich auf einen Stuhl und kniet sich vor mich. „Was war da oben los mit dir, Maeve? Das war eine absolute Blamage!“, verlangt er zu wissen und seine Worte lassen den Damm brechen, der bis dahin die Tränen zurückgehalten hat. „Ich weiß es nicht“, schluchze ich und versuche vergeblich, mir die Wangen mit dem Ärmel meines Trikots zu trocknen. Thomas reicht mir wortlos ein Taschentuch, welches ich dankbar annehme. „Es war, als ob, ich weiß nicht, als ob mein Körper plötzlich nicht mehr mir gehören würde. Meine Beine waren weich und ich hatte das Gefühl, sie würden jeden Moment unter mir einknicken, was sie dann ja auch getan haben…“ In meiner Hektik, dass alles erklären zu wollen, verhaspele ich mich mehrmals, doch schließlich bin ich fertig mit meiner Erklärung und Thomas sieht mich nachdenklich an. „Das ist ja das Seltsame“, murmelt er. „Das was du erzählt hast, das kenne ich eigentlich nur von Leuten, die zum ersten Mal auf der Bühne stehen und von Nervosität überwältigt werden. Aber du bist seit Anfang der Saison absolut von Nervosität verschont geblieben, zumindest äußerlich. Vielleicht hast du dich überanstrengt in der letzten Zeit, gemischt mit zu wenig Schlaf. Ich habe es dir doch gesagt, mach dir nicht so viel Stress beim Training, Pausen sind wichtig.“ Beschämt sehe ich auf den Boden. Ja, ich habe wahrscheinlich zu viel trainiert, einfach aus dem Gefühl heraus, nicht gut genug zu sein. Ich darf die Leute nicht enttäuschen, ich bin eine aufstrebende Balletttänzerin und die Menge ist ein wichtiger Bestandteil für meine zukünftige Karriere. Wenn ich sie enttäusche, kann ich sie eigentlich vergessen, denn ohne Zuschauer sind meine Auftritte nichts wert. „Es tut mir leid, Thomas“, flüstere ich. „Ich bin wahrscheinlich einfach nicht gut genug, ich sollte dem Druck standhalten können.“ Thomas schüttelt den Kopf. „Hör auf mit den Selbstvorwürfen, die bringen uns nicht weiter.“ Gedämpfter Applaus dringt zu uns durch und ich spüre schon wieder neue Tränen aufsteigen. Mühsam schlucke ich sie hinunter. „Seien wir froh, dass dir nichts passiert ist, wenn du dich verletzt hättest, hätten wir ein viel größeres Problem gehabt. Ich sage das nächste Turnier ab, es ist nicht wichtig. Stattdessen konzentrieren wir uns auf die Landesmeisterschaften.“ Ich bringe nur ein Nicken zustande, mehr schaffe ich nicht. Er lächelt mich an und steht auf. „Mach dir nicht zu viele Sorgen, Maeve. Das kann jedem Mal passieren, ein schlechtes Turnier ist nicht der Weltuntergang.“
Ich ergreife die Hand, die er mir hinhält, um mich hochzuziehen. Der Junge, der nach mir seinen Auftritt hatte, kommt durch die Tür hinein, begleitet von seiner Trainerin und scheinbar absolut glücklich. Ich wende mich ab. Was ich jetzt brauche ist Aufmunterung von meiner besten Freundin Lara. „Kann ich zu Lara, Thomas?“, frage ich und er nickt mir zu. „Klar. Wir reden später über die neuen Trainingseinheiten. Und über das heimliche Training“, fügt er ernst hinzu. Ich nicke, schon wieder, streife meine Trainingsjacke über mein Ballett-Trikot und verschwinde durch die Hintertür nach draußen, um nicht wieder an all den Leuten vorbei gehen zu müssen. Ohne stehen zu bleiben wähle ich Laras Nummer und sie geht beinahe sofort dran. „Wo bist du?“, frage ich ohne Umschweife. „Ich bin wirklich fertig. Kann ich zu dir kommen?“
„Sicher. Ich warte schon beim Auto, soll ich dich abholen?“ Allein die Stimme meiner besten Freundin zu hören hat schon eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich schließe die Augen und atme tief durch, bevor ich antworte: „Nein, ich komm zu dir. Danke, Lara.“
„Das ist selbstverständlich, Süße. Was hältst du von Eis und Keksen? Bei einem Film?“
„Klingt himmlisch. Gib mir fünf Minuten, dann bin ich da.“ Ich lege auf und gehe noch ein bisschen schneller als zuvor. Ich kann Laras kleines gelbes Auto schon sehen.
Laras Fürsorge ist genau das, was ich brauche, das merke ich, kaum dass wir bei ihr zu Hause angekommen sind. Das Eis ist perfekt, auch wenn Thomas mich umbringen würde, wüsste er, dass ich hier gerade absolut auf meinen Ernährungsplan pfeife, und Lara fragt mich kein bisschen über das aus, was da auf der Bühne losgewesen war. Mein Kopf liegt auf ihrer Schulter und ich spüre, wie die Müdigkeit in mir hochkommt. Ich habe wirklich viel zu wenig geschlafen in der letzten Zeit, da hat Thomas recht. Wahrscheinlich habe ich auch mit dem Training übertrieben, das ist schon immer meine Schwäche gewesen: Ich habe Angst, nicht gut genug zu sein. Andererseits weiß ich, dass ich gewinnen kann, wenn ich mich nur genug anstrenge. Vielleicht ist es doch sinnvoll, das nächste Turnier abzusagen und dafür all meine Energie in das Training für die Landesmeisterschaft zu stecken. Wie Lara eine Decke über mich breitet, bekomme ich nur noch halb mit. Dann schlafe ich ein, mit den Gedanken noch immer bei der Landesmeisterschaft.