Die Angst hat mich fest im Griff, als ich die ausgetretenen Stufen des alten, großen und ziemlich gruseligen Hauses erklimme. Es gibt wirklich Momente in meinem Leben, da hasse ich meine Freunde sehr – und das hier ist ganz klar einer dieser Momente. Wie kann man es nur für spaßig halten, mitten in der Nacht und im tiefsten Winter bei minus zwei Grad, in ein leerstehendes Gebäude einzudringen, in dem es spuken soll? Wo genau ist der Spaß an der Sache? Wenn ihn jemand findet, bitte sagt es mir; denn ich finde ihn weit und breit nirgendwo, egal wie gründlich ich ihn suche.
Trotz der Kälte steht mir der Schweiß auf der Stirn und ich habe das dringende Bedürfnis, mich umzudrehen und zu verschwinden. Wobei ich mir gerade nicht einmal sicher bin, ob meine butterweichen Knie nicht einfach zusammenbrechen würden, würde ich es versuchen. Vielleicht kann ich aus Nervosität wenigstens in die nächste Ecke kotzen? Ich kann es auch mit dem Geruch begründen, der uns aus dem Gebäude entgegenschlägt, denn der ist echt nicht schön: eine Mischung aus Urin, starkem Alkohol, Kotze und, das Schlimmste von allem, ein leicht süßlicher Geruch, der über all dem liegt und sich direkt in mir festzusetzen scheint, auch wenn ich ihn nicht einordnen kann. Auf Wiederholungsgefahr: Wo ist der Spaß?
Zitternd folge ich Jan durch die zersplitterte Glastür und einer der Glassplitter bleibt in meiner Jacke stecken. Vorsichtig und leise fluchend ziehe ich ihn wieder heraus und trete ein paar Schritte weiter ins Innere. Hier drinnen dringt mir der süßliche Geruch noch stärker in die Nase als draußen und ich versuche möglichst flach zu atmen, doch das bringt nichts. Der jetzige Grund, warum ich würgen muss, ist tatsächlich fast ausschließlich in dem Geruch begründet. „Jan“, sage ich leise, während hinter mir Cal durch die zerborstene Glastür klettert. Als mein Freund nicht reagiert, wiederhole ich seinen Namen etwas lauter und er dreht sich mit glitzernden Augen zu mir um. Ich schaudere. Für ihn scheint das wirklich ein supertolles Abenteuer zu sein, während ich mir am liebsten in die Hose machen würde. Na wunderbar. Dennoch probiere ich es: „Glaubst du wirklich, dass das hier eine gute Idee ist? Ich meine, es ist drei Uhr morgens, wir haben alle etwas getrunken und das, was wir hier machen, ist sicherlich Hausfriedensbruch oder sowas. Was wenn einem von uns etwas passiert?“
„Ach was“, zerschmettert er jedoch meine Hoffnung, vielleicht in einer Stunde wieder in meinem Bett zu liegen, mit nur zwei Worten. „Dieses Haus steht schon seit Ewigkeiten leer, da stört es überhaupt niemanden, dass wir hier sind. Was soll denn schon passieren? Hier ist niemand, ganz sicher.“ Mir fallen auf Anhieb ganz schön viele Dinge ein, die passieren könnte, angefangen bei einem verstauchten Knöchel und aufgehört bei einem blutendem und sehr totem Ich, weil es doch Geister in diesem Haus gibt und die eben ganz und gar nicht erfreut darüber sind, dass wir ihre Ruhe gestört haben, aber ich weiß ganz genau, dass Jan mich auslachen wird, wenn ich ihm das sage, also halte ich lieber gleich meine Klappe. Stattdessen grabe ich meine Fingernägel in meine Handflächen und sage mir selber immer wieder, dass es keine Geister gibt. Hilft allerdings nicht, denn ich habe immer noch das Gefühl, dass meine Beine aus Angst gleich unter mir nachgeben. Zugegeben, ich bin ein Angsthase. Ich mag es eben lieber, sicher und gemütlich einen Filmabend zu machen, statt sich mitten in der Nacht in verlassenen Häusern herumzurennen. Meine Freunde aber natürlich nicht.
Seufzend folge ich Jan weiter in das Haus hinein und gehe mein neues Mantra immer wieder im Kopf durch. Ich konzentriere mich so sehr darauf, dass ich fast gegen Jan laufe, als dieser abrupt stehen bleibt. Cal läuft seinerseits in mich hinein und ich gebe einen überraschten Laut von mir.
„Schaut mal, Leute“, flüstert Jan und ängstlich spähe ich über seine Schulter in die Dunkelheit. In die leere Dunkelheit, wenn man von einer Wand mal absieht. „Was denn?“, flüstere ich zurück und sehe ihn an. „Da ist nichts.“
Verwirrt sieht Jan mich an. „Doch, klar. Siehst du die Figuren da nicht?“ Angestrengt starre ich die Wand an, doch ich sehe da keine Figuren. „nein“, sage ich langsam und drehe mich zu Cal um. „Siehst du da was?“ Doch auch Cal schüttelt bloß den Kopf, bevor er murmelt: „Willst du uns verarschen, oder was?“
„Euer Ernst, Leute? Ich will euch nicht verarschen. Seht ihr die Figuren wirklich nicht? Jemand hat sie an die Wand gesprayt oder so, sie sehen ein bisschen so aus wie Slender Man, also von der Form her.“ Doch Cal und ich schütteln bloß die Köpfe, während mir ein kalter Schauer über den Rücken läuft. „Ich seh da rein gar nicht, ist halt eine Wand, wenn auch eine sehr dreckige“, verkündet Cal und ich kann ihm nur zustimmen.
„Seltsam.“ Jan streicht über die Wand und es sieht wirklich so aus, als würde er die Form eines sehr langen, dünnen Menschen nachziehen. Gruselig. Als er die Stelle erreicht, an der wohl die Hände sein müssten, zuckt er plötzlich zurück und sieht erschrocken auf seine Finger – aus denen Blut auf den Boden tropft. „Was zum-“ Erschrocken sieht er uns an. „Da war ein Messer an die Wand gezeichnet und es hat mich geschnitten. Das tut weh, verdammt.“
Hier stimmt etwas nicht, ich kann es mit einem Mal ganz deutlich spüren und ich kann sehen, dass auch Cal und Jan es fühlen. Ich drehe mich ganz automatisch zum dem Gang um, der von hier aus nach links abzweigt, ohne mir dieser Handlung wirklich bewusst zu sein. Jan hatte recht, als er sagte, hier ist niemand. Aber hier ist ganz sicher nicht Nichts. Da, ganz am Ende des Ganges, da ist irgendetwas, etwas, das ganz sicher nichts Gutes von uns will. „Lauft weg“, flüstere ich leise.
„Was?“ Ich drehe mich nicht zu Cal um. Ich glaube, etwas gesehen zu haben, eine Bewegung? Von einem Schatten? Einem Schatten mit Augen! Leuchtend orangen Augen. Adrenalin flutet durch meinen Körper. Ich drehe mich zu Cal um und schubse ihn in Richtung des Ausgangs. „Lauf!“ Dann sprinte ich selbst los, gefolgt von Cal und Jan. Das Wesen im Gang sieht uns hinterher.
Erst als ich die kühle Luft draußen einatme, bleibe ich stehen und werfe einen Blick zurück. Wir sind allein, noch immer, und ich bin mir sicher, dass es so bleiben wird. Dennoch laufen wir drei weiter zur Straße, denn zwischen uns herrscht eine stille Übereinkunft: Wir alle haben es gesehen und wir wollen es nicht noch einmal erleben, auch wenn wir wahrscheinlich nicht darüber reden werden, weil es uns viel zu abgedreht erscheint, um wirklich passiert zu sein.