Die weiße Schneedecke, die alles überzieht, glitzert im Sonnenlicht. Unberührt liegt sie da, denn bis hier hin verirrt sich nur selten jemand, und so sind die einzigen Spuren von ein paar Vögeln. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Genau diesen Frieden brauchte ich jetzt: Strahlend blauen Winterhimmel, Schnee und Ruhe. Besonders weil die Ruhe, die mich hier umgibt, eine ganz besondere ist. Ich weiß nicht weshalb, aber es ist die, die nur im Winter unter freiem Himmel herrscht. Winterstille, so habe ich sie für mich selbst genannt. Ich öffne meine Augen wieder und atme noch einmal tief durch, mein Atem bildet kleine Wölkchen als ich ausatme. Mittlerweile kriecht die Kälte unter meine Kleidung und meine Finger fühlen sich trotz der Handschuhe an wie Eiszapfen. Meine Nase sowieso. Aber jetzt gerade ist es mir egal. Ich hebe mein Gesicht in Richtung Himmel und genieße mit geschlossenen Augen die warmen Sonnenstrahlen. So stehe ich sicher zehn Minuten da, bis eine leise Stimme mich aus meinen Gedanken schreckt. Sie ist sanft und singt eine leise Melodie, die ich noch nie gehört habe, da bin ich mir sicher, und dennoch kommt sie mir vertraut vor. Ohne Worte erzählt sie von wunderschönen Winterlandschaften und ich kann das Reh beinahe vorbeispringen sehen, ebenso wie den weißen Falken, der am Himmel seine Kreise zieht. Doch kaum blinzele ich, sind beide verschwunden, nur der Gesang ist noch da. Verwirrt drehe ich mich einmal um mich selbst, bis ich die Sängerin entdecke. Sie steht mitten auf dem Schneefeld, keine fünfzig Meter von mir entfernt, und dennoch scheint sie mich nicht bemerkt zu haben. Es ist eine junge Frau, etwa so alt wie ich. Sie hat die Augen geschlossen und das Gesicht wie ich vorhin zum Himmel gedreht. Sie ist sehr blass, was durch ihre schwarzen Haare, die ihr in leichten Wellen über den Rücken fallen, noch stärker erscheint. Das schlichte, trägerlose und weiße Kleid sowie die Tatsache, dass sie barfuß ist, verstärken meinen Eindruck einer Eisprinzessin noch weiter. Irgendetwas zieht mich zu ihr hin, doch kaum setze ich den ersten Fuß in den Schnee, knirscht dieser und die junge Frau sieht erschrocken zu mir. Dabei hört sie natürlich mit singen auf. Ich hebe entschuldigend meine Hände, woraufhin sie zurückweicht. Sie scheint Angst vor mir zu haben, auch wenn ich nicht begreife, weshalb. Ich entschließe mich, sie anzusprechen, denn ich kann noch immer diese Magie in der Luft fühlen, die uns zu verbinden scheint. „Wer bist du?“, frage ich die erste Frage in meinem Kopf und meine Stimme klingt klar in der kalten Luft. Die junge Frau kommt nicht näher, doch sie läuft auch nicht weg. „Ich bin die Kälte.“, kommt ihre Stimme eben so klar zurück. Sie klingt angenehm, doch ich kann eine gewisse Kühle in ihr ausmachen, die sie distanziert klingen lässt. „Und du? Wer bist du?“
Ja, wer bin ich? Ihre Antwort lässt mich zögern, ihr meinen Namen zu sagen, während ein anderer, von ihrem Gesang noch immer verzauberter Teil, ihr sofort meine ganze Lebensgeschichte offenbaren will, sollte sie auch nur andeuten danach zu fragen. Letzterer Teil gewinnt die Diskussion in meinem Kopf. „Ich bin Magnus“, lautet meine wahrheitsgemäße Antwort. „Was meinst du mit du bist die Kälte?“
Sie lächelt und auch ihr Lächeln scheint kühl und ein wenig distanziert zu sein. Erstaunlich. „Genau das, was ich gesagt habe, Magnus. Ich bin die Kälte und mit meinem Vater, dem Winter, gekommen.“
Ich weiß nicht, ob ich sie ernst nehmen soll oder nicht. „Okay“, ist schließlich alles was ich sage. Sie lächelt wieder. „Keine Sorge, du wirst nach heute nicht mehr viel von mir hören. Nur wenige Menschen sehen mich überhaupt in dieser Form, aber zweimal sieht mich keiner.“
„Bist du denn kein Mensch?“, frage ich verwirrt. Ihr Lächeln wird noch breiter, ohne an Wärme zu gewinnen. „Nein“, sagt sie schlicht. „Ich bin die Kälte.“
Ich habe das Bedürfnis, mit den Fingern über meine Nasenwurzel zu reiben, eine Angewohnheit, die immer zum Vorschein kommt, wenn ich ein schwieriges Problem zu lösen habe oder einfach sehr angestrengt nachdenke. Das macht doch keinen Sinn.
„Denk nicht zu viel darüber nach, es wird dir sowieso nicht logisch erscheinen, egal wie viel du darüber nachdenkst. Ihr Menschen müsst lernen, Dinge einfach zu akzeptieren, auch wenn ihr sie nicht erklären könnt.“ Nachdenklich sieht sie mich an, dann nickt sie. „Ich bin sicher, du kannst das schaffen, Magnus.“ Und damit dreht sie sich um und geht, sie verschwindet schnell aus meinem Blickfeld, indem sie mit dem weißen Schnee zu verschmelzen scheint. Die Luft scheint noch ein wenig kälter zu werden und mit einem Mal weiß ich, dass die junge Frau die Wahrheit gesagt hat. Sie ist die Kälte, die mit ihrem Vater, dem Winter, gekommen ist und die gleiche Winterstille genossen hat wie ich. Ich lächele. Manchmal muss man Dinge einfach akzeptieren.