Triggerwarnung: Tod, Selbstmord
Er ging in der Gewissheit, nie mehr die Sonne zu sehen. Wenn man es genau nahm, dann ließ er allerdings mehr als die Sonne zurück; Freunde, Familie, alles was er besessen hatte. Er ließ sein Leben zurück, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber das wahr okay, schließlich hatten er und seine Eltern noch nie eine besonders enge Bindung zueinander besessen. Nur für seine beste Freundin tat es ihm leid; Lisa dachte schließlich noch immer, dass er lediglich nach New York umziehen würde, aus geschäftlichen Gründen. Lisa hatte gesagt, sie würden sich schon nicht aus den Augen verlieren, aber er hatte gewusst, dass seine Freundin ausnahmsweise einmal nicht recht behalten würde. Da, wo er hinging, dahin konnte ihm niemand folgen. Selbst Lisa nicht, obwohl sie sonst eigentlich alles erreichen konnte. Andererseits, vielleicht würde er Lisa irgendwann wiedersehen, unmöglich war das nicht. Wobei er natürlich hoffte, dass das noch in weiter Ferne liegen würde.
Stumm betrachtete er den schmalen Rücken des Jungen, der vor ihm her ging und ihn führte, und dachte an gestern zurück, wo er wirklich in New York gewesen war. Sein letzter und einziger Tag in der Millionenstadt, irgendwie ironisch. Aber hätte er länger gewartet, dann hätte er es vielleicht nicht mehr durchgezogen, entweder, weil er doch den Mut verlor, oder, weil sein Körper nicht mehr dazu in der Lage gewesen wäre. Nein, seine Entscheidung war die richtige gewesen, da war er sich ganz sicher. Er hatte lange genug darüber nachgedacht, seitdem er die Diagnose bekommen hatte, und seine Entscheidung war gefallen: Er wollte weder miterleben, wie sich der Krebs durch seine Lungen fraß, noch wollte er, dass Lisa das erleben musste, sehen musste, wie er immer schwächer wurde. Ein halbes Jahr hatte ihm der Arzt vor drei Monaten noch gegeben, letzte Woche waren es nur noch zwei Monate. Ja, sicher, er könne Medikamente nehmen, aber helfen würde es nicht. Würde ihm vielleicht einen weiteren Monat geben, den er schon nicht mehr eigenständig leben könnte, weil er sein Leben nur noch im Krankenhaus verbringen würde. Nein danke, dass war nichts für ihn. Da stand seine Entscheidung bereits fest: bevor der Krebs ihm das Leben nahm, würde er es lieber selbst tun. Würde Lisa von seiner Entscheidung erfahren, würde sie es ihm ausreden, ganz sicher. Sie würde ihn dazu überreden zu kämpfen, obwohl es sich nicht mehr lohnte, und er müsste all diese Dinge, die er nicht erleben wollte, doch noch erleben. Wenn er ganz ehrlich mit sich gewesen war, dann wollte er überhaupt nicht, dass Lisa von seiner Entscheidung erfuhr, weil sie dann eine schlechte Erinnerung an ihn haben würde. Also sagte er ihr, er würde einen Neustart in New York wagen, er habe dort einen Job bekommen. Dass machte sie zwar nicht glücklich, aber sie ging davon aus, dass er am Leben war, schließlich wusste sie nichts von seinem Tod oder dem Krebs.
Er seufzte. Ja, man konnte wohl sagen, er war ein Feigling. Der Junge vor ihm wandte ihm sein blasses Gesicht kurz zu, bevor er sich wieder nach vorne drehte. Irgendwie hatte er sich den Tod anders vorgestellt. Nicht so jung, nicht so blass, nicht so zart. In seiner Vorstellung war der Tod immer das typische Skelett gewesen, eingehüllt in einen schwarzen Umhang und eine Sense in der Hand. Schwarz trug der Junge durchaus, einen Umhang und eine Sense hingegen nicht. Besonders alt schienen auch nur seine Augen, sein Körper war der eines gerade erst Erwachsenen. Wenn man es genau nahm, dann war er gar nicht so viel jünger als er selbst.
Der Junge blieb stehen und drehte sich zu ihm um. „Wir sind da“, sagte er mit leiser Stimme, bevor er die großen Tore öffnete und ihn hindurchtreten ließ. Er tat es, nur um wieder überrascht zu werden. Er wusste nicht, ob er an Himmel und Hölle glaubte, andererseits hatte ihn gerade der Tod höchstpersönlich hierhergeführt. Aber wenn es sie gab, dann hätte er eigentlich in der Hölle landen müssen, schließlich war er ein Selbstmörder. Stand das nicht so in der Bibel? Doch die Wiese, die sich vor ihm erstreckte, leuchtete sanft, ganz anders als er erwartet hätte. Das hier war vermutlich das Schönste, was er je gesehen hatte. Die Tore hinter ihm schlossen sich leise wieder, der Tod sah ihn nicht an. Er beobachtete ein kleines Mädchen, das auf der Wiese vor ihnen spielte, wie er merkte, als er seinem Blick folgte. Er erkannte das Mädchen sofort. „Mia?“, flüsterte er.
Das Mädchen sah auf, grinste, und kam zu ihnen hinübergehüpft. Sie umarmte ihn und automatisch schlang er seine Arme um ihren schmalen Körper. Ihre blonden Haare fielen ihr noch genauso über die Schultern wie vor zehn Jahren und sie war noch genauso jung. Doch obwohl ihr Körper noch immer schmal war, war seine kleine Schwester kräftiger und gesünder. „Komm mit, komm mit!“, drängelte sie und zog an seinen Fingern, so, wie sie es früher schon getan hatte. „Ich muss dir unbedingt etwas zeigen!“ Er folgte ihr lächelnd. Als er sich zu der Stelle umdrehte, an der der Tod gerade noch gestanden hatte, um ihm zu danken, stutzte er. Er war allein mit seiner Schwester. Nur die sich schließende Tür bewies, dass es gerade noch anders gewesen war.