Lina fluchte leise. Sie hatte sich doch heute noch einmal besonders fest vorgenommen, nicht schon wieder auf die Fallen und Tricks ihrer Brüder hereinzufallen; und jetzt saß sie hier, zwischen ein paar Frauen und Männern – wobei es hauptsächlich Männer waren - und definitiv in der Falle ihrer Brüder. War ja mal wieder klar, dass Finn und Luca die gesamte Arbeit wieder auf sie abwälzten. Mina, ihr Husky Welpe, mit dem sie eigentlich nur hatte spazieren gehen wollen, lag hechelnd neben ihrem Stuhl, während sie selbst nervös auf ihrer Unterlippe herumkaute und versuchte, die neugierigen und teilweise auch abwertenden Blicke der Menschen um sie herum zu ignorieren. Na gut, die neugierigen Blicke waren wahrscheinlich gerechtfertigt, immerhin saß sie, ein fünfzehnjähriges Mädchen im gelben Sommerkleid, zwischen lauter Anzugträgern, die fast alle um die fünfzig waren, im Vorzimmer eines Anwalts. Hunde waren hier wohl auch nicht so üblich, den Blicken nach. Aber draußen lassen konnte sie Mina ja schließlich auch nicht, oder? Die Arme würde ja sterben bei der Hitze draußen. Hier drinnen gab es immerhin eine Klimaanlage.
Lina drehte den Umschlag zwischen ihren vor Nervosität schwitzigen Fingern hin und her und hoffte, dass sich der Anwalt ihrer Mutter doch endlich beeilen möge, damit sie wieder gehen konnte. Eigentlich sollte hier Finn sitzen. Oder Luca. Oder ihretwegen auch beide zusammen, in Anzügen, wie der Rest der Menschen um sie herum. Wobei beide ihrer Brüder wohl in Jeans und T-Shirt gekommen wären. Aber das wäre ja dann nicht Linas Problem gewesen. Lina seufzte. Sie hätte den Anruf einfach doch ignorieren sollen. Die Tür öffnete sich und Linas Blick schoss – genau wie der sechs weiterer Personen im Raum – erwartungsvoll nach oben. Doch es streckte nur eine ältere Frau den Kopf ins Zimmer – die Sekretärin, wie Lina nur zu gut wusste – die Mina bereits zum zehnten Mal an diesem Tag einen missbilligenden Blick zuwarf und dann eine noch ältere Frau aufrief. Die Mina einen ebenso missbilligenden Blick zuwarf, bevor sie der Sekretärin folgte. Meine Güte, waren die Menschen hier alle tierlieb. Dabei verhielt sich Mina absolut friedlich und wohlerzogen. Das Kleinkind der Frau vor ihr, die Lina etwa auf dreißig schätzte, schaffte das nicht. Es quengelte die ganze Zeit, vorausgesetzt, es erlitt nicht gerade einen weiteren Heulkrampf. Aber das Kind beachtete keiner.
Weitere zehn Minuten später – Lina hatte bereits begonnen, ernsthaft in Erwägung zu ziehen, einfach wieder nach Hause zu gehen; schließlich hatte sie auch noch andere Dinge zu tun – ging die Tür doch noch auf und die Sekretärin streckte wieder ihren Kopf herein. Und diesmal rief sie wirklich Lina auf. Diese sprang daraufhin erleichtert auf und lief eilig, dicht gefolgt von Mina, der Frau hinterher. Alles weitere verlief schnell und ereignislos; Lina gab den Brief ab und die Worte ihrer Mutter weiter. Der Anwalt versprach, eine Antwort zu schreiben und schon war sie fertig. Erleichtert verließ Lina die Kanzlei und atmete die heiße Sommerluft draußen ein, die ungemein erfrischend auf sie wirkte, jetzt, wo sie endlich wieder nach Hause gehen konnte. Aber vorher würde sie ein Eis essen gehen, um sich dabei zu überlegen, wie sie ihre Aufgaben an Finn und Luca abdrücken konnte; immerhin hatte sie wegen der beiden beinahe eine Stunde zwischen Menschen verbracht, die ihr missbilligende Blicke zugeworfen hatten.