Am Ende des Sommers fühle ich mich immer am wohlsten. Meiner Meinung nach ist es die schönste Zeit im ganzen Jahr, besonders weil wir immer bei dem besten Freund von Mama sind. Nein, falsch. Weil wir immer bei dem besten Freund von Mama sind. Er wohnt in einem großen Haus auf dem Land, das totale Gegenteil zu unserer Wohnung in der Stadt. Wenn ich zu Hause aus meinem Zimmerfenster schaue, dann sehe ich die große Hauptstraße. Wenn ich hingegen hier aus dem Fenster schaue, dann sehe ich einen großen See, umgeben von grünen Wiesen, auf denen Obstbäume stehen. Von dem Obst können Emmi - meine beste Freundin ist immer dabei, wenn wir hierherkommen - und ich so viel essen wie wir wollen und wann wir wollen. Markus sagt, er hat sowieso genug. Ein Stückchen hinter dem See gibt es auch einen Wald. Emmi und ich sind oft dort - wir klettern dort auf den Bäumen, wenn es auf den Feldern zu warm ist und bauen kleine Häuser aus Stöckchen und Lehm. So entsteht nach und nach unsere Siedlung und fast alle unserer Häuser sind bewohnt: von den Elfen aus dem Wald. Deshalb bauen Emmi und ich auch jeden Sommer weiter, sodass die Elfen dann richtige Kunstwerke daraus machen können. Wenn wir im nächsten Jahr wiederkommen, sieht die Siedlung noch schöner aus als im Jahr davor. Sumol hat uns erzählt, dass sie das ganze Jahr daran arbeiten, nur im Winter nicht. Denn im Winter wohnen alle Elfen im großen Baum der Elfenkönigin, weil es dort immer Sommer ist. Irgendwann werde ich mit Emmi auch die Elfenkönigin besuchen. Wir arbeiten schon seit Jahren an einem Plan, wie wir Sumol begleiten können, denn unsere Eltern glauben nicht an die Elfen. Wenn wir von ihnen erzählen, dann lächeln sie immer nur ihr Erwachsenenlächeln und Papa sagt, ich bin auch seine kleine Elfe.
Nur Markus glaubt uns; er behauptet, er hat die Elfenkönigin schon gesehen. Ich mag Markus, weil er ganz anders ist als Mama, Papa, die Eltern von Emmi und alle anderen Erwachsenen. Er glaubt uns immer, wenn wir ihm von Sumol, Lidi und all den anderen Elfen erzählen und einmal hat er uns sogar die Nixe gezeigt, die in dem großen See lebt. An dem Tag waren wir mit ihm allein. Markus sagt, unsere Eltern sind anders als wir und sie können keine Elfen sehen, weil sie nicht das zweite Gesicht haben. Er sagt, alle Kinder haben es, aber die meisten Erwachsenen verlieren es, wenn sie älter werden. Und dann können sie all die Wunder nicht mehr sehen, die es auf dieser Welt gibt. Emmi und ich finden das sehr traurig, denn wir stellen uns eine Welt, in der es weder die Elfen noch die Nixe gibt sehr langweilig vor. Eine Welt nur mit Problemen und Arbeit gefüllt können wir uns nicht vorstellen.
Einmal habe ich Markus gefragt, warum die meisten Menschen ihr zweites Gesicht verlieren, doch er wusste es auch nicht genau. Er glaubt, dass man mit der Zeit all die Wunder vergisst und nicht mehr an sie glaubt und dann verliert man es. Ich hoffe, ich verliere meines niemals. Am liebsten würde ich sowieso hierher ziehen, gemeinsam mit Emmi, aber Mama und Papa sagen, dass geht nicht. Weil Papa und Mama arbeiten müssen und Emmi und ich doch in die Schule gehen. Ich habe vorgeschlagen, wir könnten doch die Schule wechseln und Mama und Papa könnten doch genauso arbeiten wie Markus. Dann könnte ich nach der Schule immer draußen spielen und wir könnten auch einen Hund wie Leo haben. Mama sagt, ein Hund ist viel Arbeit und dann hat man große Verantwortung. Ich hab gesagt, dass ich das schon wüsste, weil ich ja schon oft auf Leo aufgepasst habe. Papa ist auch gegen einen Hund. Er meint, dass wir dann ja nicht mehr in den Urlaub fahren könnten. Dabei will ich ja gar nicht mehr in den Urlaub fahren, wenn wir hier wohnen würden. Da hat Papa geseufzt und Mamameinte, dass das alles nicht so einfach ist und man nicht einfach so umziehen kann. Und sie hat gefragt, ob ich meine Freunde denn nicht vermissen würde. Ich habe geantwortet, dass Emmi ja dann auch umziehen kann und ich kann ja schließlich neue Freunde finden.
Eigentlich will Mama auch umziehen, glaube ich. Sie sagt immer, dass sie die Stadt hasst, weil es zu laut ist und sie Kopfschmerzen bekommt. Sie beschwert sich auch immer über ihren Chef. Deshalb gebe ich nicht auf. Irgendwann, da bin ich mir sicher, kann ich sie überreden umzuziehen. Und wenn ich Mama überredet habe, hilft sie mir, Papa zu überreden. Emmis Eltern ziehen dann bestimmt auch um.
Aber dieses Sommerende werden Emmi und ich erstmal unsere Siedlung weiterbauen und vielleicht sind wir diesen Winter ja auch schon bei der Elfenkönigin. Sie kann unsere Eltern bestimmt überreden. Immerhin ist sie eine Königin.