Wind peitschte ihm ins Gesicht, die Landschaft flog nur so vorbei. Er konnte fühlen, wie sich Abayomis Muskeln unter ihm streckten, als der Hengst in langen Sprüngen über das Grasland flog. Die beiden hatten es eilig – es galt, eine wichtige Nachricht zu überbringen, die über Leben und Tod entscheiden konnte. Wäre es irgendjemandes Tod, so wäre es Alanus egal gewesen. Er hatte schon viele Menschen sterben sehen, einer mehr oder weniger machte da keinen Unterschied, besonders, weil er es ja genau genommen nicht einmal hätte sehen müssen. Er hätte einfach ganz entspannt zu Hause sitzen können und gemeinsam mit seiner Schwester die Sterne betrachten können. Aber es war eben nicht der Tod irgendeines, für ihn unbedeutenden, Menschen, der sich da in großen Schritten näherte – sondern ebender seiner kleinen Schwester, mit der er jetzt so viel lieber die Sterne betrachten würde. Sie hatte sich ganz schön in Schwierigkeiten gebracht, als sie sich beim Klauen hatte erwischen lassen; und ihn gleich mit dazu. Und jetzt saß Lena dort in der kleinen Zelle, in die sie sie gesperrt hatten, und Alanus hatte genau sieben Stunden gehabt, um sie als unschuldig dastehen zu lassen. Das hatte er auch geschafft, zumindest beinahe. Alles, was ihm noch fehlte war eine Unterschrift, eine einzelne, verdammte Unterschrift. Er beugte sich noch tiefer über Abayomis Hals, trieb den Hengst weiter an, Bestleistungen aus sich herauszuholen. Aber Alanus wusste, dass sein treuer Weggefährte Grenzen hatte, wie jedes andere Pferd auch. Und Abayomi hatte bereits Grenzen überschritten, die für andere Pferde unmöglich gewesen wären. Stumm betet Alanus, dass sein Freund durchhalten würde. Und das, obwohl er bisher eigentlich nicht an Götter oder eine höhere Macht geglaubt hatte. Es war nicht mehr allzu weit zu der Stadt, die sein Ziel markierte. Noch ein Kilometer vielleicht. Alanus konnte spüren, dass Abayomi noch einmal alles aus sich herausholte: Auch der Hengst kannte das Ziel und seine Bedeutung. In Gedanken ging er noch einmal genau durch, was er tun würde, sobald er die Stadt erreicht hatte: Er würde zu dem Mädchen in der verfallenen Hütte sprinten und dazu bringen, ihm den Brief zu unterschreiben, den er von seinem Großvater bekommen hatte. Den Brief, der Lenas Freiheit bedeutete. Alanus wusste, er hatte nicht mehr viel Zeit, und so setzte er all seine Hoffnungen in das Mädchen. Sollte sie fordern was sie wollte, solange es schnell ging.
Seine Hoffnungen gingen auf: Das Mädchen kannte ihn und wusste, wie wichtig ihm seine Schwester war. Sie hatte ihm die Unterschrift sofort gefälscht und sich sogar bereit erklärt, ihm zu helfen. Und so stand Alanus nun, völlig verschwitzt aber noch pünktlich, vor dem vergitterten Tor und bat um Einlass, neben sich das unscheinbare Mädchen aus der verfallenen Hütte. Obwohl jeder wusste, wer sie war, kannte niemand ihren Namen, jeder sagte immer nur das Mädchen zu ihr, und jeder wusste Bescheid, wer gemeint war. Die Wachen musterten sie misstrauisch, doch sie ließen sie ein, was, wie Alanus sich eingestehen musste, vielleicht an dem Lächeln, verbunden mit dem zu leisen geflüsterten Angebot lag, was seine Begleiterin den Wachen schenkte. Kaum um die nächste Ecke gebogen war das Lächeln wieder verschwunden, doch er hatte es genau sehen können. Sie wurden von einer weiteren Wache in Empfang genommen und diese betrachtete nachdenklich uns sehr genau das Blatt Papier, das nun bereits einen leichten Knick durch den rasanten Galopp auf dem Weg hierher mit sich trug. Die Wache betrachtete es so genau, dass Alanus schon zum zweiten Mal an diesem Tag zu beten begann, wenn auch dieses Mal, dass der Mann ihre geheimen Machenschaften nicht aufdecken würde. Ob es nun eine höhere Macht gab, die ihm den Wunsch erfüllte oder ob es einfach nur Glück war: Es funktionierte, die Wache nickte ihnen zu und setzte sich in Bewegung. Sie nickte ihnen zu! Alanus fühlte, wie ein riesiger Stein, mindestens von der Größe eines Felsbrockens, von seinen Schultern fiel. Er hatte es geschafft, seine Schwester war gerettet. Für sich selbst beschloss er, doch noch einmal über seine Haltung gegenüber den Göttern und höheren Mächten nachzudenken, gleich sobald er und Lena hier raus waren.
Etwas, was bereits fünfzehn Minuten später der Fall war – so lange hatte es gedauert, Lenas Zelle zu erreichen, sie aufzuschließen, seiner kleinen Schwester alle Ketten abzunehmen und das Gefängnis wieder zu verlassen. Dort fiel ihm Lena um den Hals und er drückte sie fest an sich. Dann wandte er sich dem Mädchen zu, ohne dessen Hilfe er es niemals geschafft hätte, da war er sich in diesem Moment sicher. Es war doch erstaunlich, wie unerwartet man Verbündete finden konnte.
„Danke“, sagte er aufrichtig. „Wenn ich dir jemals irgendwie helfen kann: Lass es mich wissen, ja?“
Sie nickte ihm zu und lächelte, bevor sie sich umdrehte und verschwand. Sie hatte noch nie viel geredet. Alanus atmete noch einmal tief ein, bevor er sich an Lena wandte. „Lass uns nach Hause gehen, ja?“
„Ja. Danke, Alanus. Für alles. Es tut mir wirklich leid, dass ich dich so in Schwierigkeiten gebracht habe.“
„Ist schon in Ordnung, Kleine“, murmelte er in ihr Haar. „Jetzt gehen wir erstmal nach Hause.“ Und damit nahm er ihre Hand und führte sie in die Richtung, in der er Abayomi zurückgelassen hatte.