„Piraten! Hannah, schau doch, dahinten! Da ist ein Piratenschiff!“ Mein kleiner Bruder hüpft aufgeregt neben mir auf dem Pier auf und ab und zeigt mit seinem schmalen Finger irgendwo in Richtung des Horizonts. Angestrengt kneife ich die Augen zusammen und versuche das Schiff zu entdecken, welches er meint. Die Krönung des neuen Königpaars steht in wenigen Tagen an, weshalb momentan nicht nur Schiffe aus aller Welt unseren Hafen anlaufen, sondern auch täglich neue Lords - teilweise mit ihren Ladys, teilweise ohne - und Unmengen an einfachem Volk in unsere Stadt strömen. Dennoch, der Hafen ist und bleibt der interessanteste Ort, nicht nur weil sowohl mein Bruder als auch ich die See lieben, sondern weil wir noch immer darauf hoffen, irgendwann eine Anstellung auf einem der Schiffe zu finden. Es ist immerhin nicht so, als würden wir viel in dieser Stadt aufgeben. Aber Träume sind seltsame Dinge; meist gehen sie eh nicht in Erfüllung.
Schließlich entdecke ich auch das Schiff, dass Noah meint: eine kleine Galeere, mit großen schwarzen Segeln, die tatsächlich recht typisch für Piraten sind. Zu meiner Überraschung hält das Schiff sogar auf den Hafen zu. Gemeinsam beobachten wir, wie sich das Schiff immer weiter näherte, solange, bis wir die Mannschaft an Deck herumwuseln sehen können. In einiger Entfernung scheint das Schiff dann schließlich zu ankern: die Crew lässt ein kleineres Beiboot zu Wasser, dass sich in Richtung Hafen bewegt und tatsächlich eine Überraschung mit sich bringt, als es an dem Pier direkt neben unserem anlegt. An Bord befinden sich nicht nur junge Männer, sondern auch zwei junge Frauen! Und es scheint keinesfalls so, als wären sie Gefangene; sie scheinen ein wichtiger Teil der Gruppe zu sein und sie Lachen gemeinsam, als sie ihr Boot am Pier vertäuen und sich gemeinsam in Richtung Stadt aufmachen. Besonders eine der jungen Frauen sticht ins Auge: ihr honigfarbenes Haar fällt in sanften Wellen über ihren Rücken und ihre Haltung ist so gerade und selbstbewusst, als würde ihr die ganze Stadt gehören. Ein wenig neidisch blicke ich ihr nach, solange, bis Noah an meinem Ärmel zupft, um meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn zu ziehen.
Am Abend sehe ich sie wieder. Sie und ihre Mannschaft sitzen in der Kneipe, in der ich momentan als Kellnerin arbeite, als würde ihnen der ganze Laden gehören. Mein Chef ist darüber nicht besonders erfreut und lässt seinen Frust an den Kellnerinnen – sprich an mir; die junge Frau, die heute mit hier arbeitet, hat meinen Chef so in ihren Bann gezogen, dass sich ihr Lohn erfolgreich erhöht hat – aus. Heute ist also definitiv einer der schlechteren Tage in dieser Kneipe, wie üblich; gute Tage gibt es hier nur selten, meist dann, wenn unser Chef nicht da ist. Dennoch halte ich mein Lächeln aufrecht, als ich mich die Tische entlangarbeite, um Bestellungen aufzunehmen und das Gewünschte zu liefern.
Irgendwann nachts, als der Mond bereits hoch am Himmel steht, kommt die junge Frau – mittlerweile bin ich mir sicher, dass sie wirklich eine Piratin ist – schließlich zu mir an den Tresen. Eine blonde Strähne klebt an ihrer Wange und ich kann den Gin in ihrem Atem riechen, als sie sich zu mir über den Tresen lehnt.
„Hast du noch einen Gin für mich?“
„Sicher“, antworte ich und gieße ihr ein Glas ein. Als ich es zu ihr hinüberschiebe, nehme ich noch einen anderen Geruch an ihr wahr. Sie riecht nach Salz und Fisch, nach Meer. Nach Freiheit. Ich erwarte, dass sie nun zu ihrem Platz zurückkehren wird, doch sie bleibt.
„Arbeitest du schon lange hier?“, fragt sie schließlich nach einer Weile; ihr Gin ist mittlerweile bereits wieder zur Hälfte getrunken.
„Nicht wirklich“, gebe ich zurück. „Ein halbes Jahr vielleicht.“
Wieder herrscht kurz Stille.
„Und bist du glücklich?“
Die Frage kommt so plötzlich und unerwartet, dass ich überrascht von den Gläsern aufschaue, die ich gerade poliere. „Naja, es könnte schlechtere Jobs geben. Und irgendwie muss ich ja Geld verdienen. Mein kleiner Bruder ist noch nicht alt genug, um einen vollwertigen Job zu haben.“
„Wir suchen noch Leute auf unserem Schiff.“ Sie hebt ihren Blick und lächelt mich entwaffnend an. „Überleg es dir. Vielleicht sehen wir uns ja morgen am Pier. Du weißt ja, wo unser Boot liegt.“ Sie lächelt noch einmal, bevor sie sich umdreht und zu ihrem Tisch zurückkehrt. Mich lässt sie überrascht, aber glücklich zurück.
Ich glaube, ich muss nicht erwähnen, wie unsere Entscheidung lautet. Mein Bruder ist begeistert. Träume sind seltsame Dinge; und manchmal gehen sie eben doch in Erfüllung.