Triggerwarnung: Tod
Zeit ist seltsam. Egal wie gut unser Zeitgefühl auch sein mag, manchmal trickst die Zeit uns aus und wir verlieren die Übersicht komplett. Einer dieser Momente ist es zum Beispiel, wenn die Zeit ganz anders zu vergehen scheint, als wir es gewohnt sind; wenn die Zeit viel schneller läuft, als wir es wollen oder, wenn sie viel zu langsam vergeht. Aber manchmal, das ist ihre Meisterleistung, da bleibt die Zeit auch einfach stehen. Und das können sowohl die schönsten als auch die grausamsten Momente unseres Lebens sein.
Vorsichtig lege ich meinen Zeigefinger auf die zarten Blütenblätter vor mir und beobachte, wie sie erst größer und kräftiger werden, nur um dann wieder zu schrumpfen. Ihre rote Farbe verblasst und macht erst einem rotbraun, dann nur einem trostlosen braun Platz. Das erste Blütenblatt fällt vertrocknet zu Boden. Ich seufze und ziehe meine Hand zurück. Einen Wimpernschlag später sieht die Rose wieder genau so aus, wie sie es nur eine Minute vorher getan hat. Ich bin wieder zurück in der Gegenwart, die Zukunft liegt wieder vor mir, unbekannt wie sie es auch sein sollte. Von dem Schicksal der Rose vor mir einmal abgesehen jedenfalls. „Du weißt du solltest das nicht tun, Tyler.“
Meine kleine Schwester steht hinter mir, ihr braunes Haar, das zu den Spitzen hin immer weiter aufhellt, fällt ihr glatt über die Schulter. Ihre grünen Augen, die für ein zwölfjähriges Mädchen viel zu alt wirken, sehen mich ernst an. „Du weißt ganz genau, dass es dich nur runterzieht.“ Emmi hat recht und wir wissen es beide ganz genau, daher muss ich darauf nichts erwidern. Wir haben diese Diskussion beide oft genug geführt. Aber ich kann einfach nichts dagegen tun, denn im Gegensatz zu ihr gelingt es mir nicht, meine Gabe (oder meinen Fluch; je nachdem, wie man das sehen möchte) einfach abzublocken. „Wir schaffen das schon irgendwie, keine Sorge, Ty“, flüstert Emmi und schlingt ihre Arme um meine Taille. Nach kurzem Zögern und in dem genauen Bewusstsein, was ich mir gleich antun werden, erwidere ich ihre Umarmung. Beinahe sofort wird Emmi vor meinem inneren Auge größer, älter, eine wunderschöne junge Frau. Und dann ist da rot und Dunkelheit und ich weiß, dass die Zukunft meiner kleinen Schwester sehr wahrscheinlich nicht mehr abwendbar ist. Sanitäter in leuchtenden Jacken laufen eilig um sie herum. Ein Helikopter landet, um sie zum nächsten Krankenhaus zu bringen und da bin ich, ein schwarzer Anzug und unsere Eltern und wir gehen gemeinsam, die ersten Blumen blühen am Wegesrand und der Sarg wird langsam mit Erde bedeckt…
Ich zucke zurück, Tränen brennen in meinen Augen und hastig drehe ich mich von Emmi weg, um mir mit dem Ärmel meines Hoodies über die Augen zu wischen. „Ty? Ist… alles in Ordnung mit dir?“
Ist es natürlich nicht, doch ich nicke bloß, weil ich noch nicht antworten kann. Meine Fingernägel graben sich in meine Handflächen und lassen kleine rote Halbmonde zurück. „ich muss los, Emmi“, presse ich hervor und stürze aus dem Zimmer nach draußen, wo kühler Regen auf meine erhitze Haut fällt. Tief atme ich durch, während sich meine heißen Tränen mit dem kalten Regen vermischen. Jetzt kann ich ihnen freien Lauf lassen, weil sie hier draußen sowieso niemand sieht. Langsam gehe ich weiter und biege immer mal wieder in kleine Nebenstraßen ab, damit Emmi mich nicht doch noch findet, falls sie beschließen sollte, mir nachzulaufen. Ich kann ihr unmöglich sagen, was ich gesehen habe, schließlich ist und bleibt sie erst einmal eine Zwölfjährige und auch mein brüderlicher Beschützerinstinkt spielt da sicherlich mit rein. Schlimm genug, dass ich ihre Zukunft gesehen habe; ich muss meine Eltern und erst recht nicht sie damit belasten, wenn es noch nicht sein muss. Allein die Vorstellung, meiner kleinen Schwester beibringen zu müssen, dass sie viel zu früh sterben wird, bringt mich schon innerlich um, wobei sie es vermutlich früher oder später sowieso herausfinden wird, wenn sie es nicht mindestens schon ahnt. Immerhin ist sie ein schlaues Mädchen und mein Verhalten nicht unbedingt unauffällig. Wahrscheinlich habe ich tief in mir noch immer die Hoffnung, dass es nicht so kommt, wie ich es gesehen habe. Das Emmi irgendwann eine Familie gründet und alt wird. Das sie ein Leben hat, in dem sie sich nicht mit den Sorgen herumschlagen muss, die sie jetzt hat. Und meine Visionen sind ja schließlich auch nicht immer hundertprozentig richtig, nicht wahr? Ich erreiche den Hügel mit der großen Kiefer, zu der ich immer gehe, wenn ich Ruhe zum Nachdenken oder einfach Abstand zu allem brauche. Hier kann ich ausblenden, dass ich alle Menschen sterben sehe, wenn ich sie nur berühre. Ich lehne meinen Rücken an den kräftigen Stamm, was mir eine Zukunft zeigt, in der die Zukunft auch noch in hundert Jahren hier stehen wird, und schließe die Augen. Das Moos unter mir ist trocken, nur von den Rändern der Zweige tropfen Wassertropfen auf den Boden.
Und so bleibe ich sitzen, vergesse, dass es noch andere Menschen auf dieser Welt gibt und versinke dafür in meiner eigenen Welt, in der nur die Kiefer existiert, die bereits einhundert Jahre alt ist und noch viel älter werden wird.