Cupid
„Alles was ich wissen muss ist, ob du dir und mir, ob du uns überhaupt eine Chance gibst.“ Jem klang verletzt. Das war schlimmer als die Vorwürfe, mit denen Callum gerechnet hätte. Der Jüngere war noch zu verwirrt, um irgendwas zu antworten. Und dann war da dieses furchtbare Gefühl, dass er heulen müsste, wenn er jetzt etwas sagte. „Weißt du überhaupt, wie lange du weg warst?“
Callum zwinkerte, was ein Nein bedeutete.
„Verdammt, Cupid, das waren mehr als sechs Stunden. Du könntest tot sein.“
Der Angesprochene schaute bloß, seine rätselhaften Aquamarin- Augen waren noch immer nicht klar.
„Als du nicht aus dem Bad gekommen bist und nicht geantwortet hast, bin ich ausgerastet. Ich dachte, du stirbst. Ich hab die Tür eingetreten…“ Jem wartete auf eine Reaktion und als er sicher war, dass der verstand, sprach er weiter. „Du warst völlig weggetreten, wie tot am Boden. Aber du hast geatmet. Dann hab ich den Typen vom zweiten Stock geholt. Der ist Arzt. Er hat dich durchgecheckt und dann gesagt, das sei normal, bei Heroin, normal!? Und dann hat er gesagt, ich soll dich warmhalten. Und ich hab überlegt, Cupid, echt überlegt.“
Callum kam jetzt etwas mehr zu sich. Wieso nannte der Blonde ihn Cupid und was hatte er überlegt? „Wie…so? Was?“, brachte er endlich etwas hervor.
„Du musst damit aufhören. Sofort. Ich habe den Rest von dem Scheiß ins Klo gespült. Die Fensterläden sind zu und die Tür verschlossen. Ich habe jede Menge Süßes und Schmerzmittel hier. Du… wir machen einen kalten Entzug. Ab jetzt.“ Seine Stimme klang entschlossen und Widerspruch schien zwecklos.
Der mit dem Rabenhaar hatte nur Scheiß ins Klo verstanden und rastete nun komplett aus. Er richtete sich im Bett auf. „Hast du… den Verstand verloren? Hast du `ne Ahnung, was ich dafür gemacht habe? Wie kannst du sowas tun, das war meins!“ Plötzlich war er blitzschnell und schlug mit Fäusten auf Jeremy ein. Es war völlig unkoordiniert und kraftlos, aber er traf ihn mehrfach an der Brust, bevor der Blonde seine Handgelenke zu fassen bekam und ihn in Schach hielt. „Du blöder Wichser“, tobte Callum weiter, „du hast kein Recht dazu… lass mich los!“
Jem dachte nicht im Traum daran. „Beruhig dich… das kannst du vergessen.“
„Du kannst mich hier nicht einsperren...“
„Ich kann, weil ich muss…“
„Wichser!“ Damit spuckte Callum dem anderen ins Gesicht. Auf für den Lockenkopf völlig unverständliche Weise blieb Jem ruhig. Er schlug nicht zurück, er gab keine Beschimpfungen zurück, er hielt ihn nur weiter fest. Der Jüngere wand sich und begann mit den Beinen zu treten, sodass Jem ihn jetzt mit Armen und Oberkörper aufs Bett drückte. „Hör auf und beruhig dich!... Ganz ruhig,“ redete er auf ihn ein. Wie um das Chaos zu verstärken, fing Buster an zu bellen. „Fuck, ihr könnt mich mal, du und der verfickte Köter…“
Der blonde Cowboy war deutlich kräftiger und koordinierter als Callum unter dem Einfluss von Heroin, also hielt er ihn fixiert. Anstrengend war es schon. „Das Schlimme ist“, keuchte er hervor, „dass dich so … jeder mal könnte. Und darum … machen wir das. Wenn du hinterher nichts mehr… von mir wissen willst, … kannst du gehen. Aber so“, er deutete mit dem Blick auf einen dunklen Bluterguss in Cals Armbeuge, „gehst du nirgendwo hin.“
„Du, du… Fickfehler!“ Callum wehrte sich noch immer, er versuchte sogar zu beißen, verfehlte jedoch Jems Ohr und erwischte stattdessen sein T-Shirt. Jem presste ihn nieder, was den gegenteiligen Effekt zeigte. Statt aufzugeben, steigerte sich Callums Raserei. „Geh runter, verdammt! Lass mich, verpiss dich!“ Er schlug mit den Beinen, er begann unverständlich zu schreien, sein Atem fing an zu rasen. Da kam Jem die Idee, ihn loszulassen. Das hier war kein Gerangel, das war eine Panikattacke. Er nahm sein Gewicht runter von dem Jungen, ließ seine Handgelenke fahren und ging rückwärts in Deckung. „Ist gut, beruhig dich!“ Da hatte Cal schon den Radiowecker gegriffen und warf nach ihm. Dann Nachttischschublade mit Inhalt. Der Blonde wehrte ab und hielt nur die Hände hoch. „Hier, beruhig dich. Ich werde dich nicht festhalten, okay?“
Callums Blick sagte deutlich, dass er es nicht okay fand. Er spuckte wieder, atmete jedoch ruhiger. Dann ging er langsam um das Bett herum, nicht ohne Jeremy genau zu beobachten. „Ich tu dir nichts, ich bin’s, Jem…“, sprach der sanft und beruhigend. Der andere checkte hektisch die Tür. Sie war abgeschlossen. „Fuck!!!“
„Ich will dir helfen, verstehst du. Das Zeug bringt dich um. Oder ein Freier tut’s. Wir kriegen alles hin, wenn du von dem Zeug weg bist.“
„Du hast keine Ahnung, du kennst mich nicht!“
„Doch, ich glaube, ich kenne dich besser, als du dich selbst. Vertrau mir nur ein bisschen, Cupid.“
„Nenn' mich nicht so, ist das 'n Kink von dir?“ Callum klang gefasster, aber er kontrollierte das Fenster. Auch das war zu, der Laden vor und außerdem waren sie im dritten Stock.
„Vielleicht ja. Du erinnerst mich an diese griechischen Statuen. Cupid hat immer solches Haar wie du. Und solche Lippen.“
„Du spinnst.“
„Und wenn schon.“
„Wenn du ficken willst, dann tu’s und lass mich gehen.“
Jem schüttelte den Kopf und ging langsam, ohne plötzliche Bewegung auf Callum zu. „Red nicht so. Das bist nicht du, das ist nur deine Angst. Wir stehen das hier gemeinsam durch und dann, wenn du immer noch willst, kannst du gehen.“
„Darauf kannst du wetten!“ Der Jüngere war noch immer aufgebracht. Vielleicht ging Jem wirklich zu weit, immerhin war das hier Freiheitsberaubung, aber es kam ihm wie das einzig Richtige vor. Wie sollten sie sonst zusammen sein? Er könnte doch nicht zusehen, wie Callum sich einen Schuss nach dem anderen gab und dann Geld beschaffte, indem er mit Männern mitging, die dafür zahlten. „Wir werden sehen. Hier, nimm die, das sind Schmerzmittel vom Doc. Er sagt, du wirst sie brauchen. Es wird…hart. Dir wird kalt, du kriegst alle möglichen Krämpfe, du kotzt, kriegst Angstzustände, Suizidgedanken. Aber ich bin da. Die nächsten achtundvierzig bis zweiundsiebzig Stunden werden schlimm, richtig schlimm, danach wird es besser.“
„Bilde dir bloß nichts ein!“, zischte Callum, dann nahm er widerwillig zwei Tabletten in den Mund und würgte sie trotzig herunter, bevor Jem ihm ein Glas Wasser hinhielt.
„Tu ich nicht.“