Auf's Maul
Als es wiederum klingelte, stand Roger vor der Tür. Jem ließ ihn hinein und konnte mit der Nachricht von Callums Job gar nicht warten, bis Roger richtig drinnen war.
„Roger, da bist du ja, stell dir vor, Cal hat einen richtigen Job als Eisverkäufer im Theater!"
„Na, wenn das keine gute Nachricht ist!", rief der Mann begeistert aus.
Als sie dann im Wohnzimmer auf die anderen trafen, wusste der Arzt gar nicht, wo er anfangen sollte. Callum gratulieren oder Alexander begrüßen. Callums spontanes Aufspringen, um Roger zu umarmen, löste das Problem dann von selbst. Immer eins nach dem anderen.
„Ich freu mich so für dich und gratuliere ganz herzlich!" Roger strahlte und wunderte sich ein wenig, weil Cal ihn wirklich fest umklammerte und an sich drückte. Das war mehr als eine spontane Reaktion.
„Ich kann dir gar nicht sagen, was ich dir alles verdanke, Roger", begann er dann. „Danke für alles. Du bist ein Heiliger oder sowas."
„Ich bin echt 'ne Menge, aber das nicht."
„Doch, du hast mir wirklich geholfen. Komm ..."
Callum ließ jetzt von ihm ab und schob ihn praktisch zu Alexander und Rory.
"Alexander, das ist Roger, der mir und Jem beim Entzug geholfen und mich vor der Tür gefunden hat und dann hat er auch noch nachgeforscht wegen Rory", erklärte Callum.
„Das war echt groß von ihm", ergänzte Rory. "Ich hätte nie gedacht, dass meine ganzen Nachrichten und Anfragen bei diesem scheiß Jugendamt mal irgendwohin führen. Und er hat uns wieder zusammengebracht."
„Hab ich wirklich gern gemacht." Roger lächelte bescheiden.
„Wir reden mal besser nicht über diese halb-legale Aktion, bei der Sie die Akten in dem Amt durchstöbert haben, Mr. ...", mischte sich Alexander dazu.
„Nenn' mich Roger. Kann mich an gar nichts erinnern..." Roger schaute jetzt gespielt wie irritiert.
„Sehr gut", grinste Alexander. „Ich bin Alexander."
Jem konnte nicht anders und war richtig stolz auf seinen Dad. Und auf Callum sowieso. Roger würde er jederzeit Buster und auch seinen Liebsten wieder anvertrauen, wenn das je wieder nötig sein sollte. Wenn der junge Autor geglaubt hatte, dass sie nur Nachbarn waren, dann war der Arzt inzwischen mehr als das, nämlich ein Freund.
Die ausgelassene Stimmung beim Tee musste früher oder später ernster werden, denn immerhin war ja vorgesehen, dass Alexander alle, vor allem Callum nochmal genauestens darüber informierte, womit an dem Verhandlungstag zu rechnen war. Also schilderte er die wesentlichen Abläufe so einer Verhandlung und quasi die wichtigsten Benimmregeln vor Gericht. Der Lockenkopf hörte aufmerksam zu und würde sich bestimmt alles merken. Ob er sich daran halten würde, da war er allerdings nicht sicher. Könnte er ruhig bleiben, wenn der Anwalt der Gegenseite die schleimscheißerige Aussage von Jay, dem Wichser vorlesen würde? Das konnte er sich nicht vorstellen ...
„Du schaffst das", versicherte Jem, so als könne er Gedanken lesen.
Cal würde nichts lieber tun, als das zu glauben, aber er war in dieser Hinsicht einfach nicht stabil. In einem Moment war er glücklich mit Jem, wegen Jem, für Jem und ganz sicher, dass er und Alexander das Richtige tun und sagen würden und niemand glauben würde, dass er diesen Jay ausrauben wollte. Im nächsten stellte er sich vor, dass er in einem Saal voller wildfremder Menschen erzählen müsste, was da in diesem Büro passiert war und dass dann alle sofort wüssten, dass er nur ein schwanzlutschender Junkie mit 'nem geilen kleinen Arsch war. Einer, den man besser hinter Gitter bringt, weil er es mit Brüdern, Ehemännern, Vätern und Großvätern getrieben hatte. Oder die mit ihm- wen interessierte das schon so genau?
Alexander ging inzwischen dazu über, noch ein paar Informationen von Roger zu erfragen. Die Tatsache, dass Roger als Arzt einen kalten Entzug unterstützt hatte, würden sie lieber nicht erwähnen. „Ich bin dir äußerst dankbar, dass du meinen Sohn und Cal da unterstützt hast, aber wir wollen nicht riskieren, dass es rechtliche Konsequenzen für dich hat. Legal war das nicht, wenn auch legitim..."
„Gleich kriegt er von deinem Dad auch 'ne Liste", flüsterte Callum seinem Süßen ins Ohr. Der war da kitzelig, grinste, ließ sich aber nichts anmerken.
Rory machte sich bei all dem so seine eigenen Gedanken. Zum einen war ihm noch nicht in den Sinn gekommen, wie gefährlich so ein Entzug sein konnte, geschweige denn, dass Roger das einfach getan hatte, weil er es für richtig hielt, auch wenn es nicht erlaubt war. Was war der Typ, ein Heiliger, wie Cal sagte? Zum anderen konnte Rory nicht mehr unterdrücken, was er bisher wohl verdrängt hatte. Sein kleiner Bruder hatte sexuellen Missbrauch hinter sich, war schwerst drogenabhängig gewesen und hatte auf der Straße gelebt. Was genau hatte er auf der Straße alles erlebt? Wie kam dieser J dazu, ihn anzugreifen? Es lag so verflucht logisch auf der Hand. Hatte Callum es deswegen bisher nicht erzählt oder schämte er sich zu sehr? Rory wurde jetzt regelrecht körperlich schlecht bei dem Gedanken, dass sein Bruder sich irgendwelchen widerlichen Typen für Sex angeboten haben musste, um die Sucht nach irgendeinem scheiß Gift zu befriedigen. Fuck ...
„Entschuldigt, ich brauche frische Luft", brachte er heraus. Dann ging er in Jems Küche, die zum Innenhof heraus ein Fenster hatte, das er öffnete. Er atmete tief ein und aus. Langsam wurde es besser.
„Was ist los?" Roger war ihm in die Küche nachgegangen. Rory schaute überrascht. „Ich bin Arzt, ich seh's, wenn jemandem schlecht wird."
Der junge Mann rollte halb genervt mit den Augen. Verdammt, er wollte nur kurz mit seiner neuen Erkenntnis allein sein, um sich daran zu gewöhnen. „Es geht schon wieder."
„Ist alles ein bisschen viel, gerade, oder?" Roger wollte so schnell nicht aufgeben. Irgendwas hatte Cals Bruder.
„Kann man wohl sagen."
„Mach dir keine Sorgen, Jems Vater kriegt das alles hin."
„Was genau kriegt der hin?" Rory fixierte Roger mit dem Blick.
„Was meinst du?"
„Da steckt mehr dahinter als Aussage gegen Aussage. Wer wen angegriffen hat und wieso. Was hat mein Bruder mit so einem beschissenen Vergewaltiger-Typen überhaupt zu schaffen? Warum war er bei ihm?"
„Na, wegen dieses Kartons mit seinen Sachen."
„Das ist doch nicht alles. Wieso lässt Callum einen Karton bei so 'nem Arschloch? Wieso fällt der über ihn her? Das ..."
„... Ich denke, du kennst die Antwort." Roger schaute ihn eindringlich an.
„Oh, Gott, ja. Ich denke, ja." Rorys Stimme klang rau und brüchig.
Roger nickte. „Dann hör mir jetzt mal gut zu, mein Junge. Was ihr zwei durchgemacht habt, das kann sich keiner vorstellen, der aus einer halbwegs intakten Familie kommt. Und was deinen Bruder angeht, ist es ein Wunder, dass er lebt und gesund wird, was die Hauptsache ist. Und wie es dazu kam, dass jemand wie Jeremy ihn gefunden und bei sich aufgenommen hat und erkannt hat, dass da ein liebenswertes Wesen in ihm steckt, das musst du die beiden selbst fragen. Und warum ein Typ von der Gepäckstation so irre ist und glaubt, dein Bruder sei für alles zu haben, auch wenn er „nein" sagt, das wird dieser Alexander klären."
Rory schloss verschämt die Augen. Er wusste, wovon Roger da sprach. Das alles war ihm klar. Was er nicht klar haben wollte, war die Vorstellung, dass Callum sich solchen Typen jahrelang für Geld ausgeliefert hatte, solchen Typen, die sich mit Gewalt holten, was sie sonst nicht kriegten. Gewalttäter, wie sein Vater einer war. Schlimmer noch. Typen, die sich Sex mit Gewalt nehmen wollten. Es wäre seine Aufgabe gewesen, ihn davor zu beschützen. Wie konnte er in Sicherheit sein, wenn Callum das so lange Zeit nicht war?
„Ich muss die beiden nicht fragen", brachte er dann heraus. „Das sieht selbst ein Idiot, dass die beiden zusammengehören. Der Prinz und der Bettelknabe. Der Verführte und der Verirrte. Mir wird nur gerade klar, dass ich viel zu tun hätte, wenn ich jedem einen auf's Maul geben wollte, der meinem Bruder was angetan hat. Und ich war nicht da, um es zu verhindern."
„Du bist jetzt da. Das ist viel wichtiger."
Der Typ war tatsächlich ein Heiliger. Wieso sagte der so kluge Dinge?
„Sag mal, hast du das irgendwo gelernt? Immer das Richtige zu sagen?"
Roger schaute etwas überrascht. „Nein, sicher nicht, frag meine Ex- Frau."
„Oh, Mann."
„Und wenn du diesem J eins auf's Maul gibst, dann sprich das vorher mit Alexander ab."
Rory grinste. „Mach ich.