CN: Trauma, Medikamentenmissbrauch
Fab stoppte das Video von Mitchs Aussage von vor vier Jahren mithilfe seines Tablets. Schweigen war die Antwort. Cian spürte deutlich die traurigen Blicke seines Teams auf sich. Ihm stellten sich die Nackenhaare auf. Wie sehr er dieses elendige Mitleid verabscheute. Er starrte auf Mitchs rotes, im Zorn verzerrtes Gesicht, das an die Wand projeziert und eingefroren vor ihnen schwebte. Abrupt wandte der Kriminalpsychologe sich um und ignorierte sein wild klopfendes Herz, das in Trauer und Verzweiflung zerspringen wollte. Drückte die Bilder zurück, die seine Gedanken zu übermannen drohten.
Durchschnaufend nahm er Pheobes Fallakte zur Hand und notierte die wichtigsten Eckdaten zu ihrem Mord am Whiteboard: Sonntag: 06. Juni 2015, Todeszeitpunkt: 05:50-06:30a.m., Tat-/Ablageort: identisch, Prospect Cemetry, Grab von Sean Finnigan (Vater, leiblich), Zeugen: keine, aufgefunden von: Mitchell O'Malley (Ehemann) und Laudrey O'Malley (Schwager), identifiziert durch: Dr. Cian Finnigan (Bruder, leiblich)
Cian verfluchte seine zitternden Hände, die dafür sorgten, dass die Schrift beinahe vollkommen unleserlich erschien. Sein Team war clever und hielt die Klappe. Mit dem Rücken zu den anderen, atmete der Kriminalpsychologe tief durch und versuchte, den sich immer mehr aufstauenden Druck in seinem Inneren abzubauen.
"Freddy, was g-gibt es zum Tatort zu sagen?", würgte Cian hervor.
Fab warf die entsprechenden Fotos des blutigen Disasters an die Wand. Cian wich das Blut aus dem Gesicht und spürte, wie seine Finger sich krampfartig um die Stuhllehne vor ihm schlossen. Er hörte nicht, was der ältere Mann zu den Einzelheiten der ungewöhnlichen Fundstücke am Tatort sagte, denn das Rauschen in seinen Ohren übertünchte jegliche anderen Geräusche. Cian war selbst erstaunt, dass er scheinbar dennoch an den strategisch richtigen Stellen genickt zu haben schien.
"Soll ich die Fotos der Obduktion aufrufen?", fragte Fab mit skeptischer Miene seinen Chef betrachtend.
Dieser neigte nur leicht den Kopf zur Bestätigung. Doch als die Bilder seiner toten Schwester auf der Wand erschienen - so leblos, so still, so vollkommen bleich und ohne jeglichem Anflug von Leben - überollte es Cian plötzlich. Er wandte sich ab und griff blind nach seiner Jacke. Ohne weitere Beachtung seines Teams, oder auf die Rufe von Fab zu reagieren, stürmte er aus der Besprechung und bog in die nächste Toilette ab.
Er verschwand in einer der Kabinen. Cian erbrach sich geräuschvoll in die Kloschüssel. Er wusste nicht genau, wie lange er würgend über dem Ding hing, aber er war froh, dass er außer Kaffee nichts anderes zu sich genommen hatte.
Eine weitere schlechte Angewohnheit. Regelmäßiges Essen war zwar wichtig für die Psychohygiene, das wusste Cian natürlich, doch verfolgte er dies schon lange nicht mehr. Oft aß er den lieben langen Tag nichts, nur um dann mitten in der Nacht heißhungrig vor dem Kühlschrank zu stehen und wahllos alles in sich hineinzustopfen, was ihm zwischen die Zähne kam.
Der Kriminalpsychologe richtete sich ermattet auf und schleppte sich zu den Waschbecken im Vorraum. Er spülte sich den Mund aus und wusch sich das Gesicht. Verfluchte seinen galoppierenden Herzschlag, das Zittern seines Körpers und den eisigen Schweiß, der sein Rückrat herunter rann. Mit fahrigen Bewegungen kratzte sein Daumennagel immer wieder über die tättowierte Triskele in seiner Armbeuge. Ein Sicherheitsverhalten, dass ihn früher in seiner Jugend immer beruhigt hatte. So konnte er nicht wieder zu seinem Team zurück.
Cian griff in seine Jackentasche und fischte das Medi Care heraus. Er nahm einen der Injektoren zur Hand und drehte an einem der Verstellkappen. Dann zog er sein Hemd hoch und spritzte sich das Zeug in den Bauch. Die Benzodiazepine und anderen Tranquilizer wirkten nach einigen Minuten und Cian kam runter. Er spürte, wie sein Sympathikus herunterfuhr, seine Panik nachließ. Natürlich waren diese Medikamente eigentlich gegen seine Erkrankung, gegen seine Anfälle. Und nicht für sowas gedacht. Dass er sie hier und jetzt schlicht missbrauchte, war ihm durchaus klar. Doch interessierte es Cian einen Scheiß. Er sah in den Spiegel und in seine geröteten Augen mit den geweiteten Pupillen.
Verdammt, wann hatte er eigentlich so dermaßen den Halt verloren? Wann genau hatte er den Absprung verpasst? Wann war die Verwandlung von einem tüchtigen Psychologen, der alles gebacken bekam, zu einem abgefuckten Junkie vor sich gegangen? Ohne, dass er es gemerkt hatte?
Cian wandte seinen Blick ab und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Team.