CN: Religiöser Fanatismus, Mord (erwähnt), körperliche Gewalt (erwähnt), sexuelle Gewalt (impliziert)
Geschäftig folgte Eddy ihrem Chef ins Besprechungszimmer, in dem bereits die anderen Teammitglieder warteten. Der Videocall mit den Deutschen hatte einiges ans Licht bringen können und die Doktorandin fragte sich, wie es nun wohl weitergehen sollte.
Die Ungereimtheiten, die es in den Mordphasen gab, machten Eddy stutzig. Wieso hatte der Täter in den 80ern so anders gehandelt? Oder hatte er das gar nicht?
Grübelnd nahm sie neben Fab Platz und ließ sich von ihm einen warmen Kräutertee einschenken. Cian hingegen blieb vor dem Whiteboard stehen und malte einen Zeitstrahl an. An eines der Enden schrieb er das Datum 14.07.1986 und an die Pfeilspitze 23.03.2019.
"Willkommen zur ersten offiziellen Runde Faktenhören und Brauchsagen, Kinder. Fab hat euch auf meinen Wunsch hin einen Ordner mit allen Infos auf eure Tablets geladen, die gestern im Gespräch mit den deutschen Behörden rumgekommen sind. Zunächst hätte ich es gern, dass wir uns ganz auf die grobe Struktur konzentrieren. Wenn ihr gestattet, übernehme ich die Rolle des Killers?"
Eddy hob erstaunt ihre Augenbrauen. Die Rolle des Killers? Verwirrt sah sie die anderen an, doch die Männer und Frauen in der Runde nickten nur mit ernsten Mienen und sahen dann abwartend zu Cian.
"Gut. Ich beginne mit meinem Mordzug im Juni 86. Warum?"
"Deine Toleranzschwelle ist überschritten. Bedenkt man die Art deines Mordes, dann hat dich etwas aus der Fassung gebracht", führte Mary-Ann, die Kriminologin des Teams, an.
Eddy staunte, wie selbstverständlich Cian das Ich und die anderen das Du annahmen.
"Okay. Aber was könnte es sein, was das bewirkt hat?", fragte Cian weiter.
"Bedenkt man, dass dein Opfertypus über all die Jahrzehnte so stabil geblieben ist? Eine junge Frau mit blonden, langen Haaren und hellen Augen. Vermutlich künstlerisches oder philosophisches Studium mit energetischer Ausstrahlung", antwortete die Pathologin Susana.
"Sehr gut. Ja, diese Frau hat mich auf besondere Art berührt. Etwas in mir bewegt. Ich kann meine Gefühle für sie nicht mit dem Bild in Einklang bringen, das ich von mir habe. Ich spüre -"
"Begierde und den damit verbundenen Ekel", führte Fab aus und starrte dabei auf die Tischplatte vor sich.
So zusammengesunken hatte Eddy den sonst extravertierten jungen Mann noch nie gesehen. Vorsichtig stupste sie ihn an und goss ihm noch einen warmen Tee ein. Dankend lächelte er und legte die Finger um die dampfende Tasse, mied dabei aber noch immer ihren Blick.
"Interessant, Fab!", freute sich Cian. "Weiter. Wieso gerade diese Emotionen?"
"Weil du auf eine verquer-religiöse Art erzogen wurdest."
"Woran machst du das fest?"
"An den Worten, die du deinen Opfern auch heute noch - wenn auch auf einer anderen Sprache - in den Rücken ritzt", traute sich nun zum ersten Mal auch Eddy, sich zu Wort zu melden.
Cian nickte ihr bestätigend zu und auch Pater O'Malley machte zustimmende Brummgeräusche. Eddy freute sich, dass sie das Wechselspiel langsam zu verstehen schien.
"Ich habe also den Drang, sie für meine begangene Sünde zu strafen. Ich muss meinen Ekel loswerden?"
"Auch. Aber vor allem scheinst du dem Wahn verfallen, diese Frauen würden dich absichtlich verführen", ließ sich Fab erneut leise vernehmen.
"Mhm. Du hast recht, mein Freund. Ich bin also noch dazu einer von den Guten. Ich schütze die anderen Männer davor, dieser bösen Kreatur zu verfallen. Ich morde zum ersten Mal. Und muss die Leiche loswerden. Wohin bringe ich sie?"
"Warum lässt du sie nicht dort?", fragte Eddy verwirrt.
Cian sah sie kurz mit gerunzelter Stirn an.
"Warum fragst du das?"
"Weil du das in Dublin und Schottland so gemacht hast."
Überrascht sahen alle Teammitglieder zu ihr herüber. Eddy spürte, wie sie leicht errötete. Sicher hatte sie mal wieder etwas Dummes gesagt.
"Stimmt. Früher war ich wesentlich vorsichtiger. Ich habe die Leichen verscharrt. Habe dafür gesorgt, dass sie nicht zu schnell gefunden werden würden. Doch Jahrzehnte später ist es mir plötzlich egal."
Cian notierte beide Vorgänge, wie bisher alle anderen Unterschiede in den MOs auch, am Whiteboard. Eddy erfüllte es mit Stolz, etwas Produktives beigetragen zu haben und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse.
Cian drehte sich wieder zur Task Force herum und schritt vor ihnen überlegend auf und ab.
"Zurück zur vorherigen Überlegung. Ich will die Leiche verstecken und dafür einen geeigneten Ort auswählen. Ich entscheide mich für den Friedhof in Nieblum. Warum?"
"Er ist in der Nähe?", schlug Eddy vor.
"Nein, das Opfer stammte aus Wyk auf Föhr."
"Er ist geeignet. Du weißt schon. Klein und verwinkelt?", wagte Freddy einen Einwurf.
"Nein. Ich habe mir Bilder angesehen. Der Friedhof ist ziemlich groß und grenzt direkt an einen Park. Außerdem gibt es regelmäßige Besichtigungen."
"Vielleicht hast du eine besondere Verbindung zum Friedhof", schlug O'Malley vor.
"Es könnte sein, dass deine Verwandten dort begraben liegen oder du selbst dort früher jeden Sonntag zum Gottesdienst gegangen bist. Wenn du dann an den Gräbern vorbeigehst, kannst du deine Opfer besuchen und dich so an deine Taten erinnern. Dich überzeugen, dass du eine göttliche Tat vollbracht hast. Es ist noch einmal ein Beweis dafür, dass du in Gottes Namen gehandelt hast."
"Der Ansatz ist sehr vielversprechend und den würde ich gern zunächst so übernehmen, Laudrey. Ich habe das erste Mal gemordet, doch dann begegnet mir wieder eine dieser Frauen. Ich bin nicht impulsiv, dagegen sprechen die regelmäßigen Zeitabstände. Aber?"
"Aber du kannst das Verlangen dennoch nicht unterdrücken. Die Begierde, die diese Frauen in dir auslösen. Wie ein Freier, der doch immer wieder zurück zu seinem Subjekt der Lust kommt, zieht es dich zu diesen Frauen hin. Bis du es nicht mehr aushältst. Doch anstatt dich hinzugeben, rastest du aus, denn das ist besser. Es ist richtig und lässt sich mit deiner verqueren Denkweise vereinbaren. Wenn du sie tötest, tust du einen Dienst an der Menschheit. Und der Ekel nimmt ab. Für eine gewisse Zeit."
Für einige Augenblicke blieb es nach Fabs intensiven Worten still und auch Eddy war bewusst, dass in seinen Worten mehr mitschwang, als reine Verhaltensanalyse. Die Doktorandin fragte sich, ob der Analyst in der Vergangenheit negative Erfahrungen mit gewalttätigen Männern gemacht hatte. Cian räusperte sich.
"Danke, Fab. Ich sehe das ähnlich. Warum unser Mörder seinen MO dann plötzlich so drastisch verändert hat, ist die große Frage. Ich vermute, dass wir es entweder mit einem Trittbrettfahrer zu tun haben, oder mit einem Generationswechsel. Daher würde ich gern den genauen MO anhand der Mordszene in der Gasse einmal nachstellen. Ich bräuchte dafür nur einen Ian?"
Schwarz meldete sich und Cian bat ihn an seine Seite.
"Und natürlich eine Ms Six", meinte der Kriminalpsychologe und sah Eddy lauernd an.
Als sich seine Lippen zu einem diabolischen Grinsen verzogen, ahnte Eddy nichts Gutes.