CN: Trauma (impliziert), häusliche Gewalt (impliziert)
Obwohl es kurzfristig war, ließ sich Ian Mulligan auf eine weitere Vernehmung ein. Bereits einige Stunden später saß er im Verhörraum und wartete dort auf Cian, der sich zunächst mit einer Tasse Kaffee hinter dem durchlässigen Spiegel im angrenzenden Raum verschanzt hatte und den blonden Mann still beobachtete. Es war nicht so, dass er Ian nicht glaubte, was er ihm vor vier Monaten berichtet hatte. Doch damals hatte er unter Schock gestanden, war psychisch aufgrund des erlebten Traumas instabil gewesen und hatte schlicht und ergreifend keine vollkommen adäquate Aussage treffen können. Das war nicht toll, aber nachvollziehbar. Cian nahm ihm das nicht übel und machte dem Mann daraus sicherlich keinerlei Vorwurf. Mit einem lauten Knall landete die Kaffeetasse auf der Tischplatte, an der der Kriminalpsychologe lehnte und das Heißgetränk schwappte über seine Finger. Zischend sog Cian die Luft ein und gestand im Stillen, dass er vielleicht nicht ganz so viel Verständnis für die Erinnerungslücken des traumatisierten Ian aufbringen konnte, wie es angebracht wäre. Er wollte endlich handfeste Ergebnisse erzielen, anstatt in diesem Fall nur schleppend voran zu kommen und scheinbar sinnlos herumzueiern. Frustriert rubbelte Cian sich über sein Gesicht und seufzte. Es half ja nichts, manchmal musste man sich durch diese Phasen kämpfen und auf den Durchbruch hoffen. Er stieß sich vom Tisch ab und verließ den Beobachtungsraum.
Im Flur warteten bereits drei Mitglieder seines Teams auf ihn. Überrascht zog er die Augenbrauen in die Höhe. Freddy öffnete als Erster den Mund und hielt ihm zusätzlich einen Wisch mit irgendwelchen Werten vor die Nase.
"Ich habe endlich die Laborergebnisse vollständig auswerten können. Ich weiß, es hat unverzeihlich lange gedauert, aber was sollte ich auch tun! Ich meine, denk' bitte dran, dass am ersten Tatort der Ehemann alles verschüttet hat und am zweiten bereits fast alles verdunstet war und ... ja", versuchte der Forensiker sich um Kopf und Kragen zu erklären.
"Die Analyse war ein einziger Spießrutenlauf. Ich bin von A nach B gehetzt, war am dritten Tatort, habe mich mit dem dortigen Revier herumgeschlagen, die Spurensicherung war ein einziger Witz und -"
"Freddy!", unterbrach ihn Cian sanft aber bestimmt. Mit einem neugierigen Funkeln in den Augen sah er den älteren Mann an und deutete auf die Analysen der Laborwerte. Hektisch nickte dieser und schluckte aufgeregt.
"Verzeihung. Dieser Sud in den Messingschalen ist nicht einfach irgendein Sud, sondern eine Art Tee. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob man ihn trinken kann. Aber er besteht zumindest aus aufgebrühten Kleeblättern."
Erstaunen zeigte sich nicht nur auf Cians Gesicht. Auch die anderen in ihrer kleinen Runde hier auf dem Flur wirkten verblüfft. Doch zumindest konnte der Kriminalpsychologe mit dieser neugewonnen Information etwas anfangen.
Dann wird es wohl mal wieder Zeit für einen Besuch bei meiner Mum, schlussfolgerte er und machte sich eine geistige Notiz, Mitch auf Knien anzuflehen, ihn zu begleiten und als Puffer zu dienen. Ansonsten wäre er der Fürsorge seiner Familie noch ganz allein ausgesetzt, sollte er sich lediglich den VW Käfer seines Kumpels leihen. Als Freddy ihn noch immer erwartungsvoll anstarrte, wurde Cian bewusst, dass dieser auf eine wie auch immer geartete Reaktion wartete.
"Das sind super Neuigkeiten, Fred. Das war gute Arbeit und ich glaube, es wird uns vielleicht weiterbringen können. Danke dir", meinte er daher zu dem Forensiker, der glücklich nickte und sich wieder in sein Labor verzog.
Erwartungsvoll wandte Cian sich also den anderen beiden Wartenden zu. Obwohl Eddy vermutlich einfach hier stand, da sie ja an Ians Verhör teilnehmen sollte. Blieb also die Frage, was Fab auf der Seele brannte. Milde lächelnd, bedeutete Cian dem Analysten, sein Anliegen vorzutragen.
"Osín will wissen wann du die kleine Becky morgen befragen möchtest und wo?", traute sich der jüngere Mann und sprach dabei von dessen Pflegebruder, der inzwischen als Sozialarbeiter tätig war.
"Ah", machte Cian und fasste sich betreten an die Stirn. Das hatte er vollkommen verdrängt. Aus einem guten Grund, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Beckys Augen verfolgten ihn noch immer bis in seine Träume. Vermutlich sollte er darüber mit seinem Sponsor reden. Aber das verschob Cian auf später.
"Sag ihm gegen drei am Nachmittag und in meinem Büro. Ich will es dem Mädchen ersparen, aufs Revier kommen zu müssen. Bei uns ist es doch wesentlich gemütlicher."
Fab nickte und machte sich eine Notiz auf seinem Tablet. Als der Nerd jedoch noch blieb, anstatt wieder abzuzischen, legte Cian die Stirn in besorgte Falten.
"Gibt es noch etwas, Fab?"
"Mhm", kam eine gemurmelte Antwort.
Cian warf Eddy einen kurzen Blick zu und deutete auf die Tür zum Verhörraum. Die Doktorandin verstand und begab sich schon einmal hinein, um ihren Zeugen zu begrüßen.
Aus Fabs Schultern wich ein wenig Anspannung, doch den Blick hielt er weiter gesenkt. Cian blieb still, während er seinem Freund etwas Zeit gab, um sich zu sammeln.
"Ich weiß nicht, ob ich noch weiter an dem Fall arbeiten kann, C", kam es dann leise, fast schüchtern und so unglaublich unpassend von dem ansonsten aufgedrehten und fast schon paradiesvogelbunten Analysten.
"Ist es wegen der Herabwürdigung, die die Frauen erfahren?", fragte Cian vorsichtig nach. Fab zuckte die Schultern und knabberte an seiner Unterlippe.
"Ich werde dich nicht zwingen, weiter an der Task Force mitzuarbeiten. Aber ich möchte auch nicht lügen: Ohne deine Hilfe wären wir noch lange nicht so weit in den Ermittlungen."
Zähneknirschend hob Fab den Kopf und Cian begegnete den eisblauen Augen mit Verständnis und - wie er hoffte - Zuversicht.
"Was kann ich tun, um es dir leichter zu machen?", wollte er von Fab wissen. Dieser sah ihn überrascht an und wieder einmal zeigte sich, wie wenig Cian von dem jungen Mann vor sich wusste.
"Ich - ich weiß nicht. Also wenn es möglich wäre, dann wäre ich gern bei den Verhören dabei? Von jetzt an einfach etwas aktiver involviert? Keine Ahnung ... ich habe das Gefühl, dass dieser Fall in mir die alten Gefühle aufwühlt, nicht mehr die Kontrolle zu haben, unterdrückt zu werden. Ich weiß, dass das nicht stimmt und dass das nicht passiert, aber -", brach Fab seine Erklärungsversuche ab.
Cian nickte, nicht sicher, ob er Fabs Vorschlag guthieß. Doch er verstand, dass sich mehr dahinter verbarg.
"Es wäre nicht das erste Mal, dass du Verhöre mit anleitest und ihnen beiwohnst. Also habe ich nichts dagegen, solange ich glaube, dass es weder dir noch anderen schadet. Aber ich möchte von nun an nicht mehr, dass du bei den aktiven Runden von Faktenhören und Bauchsagen dabei bist", beschloss Cian und fuhr fort, bevor Fab protestieren konnte.
"Ich denke nicht, dass es dir momentan guttut, bei diesen Rollenspielen anwesend zu sein und sie zu durchleben. Wir zeichnen sie auf und du kannst sie danach ansehen und mir dann deine Ansichten mitteilen. Darüber diskutiere ich auch nicht."
Geschlagen nickte Fab mit dem Kopf und lächelte dann zaghaft. Sie schlugen ein und der Analyst versprach, dass sie sich morgen Nachmittag im Büro sehen würden.
Cian stieß leise die Luft aus und massierte sich die Nasenwurzel. Innerlich stellte er sich bereits auf einen Spießrutenlauf ein, den er in den nächsten Tagen zu bewätligen haben sollte. Die Verhöre, die er führen wollte, häuften sich, neue Informationen und Indizien tauchten auf und wollten zu einem Bild zusammengefügt werden und nun drohten seine Mitarbeiter auszubrennen. Der Kriminalpsychologe nahm sich zusammen, schnaufte noch ein letztes Mal tief durch und trat dann ebenfalls in den Verhörraum ein, um sich zunächst auf Ian Mulligan zu konzentrieren.
Eins nach dem anderen, C. All das zeigt nur, dass du die Puzzleteile langsam richtig zusammensetzt. Geduld ist eine Tugend, die du doch sonst so gut beherrscht hast.