CN: Medikamentenmissbrauch
Cian Finnigan fühlte sich wie in eine warme, dicke Decke gepackt. Die Betäubungsmittel hatten ihn in einen angenehm schläfrigen Zustand versetzt und seine Gefühle ganz dumpf und weich werden lassen. Dennoch gingen ihm die Ausführungen Susanas nah. Er starrte nicht direkt auf die vor ihm liegenden Obduktionsunterlagen, das packte der Kriminalpsychologe einfach nicht. Aber die Blöße geben, noch einmal vor seinem Team auszurasten, konnte er sich auch nicht. Also heftete er seinen Blick auf einen Punkt knapp neben den Bildern auf die Tischplatte. Seine Ohren stellte er halb auf Durchzug, sodass er zwar verstand, was die Pathologin sagte und es auch mit den Mordfällen in Zusammenhang bringen konnte, den Teil, der mit seiner Schwester zu tun hatte, aber herausfiltern konnte. Im Verdrängen war er schon immer ein Meister gewesen.
Das Vorgehen des Mörders war so absurd speziell, dass es einfach nicht zufällig beigefügte Schnitte sein konnten. Nein, es steckte sicher mehr dahinter. Er arbeitete sich systematisch an den Körpern vor. Begann bei den Augen. Den Toren zur Seele, wie es in der Psychologie so schön hieß, und endete mit einer Schändung des Intimbereichs. Cian machte sich eine geistige Notiz nach der nächsten. Sammelte den Stoff gedanklich für ihre erste Runde Faktenhören und Bauchsagen. Aber da war noch etwas, was ihm merkwürdig vorkam.
"Sollen wir mit dem zweiten Opfer weiter machen?"
Der Kriminalpsychologe löste sich zäh aus seinen Überlegungen und sah zu Fab herüber.
"Sicher, warum nich'", lallte Cian leicht und erhob sich, um die Fakten zu Penny Six anzuschreiben:
Freitag: 23. März 2019, Todeszeitpunkt: 05:45-06:25 p.m., Tat-/Ablageort: identisch, Sixth Leinster Street South, Zeugen: Ian Mulligan (Augenzeuge), Tanessa Clarck (Zeugin), Anderson Ripley (Zeuge), aufgefunden von: Ian Mulligan, identifiziert durch: Horatio Six (Vater, leiblich)
"Gab es Unterschiede in den Verletzungen?", wandte Cian sich an die Pathologin. Die rothaarige Ärztin schüttelte verneinend den Kopf und führte aus, dass es zwar kleinere Abweichungen gäbe, da die äußeren Umstände am Tatort natürlich anders gewesen seien, aber der Ablauf an sich derselbe gewesen sein müsse.
"Allerdings war er raffinierter."
Cian hob eine Augenbraue und öffnete den Mund.
"Wieso raffinerter?", kam ihm Eddy zuvor.
"Nun, seine Schnitte waren wesentlich bestimmter. Hat er vorab noch hier und dort gestochert, war er bei Ms Six recht beherzt. Er hat auch sehr zielsicher bei jedem der drei ersten Schnitte die Venen angeritzt. Dazu gehört schon so einiges."
Wieder beschlich Cian so eine Vorahnung, die sein benebeltes Hirn nicht zu greifen vermochte. Er massierte sich frustriert die Schläfen.
"Freddy, was hast du für uns?"
Der ältere Mann gab Fab ein Zeichen und der Analyst schmiss mithilfe seines Tablets nun wieder Tatortfotos - ohne Leiche - an die Wand. Dort sah man Großaufnahmen der Bestandteile, die der Mann fürs Obskure für interessant erachtet hatte.
"Wir haben hier die Messingschale, die auch am ersten Tatort gefunden wurde. Der Sud war bereits fast vollständig verdampft, als wir ankamen. Daher dauert die Analyse noch an und am Tatort auf dem Friedhof wurde er ja leider verschüttet, daher fehlen in dem Fall die Daten komplett. Ich gebe aber Bescheid, sobald ich da mehr zu sagen kann. Die Schüssel selbst ist nichts Besonderes, die kann man in jedem Ramschladen kaufen. Sowohl an der ersten als auch der zweiten Leiche und am Boden wurden Rückstände von Ebereschenasche gefunden. Die ist hier in Irland, vor allem in den ländlichen Gebieten, gar nicht so schwer zu bekommen, allerdings in Dublin eher unüblich. Außerdem konnte ich Salbei, Lavendel und Tollkirsche sicherstellen. Verbrannte Zweige befanden sich in einem Bündel drapiert neben den Leichen. Genau wie ein Kranz aus in Dreiergrüppchen angeordneten Kleeblättern um die Köpfe der Frauen."
Ein Bild folgte dem nächsten, während Freddy seine Erklärungen ablieferte und in Cian ein stiller Verdacht keimte. Ein Seitenblick zum Bruder seines besten Freundes zeigte ihm, dass auch dieser eine Idee zu haben schien. Zeit, zum Brainstormen.
"Unser Täter ist ein Kobold?"
Alle Augen richteten sich verwirrt auf Fab. Der Schotte fläzte auf seinem Stuhl und grinste in die Runde.
"Ja, was denn? Ihr Iren glaubt doch an sowas, oder nicht. Allerdings haben diese vierblättrigen Pflänzchen diesmal nicht gerade zum Goldtopf am Ende des Regenbogens geführt."
Unglaublich. Cian gab dem Mittzwanziger einen Klaps auf den Hinterkopf und raunzte ihn an, sich zusammenzureißen. Er mochte Fab wirklich gern, sie hatten schon viel zusammen durchgemacht. Doch manchmal war der Mann einfach nur pietätlos.
"Zufällig ist das Kleeblatt auch Irlands Nationalsymbol. Und die Kleeblätter am Tatort hatten nur drei Blätter", stellte Freddy kopfschüttelnd klar. Fab verdrehte nur entnervt die Augen.
"Gut, werden wir also wieder ernst. Ich denke, wir haben erst einmal genug gesammelt, um einige Überlegungen anzustellen. Ich möchte noch keine Profiling-Runde starten, bevor ich nächste Woche mit Ms Clarck und Mr. Ripley geredet habe, aber spekulieren können wir ja schon mal."
Cian holte sich von allen ein zustimmendes Kopfnicken ein und fuhr dann fort.
"Ok, schön. Ich denke, dass wir uns darin einig sind, dass der Täter ein großes Eskalationspotential in sich birgt. Ich bin davon überzeugt, dass es nicht bei den zwei Opfern bleiben wird."
"Warum nicht?", hakte Eddy nach.
"Dazu ist er zu brutal, zu konsequent und zu wahnhaft. Nein, so jemand wie er lässt das Töten nicht einfach sein. Dazu ist er schlicht nicht in der Lage."
Und da war es wieder, dieses Gefühl, dass ihn etwas an den Morden so störte.
"Was murmelst du denn da, C?", fuhr Fab ihn barsch an.
Der Kriminalpsychologe legte den Kopf schief und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen das Whiteboard.
"Fab, du kannst doch auf alle erdenklichen Datenbanken zugreifen, oder?"
"Sicher. Und wenn mir der Zutritt verweigert wird, hält mich das in der Regel auch nicht lange auf."
"Tu' mir den Gefallen und such in den nächsten Tagen mal nach Fällen mit ähnlichem Modus Operandi. Nicht zwingend in Irland oder nicht unbedingt in den letzten Monaten oder Jahren, denn ich denke, dass hätten wir mitbekommen. Ich habe da so einen dunklen Verdacht."
Der Analyst machte sich eine Notiz und Cian wandte sich dem nächsten Punkt zu, den er sich im Geiste notiert hatte.
"Was haltet ihr von dem rituellen Drumherum?"
"Ist das alles wirklich so wichtig?", ließ sich Eddy vernehmen. Sie wirkte nicht arrogant oder anzweifelnd, wie noch am Morgen, sondern eher neugierig und interessiert, ihre schiefergrauen Augen blitzten intelligent.
"Frage dich bei einem Mörder stets was hat er getan, was er nicht hätte tun müssen, um hinter seinen MO zu kommen", erläuterte Cian daher nonchalant.
Eddy nickte: "Die Kräuter, der Sud und die Inschrift auf dem Rücken der Opfer - das alles war ja eigentlich überflüssig. Wäre es ihm nur darum gegangen, junge Frauen zu töten."
"Genau. Warum also, hat er es dennoch getan?"
"Weil - weil - Er es für nötig hielt?"
"Warum?"
"Ich weiß es nicht."
"Er hat sie als Sukkubus bezeichnet, nicht?", meldete sich nun Laudrey O'Malley zu Wort und Cian tippte sich bestätigend mit dem Zeigefinger an die Nasenspitze.
"Also suchen wir jemanden, der diese Frauen in seinem Wahn für Männerseelen verschlingende Dämonen hält. Aber das passt nicht zum Rest des Rituals. Das Vorgehen passt nicht zu uns Christen. Oder, Pater?", hakte Schwarz verwirrt nach.
"Nun, nein. Abgesehen davon, dass man Satan und seine Dämonen heutzutage für die bösartigen Gegenspieler Gottes hält. Der Kult, der sich in den Jahrzehnten daraus entwickelt hat, ist zwar fraglich, aber es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen. Die Kelten hingegen verwenden viele der Bestandteile für ihre Zeremonien."
"Ja, soetwas habe ich mir auch schon gedacht", bestätigte Cian die Ausführungen des Geistlichen.
"Aber passt denn dann das Gottesthema des Wahns mit hinein? Glauben die Heiden überhaupt an Götter?", fragte nun auch Freddy.
Cian zuckte bei dieser Bezeichnung zusammen, ließ sich ansonsten aber nichts anmerken. Laudrey schwieg bewusst zu diesem Thema. Als katholisches Kirchenmitglied vertrat er einerseits die Interessen dieser Institution und Glaubensgemeinschaft und wusste andererseits, wie sehr Cian und seine Familie unter der Diskriminierung und Herabwürdigung seiner religiösen Gesinnung litt.
"Wir sind ja nicht ungläubig, wir glauben nur nicht an den Heiligen Geist. Aber wir glauben an die Ganzheitlichkeit und ein Leben im Einklang mit der Natur und somit auch an die Naturgötter. Wie an den heiligen Baum Yggdrasil oder aber auch an Dana, die Muttergöttin. Es könnte also gut sein, dass unser Mörder keltische Wurzeln hat, dazu würde auch das Gälisch passen, und in seinem Wahn die Dämonen aus dem Christentum antizipiert", führte Cian aus.
Sie hatten noch eine Weile darauf rum gedacht und sich schließlich darauf geeinigt, dass mit den bisherigen Informationen, dies die sinnigste Erklärung zu sein schien. Cian machte sich mit Partner auf den Weg aus dem Revier und nach Hause, als er von Eddy vor dem Gebäude aufgehalten wurde. Die Blondine ging ihm auch in den Stöckelschuhen gerade einmal bis zur Brust und so musste er den Kopf neigen, um sie anzusehen.
"Cian, ich wollte nur sagen, dass du aufpassen solltest. Das Zeug, dass du nimmst - das bringt dich um."
Wütend verdunkelten sich Cians schokoladenbraune Augen. Das war ja wohl nicht ihr Ernst! Und er hatte gedacht, sie hätte dazugelernt.
"Dieses Zeug, Eisprinzessin, rettet mir das Leben."
Er griff in seine Jackentasche und präsentierte ihr höhnisch das Medi Care. "Ohne das bin ich bei meinen Anfällen am Arsch. Eddy, du musst aufhören, die Menschen in Schubladen zu stecken und in Vorurteilen zu denken. Du kannst nicht durch die Gegend rennen und alle unbedacht vor den Kopf stoßen. So funktioniert die echte Welt nicht. Ich glaube, du hast eigentlich eine ganz gute Beobachtungsgabe und das Potential, eine erfolgreiche Profileren zu werden, wenn du lernst. Lerne, zu beobachten, zu analysieren, interpretieren und zu verifizieren. Ich gebe dir ja auch eine Chance nach der nächsten, anstatt dich als unterkühlte, arrogante reiche Bonzentochter abzustempeln."
Tränen schossen in Eddys Augen, doch darauf nahm Cian in diesem Moment keine Rücksicht. Er musste hier einfach mal Tacheles reden, um Eddy zu erreichen.
"W-woher?"
"Der Versace-Hosenanzug, die Prada-Handtasche und der Porsche-Schlüsselbund in deiner Hand sind dezente Hinweise, meine Liebe. Du bist unsicher, Eddy. Und du versteckst es hinter einer Maske aus falscher Arroganz und vermeintlicher Kompetenz. Wir treffen uns am Donnerstag zum Lunch im Ol' Days in der Hawkins Street. Bring dein Profil von heute Morgen mit, das so in die Hose gegangen ist."
Damit drehte er sich herum und wollte losmarschieren.
"Cian?"
Der Kriminalpsychologe warf noch einen letzten Blick über seine Schulter zurück zur Doktorandin und sah sie zitternd im Wind stehen.
"Ja, Eddy?"
"Es tut mir leid."
Nun, das war ein Anfang.