CN: Trauma, Mord (erwähnt), Blut (erwähnt)
Ian Mulligan saß entspannt auf dem unbequemen Stuhl an dem Metalltisch, vor sich eine Flasche Wasser und ein gefülltes Glas, aus dem er ab und an einen Schluck trank. Seine Augen waren noch immer wässrig, blickten aber klar und interessiert in die Welt und das aschblonde Haar war nicht mehr zerzaust und verschwitzt, sondern ordentlich gescheitelt. Auch der Anzug saß adrett. Allgemein zeichnete sich hier für Cian ein vollkommen anderes Bild von dem Mittdreißiger, als vor vier Monaten. Ian schien ein gänzlich anderer Mensch zu sein. Doch der Kriminalpsychologe ließ sich von der äußeren Erscheinung nicht täuschen. Oder besser: Er sah die leicht zitternden Finger, als Ian nach dem Glas griff und Cian sich neben Eddy setzte, die ihren Zeugen gerade abschließend belehrte, bevor sie die offizielle Befragung beginnen sollten. Cian entging nicht das nervöse Räuspern vor jeder Aussage, das dem anderen Mann über die Lippen kam oder der suchende Blick, der immer wieder zur Tür huschte. Ian hatte keine Angst, er war nicht nervös, weil er etwas zu verbergen hatte. Nein, sein Gegenüber litt unter den Folgen des traumatischen Ereignisses. Ian Mulligan hatte einen Mord aus nächster Nähe mit ansehen müssen, war dem Mörder so nahe gekommen, wie es Cian niemandem wünschte und hatte es überlebt. Und was war der Preis? Sein Körper spielte verrückt: Hypervigilanz, Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen - wenn man nach den dunklen Augenringen ging - und vermutlich noch so einiges mehr.
Cian strich sich durch das kastanienbraune Haar und beschloss, es erst einmal ruhig angehen zu lassen. Es brachte ihnen allen nichts, wenn Ian ihnen abschmierte, noch bevor die Befragung richtig begonnen hatte.
"Wie ist es Ihnen seit unserer letzten Begegnung ergangen, Ian?", eröffnete er daher das Gespräch mit einem warmen Lächeln. Ian erwiderte die Geste aufrichtig und nahm noch einen Schluck aus seinem Glas.
"Ähm. Ich - ich hatte so meine Probleme, Dr. Finnigan. Können Sie sich sicherlich denken. Das alles hat mich doch sehr mitgenommen. Ja, sehr mitgenommen."
Cian nickte verstehend. Doch er wartete nur ruhig, ob Ian fortfahren würde. Eddy hibbelte etwas auf ihrem Platz neben ihm und unter dem Tisch legte Cian sanft seine Hand kurz auf ihren Oberschenkel, um ihrem Herumgerutschte Einhalt zu gebieten. Ian brauchte gerade eine ruhige Umgebung. Tatsächlich meldete der Finanzheini sich auch erneut zu Wort.
"Ich habe mir Hilfe gesucht. So, wie Sie es mir geraten haben, nach unserem Gespräch damals."
Verkrampft lächelte Cian und fluchte innerlich. Natürlich freute es ihn, dass Ian sich in Therapie begeben hatte. Ein solches Trauma sollte unter professioneller Anleitung verarbeitet werden ... aber es war für sein Vorhaben nun doch denkbar ungünstig. Therapie in allen Ehren, sie führte nicht selten auch dazu, dass die Erinnerungen aufgrund von durch die Gespräche mit dem Therapeuten entstehenden Effekte eben doch verändert, wenn nicht sogar verfälscht wurden. Natürlich wollte er keinem Kollegen etwas unterstellen. Das passierte nicht absichtlich, sondern kam hin und wieder schlicht vor.
Genau wie der Faktor Zeit, der hier gegen Cian und sein Team spielte. Zeugen erinnerten sich eben besser an das Geschehen, wenn es gerade stattgefunden hatte, als vier Monate danach und wurden mit zunehmendem Konsum von Artikeln und Nachrichten über das entsprechende Ereignis zusätzlich beeinflusst. All das musste der Kriminalpsychologe nun bei Ians Verhör berücksichtigen.
"Es ist gut zu hören, dass Sie auf sich und Ihre Bedürfnisse achten, Ian. Ich möchte mich an dieser Stelle auch noch einmal bedanken, dass Sie bereit waren, noch einmal hier her zu kommen. Ich würde gern einige Dinge bezüglich Ihrer ersten Aussage mit Ihnen durchgehen", meinte Cian.
Der blonde Mann hatte zunächst freundlich dreingeblickt, doch als die Sprache auf seine Aussage kam, war Ian erblasst.
"Ähm", räusperte er sich, "was ist denn damit?"
"Oh, machen Sie sich keine Sorgen. Es sind nur im Verlauf der Ermittlungen einige Dinge zutage getreten, die ich gern abgleichen würde. Dazu wäre es jedoch hilfreich, wenn Sie mir das ein oder andere noch einmal persönlich etwas näher schildern könnten."
Bewusst entschied sich Cian dafür, das Gesagte wie eine Aussage anstatt eine Frage klingen zu lassen. Wie erwartet, bedeute Ian ihm, fortzufahren.
"Was geschah, als Sie Ms Six in der Gasse entdeckten?"
Verwirrt sah Ian ihn an, aber Cian lächelte nur offen und schwieg abwartend.
"Ähm. Ich stürmte auf den Mann zu, der sich über sie beugte und -"
"Wie sah der Mann aus?", unterbrach Cian den anderen Mann jäh. Ian stutzte einen Moment.
"Ähm. Er war - groß und schwer und -"
"Präzisieren Sie 'schwer', bitte."
"Ähm. B-Breit? Also - Ähm - Ich m-möchte nicht unhöflich sein?"
"Gegenüber einem Mörder, Ian?", drängte Cian den Zeugen in die Ecke.
"Ähm. Er war dicker, hatte vermutlich schon so einige Pfunde zu viel auf den Rippen. Und war aber etwas größer als ich, doch nicht so groß wie Sie."
Einige Augenblicke wartete Ian scheinbar darauf, dass Cian wieder etwas einwarf, doch dieser schwieg. Also fuhr der Zeuge fort.
"Ähm. Er t-trug eine Jacke und weite Hosen, in der H -"
"Was für eine Jacke?", fragte Cian wieder nach. Ian stöhnte und leerte sein Wasserglas in einem Zug, füllte nach.
"Ähm", räusperte er sich, "eine braune, altmodische Winterjacke."
"Konnten Sie sein Gesicht sehen?"
"Ähm. Nein, er hatte erst eine ... er hatte erst die Kapuze auf! Oh mein Gott, das hatte ich glatt vergessen. Die habe ich ihm dann runtergezogen, als ich ihn anrempelte und dann hat er immer sein Gesicht weggedreht, aber ich habe seine dunkelbraunen Haare gesehen ... vielleicht waren sie auch schwarz, dazu war es zu düster."
Cian lehnte sich zufrieden zurück. Damit konnte er zumindest etwas mehr anfangen. Er ließ sich noch die weitere Szene beschreiben, ohne Ian zu unterbrechen, bis er zu der Stelle kam, an der das Reinigungsritual beginnen sollte.
"Sie hatten an dieser Stelle vor vier Monaten behauptet, dass der Mörder zu Ihnen kam und sich an Sie presste. Ihnen etwas ins Ohr raunte und dann seinen Aktenkoffer schnappte und ging. Ist das soweit korrekt?", fragte Cian.
"Ähm. Ja, ich denke ... schon?"
"Sie klingen unsicher, Ian."
"Ähm. Nun ja - um ehrlich zu sein, bin ich das auch. Also, es ist schon so abgelaufen, aber ich weiß nicht genau, ob das alles auch wirklich so schnell ging? Ähm. Vermutlich schon aber - ich - ich weiß nicht."
"Waren Sie allein in der Gasse, Ian?"
Verwirrung zeichnete sich auf dem Gesicht des blonden Mannes ab, als der Kriminalpsychologe diese Frage stellte. Dann erhellte Erkenntnis sein Gesicht und Cian beugte sich wie elektrisiert nach vorn.
"Wer war noch dort?", verlangte er zu wissen.
"Ähm. Andy Ripley, Sir", gestand Ian und neben Cian schnaufte Eddy hörbar enttäuscht, denn augenscheinlich war dies keine neue Information.
"Was hat Mr. Ripley in der Gasse getan, Ian?", hakte Cian nach und betrachtete seinen Gegenüber eingehend, der scheinbar unbewusst begonnen hatte, mit seinen Fingernägeln über die empfindsame Haut an seinem Unterarm zu kratzen.
"Ähm. Ich bin nicht sicher? Ähm. Ähm. Er war - Ähm - Er war da", kam die doch eher allgemeine Antwort.
Doch Cian gab noch nicht auf. Seine schokoladenbraunen Augen zuckten zwischen den fahrigen Fingernägeln, die den Unterarm malträtierten und dem entrückten Blick Ians hin und her.
"Was ist dort in der Gasse geschehen, Ian? was hat Andy Ripley dort getan?"
"Ähm. Ich - er - Ähm -"
"War der Mörder noch da?"
"Ähm. Ja."
Cian durchlief ein Schauer. Das hatten sowohl Ripley als auch Clarck anders ausgesagt.
"Hat der Mörder ihn gesehen?"
"Ähm. I-ich denke sch-schon. Er hat w-was zu Andy gesagt. Ähm. Ähm. Aber - Ähm - Ich h-habe nicht gehört - Ähm - was. Und - Ähm - dann kam der Mörder - Ähm - zu mir."
"Und dann?"
"Ähm. Als ich - a-aufsah - Ähm - war Andy wohl in Pe-pennys Blut ausgerutscht?"
"Wieso denken Sie das?"
"Ähm. Was?", wollte Ian sichtlich verwirrt und aufgelöst wissen.
Sanft lächelte Cian ihn an und bewegte nun Stück für Stück seine Hand auf die von Ian zu, bis er vorsichtig die seine berührte. Ian zuckte zusammen und senkte verstört seinen Blick, bis er erkannte, dass er seinen Arm blutig gekratzt hatte. Erschrocken zog er die Hand fort und seine Augen trafen erneut auf Cians.
"Warum denken Sie, dass Andy Ripley in Penny Six' Blut ausgerutscht ist?", bohrte Cian mit ruhiger Stimme weiter.
"Ähm. Weil er ganz verschmiert war davon. Aber ..."
"Aber?", ermunterte der Kriminalpsychologe, als Ian abrupt stockte.
"Ähm. Aber vor allem, weil er es mir in der Gasse gesagt hat!"
Cian triumphierte innerlich. Das war der Durchbruch, auf den er gewartet hatte.