Tanessa Clarck nahm das angebotene Wasser dankend an und Cian hielt einen der Beamten auf dem Flur kurz auf und bat um vier Gläser und eine Karaffe Leitungswasser und zwei Flaschen Sprudel. Eddy wirkte kurz verwirrt, doch Cian lächelte die Doktorandin nur ermutigend an und sie ließ sich nicht weiter beirren. Die Getränke kamen und Cian erhob sich, schloss die Tür zum Verhörraum und verteilte jeweils zwei der Gläser vor den Frauen.
"Sie erlauben?", fragte er nonchalant und bot zunächt Ms Clarck die Karaffe an. Diese schenkte ihm ein angetanes Lächeln und Augenklimpern.
"Oh", stutzte Cian scheinbar und hielt auf halbem Weg inne.
"Verzeihen Sie. Oder ist Ihnen Wasser mit Kohlensäure lieber?"
"Das ist sehr lieb von Ihnen. Nein, nein, still ist vollkommen in Ordnung. Danke."
Cian neigte den Kopf und goss ihr und Eddy ein, dann setzte er sich zurück in die Ecke. Er nahm sein Klemmbrett zur Hand und tauschte einen kurzen Blick mit Eddy, die nun ebenfalls Stift und Papier zückte. Für einen winzigen Augenblick blieben seine Augen an Eddys kirschroten Lippen haften, als die Doktorandin sich mit der Zungenspitze darüberfuhr. Cian schluckte und konzentrierte sich wieder auf die Vernehmung.
Eddy beugte sich einladend nach vorn und blickte der Zeugin offen in die Augen, hielt sicher Blickkontakt, wenn auch nicht penetrant. Immer nur für einige Sekunden. Sehr gut, genau richtig, freute sich der Kriminalpsychologe.
"Ms Clarck, bitte erzählen Sie mir doch, was sich am Abend von Penny Six' Ermordung zugetragen hat."
Keine Frage. Eine offene Aufforderung. Cian und Eddy wollten es neutral und ohne Ms Clarck in eine Richtung zu drängen. Dennoch gab Eddy ihr mit dem Hinweis Abend der Ermordung einen Rahmen vor, sodass die Ausführungen der anderen Frau nicht zu ausufernd werden sollten.
"Wir waren an dem Tag alle mit Prof. Dr. O'Neal im Hörsal zu seiner letzten Vorlesung anwesend. Zumeist sind nur Andy und ich dort, denn Penny recherchiert - nun - recherchierte muss es ja jetzt heißen - abends gern in der Bibliothek zu ihrer Doktorarbeit. Aber an dem Tag war es anders, denn sie hatte noch einen anschließenden Termin mit dem Prof. Ich weiß nicht, worum genau es ging, aber ich vermute stark, dass es etwas mit einem Plagiat-Fall zu tun hat - Sie hatte da so was angedeutet. Na ja. Zumindest verschwand sie mit O'Neal in dessen Büro, nachdem die Vorlesung beendet war und Andy und ich räumten wie immer den Saal auf. Ein ganz schönes Unterfangen, kann ich Ihnen sagen. Ich husche da ja immer nur schnell durch, aber Andy ist sehr pedantisch und beinahe schon kleinlich.
Als Penny aus der Besprechung kam, rief O'Neal Andy zu sich und Penny grinste ganz zufrieden und meinte zu ihm, dass er jetzt bekomme, was er verdiene.
Einige Minuten später stürmte er mit rotem Kopf und funkelnden Augen wieder hinaus. Er schnappte sich seine Sachen und ich lief ihm eilig nach. Wir waren ja mit Ian und einigen anderen Bekannten aus der Uni verabredet. Penny folgte uns ganz gemächlich.
Wollen Sie mich eigentlich gar nichts fragen?", unterbrach sich Ms Clarck verunsichert selbst in ihrem Bericht.
Eddy hatte derweil höflich nickend dagesessen und ihr so immer wieder still den Impuls gegeben, weiter zu reden und sich dabei die ein oder andere Notiz gemacht. Cian schrieb Stichpunkte zu Körpersprache, Mimik und Auffälligkeiten in Stimmlage und Verhaltensänderungen nieder. Arbeitsteilung war bei Psychologen sehr beliebt.
"Mich interessiert zunächst, wie Sie die Ereignisse des Abends wahrgenommen haben. Danach würde ich gern hier und dort noch einmal näher auf Dinge eingehen, die mir oder vielleicht auch meinem Kollegen aufgefallen sind", erklärte Eddy mit ruhiger Stimme.
Ms Clarcks Blick huschte zu Cian, der bewusst nicht aufsah, sondern seine Augen auf sein Klemmbrett gesenkt hielt. Er war hier nicht der Gesprächsleiter, auch, wenn er den Doktortitel vor dem Namen trug.
"Okay. Also: Wir trafen uns dann mit den anderen und beschlossen, durch den College Park abzukürzen, weil wir gern noch ins Pub einige Queerstraßen von der Leinster Street gehen wollten. Dort treffen wir uns gern, wissen Sie. Es ist nett dort und die Preise sind nicht so überteuert. Zumindest fing Andy immer wieder an, Penny anzublaffen, warum sie ihn beim Prof. schlecht gemacht habe. Doch sie meinte nur, er sei ein talentfreies Arschloch und habe von ihr abgekupfert. Als er sie zur Seite schubste, gingen einige der Männer empört dazwischen und Andy entfernte sich etwas von der Gruppe. Er meinte, er ginge schon einmal vor zum Pub, bevor er noch komplett rot sehe und etwas tue, was er hinterher bereue. Penny entschied sich, nicht mehr mit ins Pub zu gehen und stattdessen in die Gasse abzubiegen.
Ich befürchte, ab hier bin ich Ihnen keine große Hilfe mehr, denn wir trennten uns und gingen weiter. Ian blieb zurück, weil er einen Anruf erhielt. Wir kamen am Pub an und gingen hinein. Es war brechend voll, aber wir ergatterten einen Platz in einer der hinteren Nischen und konnten nach einigen Minuten endlich bestellen. Andy berichtete uns dann später mit roten, hektischen Flecken im Gesicht von dem Mord und dass sie Ian verhaftet hatten."
Ms Clarck endete mit ihrer Geschichte und sah Eddy abwartend an. Die Doktorandin dankte der jungen Frau für ihren ausführlichen Bericht und versicherte sich, dass es in Ordnung war, wenn sie Nachfragen stellte.
Cian blinzelte hektisch die bunten Schlieren vor seinen Augen fort, die sich seit einigen Minuten in sein Gesichtsfeld drängten. Partner hatte heute daheim bleibem müssen, um die Zeugen nicht zu verschrecken. Aber er brauchte ihn auch nicht, um zu ahnen, dass sich ein Anfall ankündigte.
"Gab es zwischen Andy und Ms Six öfter Reibereien?", fragte Eddy. Geschickt, wie Cian fand, denn indem sie Mr. Ripley wie Ms Clarck - die scheinbar ein freundschaftliches Verhältnis zu dem Mann pflegte - bei seinem Kosenamen nannte, das Opfer aber nicht, sympathisierte sie mit der Zeugin. Das Wort Reibereien nahm außerdem die Schärfe und klang weniger anklagend.
"Oh ja, Penny hat Andy dauernd irgendwelchen Stuss vorgeworfen. Alles erstunken und erlogen. Sie kam einfach nicht damit zurecht, dass er bei Prof. Dr. O'Neal so beliebt ist und sie eben nur zweitklassige Arbeit geleistet hat."
"Dann war Andy sicher sauer, dass Ms.Six ihn so angeschwärz hat."
"Klar. Wer könnte es ihm verübeln."
"Neigt Andy denn dazu auszurasten?"
Ms Clarck sah Eddy empört an und Cians Augen schossen nach oben.
Ah, stopp. Zu direkt.
"Sie erwähnten, dass Andy ungewöhnlich aufgebracht war. Nur zu verständlich unter den gegebenen Umständen. Es kam zu einem unschönen Wortwechsel im Park und Ms Six fühlte sich durch Andy scheinbar sogar bedroht, als er sie stieß. Kam so etwas schon einmal vor?", schritt Cian nun ein und verbiss sich daraufhin ein Aufstöhnen, weil seine Schläfen schmerzhaft pochten.
"Nun, er kann schon manchmal hitzig werden. Aber nie handgreiflich. Eigentlich ist er sogar eher abgeneigt, fasst andere nicht gern an. Andy hat da einen kleinen Sauberkeitsfimmel."
"Wie lange kennen Sie sich schon?", machte der Kriminalpsychologe weiter.
"Seit acht Wochen. Da startete das Promotionsprogramm bei Prof. Dr. O'Neal."
Cian dankte und übergab zurück an Eddy. Sie schenkte ihm einen bezaubernden Augenaufschlag und wandte sich der Zeugin zu.
"Alles klar. Was ich mich noch gefragt habe: Sie meinten, dass Andy im Anschluss an die Kabbelei auf Abstand ging. Sehr nobel von ihm."
Ms Clarck lächelte über dieses Lob und nickte bestätigend.
"Und dann ging er zum Pub voraus?"
"Ja, ganz genau. Er wollte schon einmal vor gehen -"
"Mhm. Als sie aber dort ankamen und sich einen Platz suchten, war Andy nicht dort?"
"Doch natürlich."
"Er war also auch da?", fragte Eddy irritiert.
"Ja."
Bullshit! Jetzt versucht sie ihn zu schützen, schoss es durch Cians dröhnenden Kopf.
"Wo war er?", hackte Cian nach.
"Wie bitte?"
"Wo genau saß er? Neben Ihnen? Hat er seine Jacke ausgezogen? Was hat er bestellt? Warum ist er noch einmal hinausgegangen? Etwa nur, um zurück zu laufen und sich den Tatort anzusehen, dann zurückzukehren und Ihnen allen von dem Mord und Ians Verhalftung zu berichten?"
Ms Clarck blieb stumm, Tränen glitzerten in ihren Augen, ihre Lippen zitterten. Cian sah sie nun direkt an.
"Wo war Andy, Ms Clarck?"
"Ich weiß es nicht."