CN: JVA, Stigmatisierung
Pünktlich am nächsten Morgen stand Cian erneut vor der WG und klingelte Sturm. Ungewöhnlich, dass Fab nicht bereits hibbelig hinter der Tür gelauert hatte, um loszumarschieren. Der junge Mann war ein Workaholic, wie er im Buche stand. Es wurde geöffnet und Leigh erschien vor ihm. Reichlich griesgrämig starrte die schlanke junge Frau ihn nieder, einen dampfenden Becher in der Hand, den gerüschten limettengrünen Bademantel eng um sich geschlungen, machte sie den Eindruck, als habe er ihr gerade gehörig den Start in den Tag versaut.
"Guten Morgen, meine Schöne", flötete Cian in den süßesten Tönen und entlockte Leigh lediglich ein Schnauben, "ist Fab fertig?"
"Fab, beweg' deinen faulen Arsch hierher!", brüllte die Wasserstoffblondine über ihre Schulter und verschwand dann einfach in den Tiefen des Eingangsflures. Stattdessen schlurfte ein reichlich zerknautscht aussehender und unmotivierter Fab aus der Küche heran. Aus einem käsigen Gesicht blickten Cian trübe Augen an, die von tiefen Schatten untermalen wurden und ausnahmsweise durch eine selten getragene Brille blickten. Fab bevorzugte eigentlich Kontaktlinsen, um weniger nerdig zu wirken.
"Schlecht geschlafen?"
"Als ob ich jemals gut schlafen würde", brummelte Fab als Antwort, begrüßte den Kriminalpsychologen aber mit einem Kuss auf die Wange. Dann zog er die Tür hinter sich zu und schlappte lustlos neben ihm her.
"Freue dich doch, hm? Es geht in die Sternenstunde der irischen Justizarbeit. The Joy ist das perfekte Beispiel für die Ironie, die allem in Dublin innewohnt. 'Es gibt kaum Kriminalität in dieser Stadt und die Schäfchen, die auf die falsche Bahn geraten, werden mit dem besten Rehabilitationsprogramm Europas wieder in die Gesellschaft eingegliedert'. Hieß das nicht so beim letzten Bericht?"
Mountjoy Prison war das größte Gefängnis Dublins und der umliegenden Counties. Hier wurden seit 1850 die männlichen Strafgefangenen und Untersuchungshäftlinge ab dem siebzehnten Lebensjahr untergebracht. Seit 1990 gehörte auch ein Komplex für weibliche Insassen dazu. Ausgelegt für 540 Gefangene, kämpfte die liebevoll The Joy genannte Justizvollzugsanstalt jeher mit chronischer Überbelegung. Es ging sogar soweit, dass zeitweise nicht einmal genug Betten vorhanden waren, um jedem der Inhaftierten einen Schlafplatz in einer der Zellen zu bieten.
Cian war hier Stammgast und führte regelmäßig Risikogutachten durch.
Die Beamten an der Pforte wirkten daher nicht gerade überrascht den Kriminalpsychologen zu sehen, als er sich und den Analysten anmeldete und bat, in Zellenblock C angekündigt zu werden. Sie wurden gebeten, ihre Smartphones abzugeben und Ausweise zu hinterlegen. Fab wirkte bei alledem reichlich nervös. War ihm nicht zu verdenken, schließlich hatte er keinerlei Vorerfahrungen mit Befragungen im Gefängnis. Sie wurden dann gebeten, noch einen Augenblick im Wartebereich Platz zu nehmen und alle weiteren Privatgegenstände, wie Geldbörsen, Schlüssel und Uhren in einem der dort befindlichen Schließfächer zu verstauen. Dann wurden sie von einer Beamtin und zwei Beamten aufgerufen und zu der Schleuse geführt. Nacheinander traten sie durch den Metalldetektor. Cian hatte vorsorglich seinen Gürtel abgelegt und Fab bedeutet, es ihm gleich zu tun. Dann folgte ein kurzes Abtasten. Fab wurde ein Bleistift abgenommen und fing sich einen Vortrag über die Gefahren ein, die dieser einfache Stift mit sich bringen konnte. Wenn sich Cian nicht täuschte, wirkt der Analyst dabei beinahe trotzig, wie er so die Arme verschränkte und die Lippen aufeinanderpresste.
"Hey, Süßer", raunte er ihm daher zu, als man ihm sein Medi Care mit den Injektoren zurück gab, "das war vielleicht nicht deine Sternenstunde, aber man kann nicht immer an alles denken und mit Allwissen glänzen. Ist doch halb so wild."
Fab fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, setzte sich die Brille zurück auf die Nase und nickte dann. Man führte sie an die nächste Pforte und bat sie, vor der gelben Linie zu warten, bis ein Summen ertönte und die Tür sich automatisch öffnete. Dort stand Dr. O'Conner und lächelte ihnen entgegen. Der Gefängnisarzt arbeitete stets engmaschig mit Cian zusammen und begleitete ihn bei jedem seiner Besuche. Sie reichten sich die Hände und der Kriminalpsychologe stellte Fab vor, während sie sich auf den Weg über den Hof zu Block C machten, in dem der Besucherraum lag.
"Ihre Injektoren, C", bat der Mediziner freundlich lächelnd und Cian händigte dem ergrauenden Mann seine Medikamente aus. "Worum geht es denn diesmal?"
"Um einen Ihrer U-Häftlinge. Wir möchten den Mann zu den Ritualmorden befragen."
"Ach, dieser Ripley. Kauziges Kerlchen. Zwangsstörung, submissiv dependente Persönlichkeit mit passiv-aggressiven Anteilen."
Cian nickte wage. Das war nicht sein Fachgebiet, da müsste er Sam hinzuziehen, aber seinem Eindruck nach beschrieb Dr. O'Conner Ripley recht akkurat.
"Sieht Ihnen schon ein wenig ähnlich, Mr. MacCrea. Wenn man Sie und unseren U-Häftling so ansieht, könnte man Sie fast für Geschwister halten."
Cian sah zu Fab herüber, der angespannt neben ihnen herlief und den Arzt bitter anstierte. Wer wurde auch gern mit einem Mörder verglichen?
"Ich bin nicht wie Andy", protestierte Fab scharf.
"Oh", machte Dr. O'Conner und hob die Augenbrauen, "Sie sind mit dem Mann per Du?"
Das Zusammenzucken entging dem Kriminalpsychologen nicht und gern hätte er Fab aus der Schusslinie genommen. Sie betraten den Gebäudekomplex und steuerten auf den Besuchsraum zu.
"Das geht Sie denke ich nichts an ... Sir."
Fab betrat als erster den Raum und suchte sich schnellst möglich einen der freien Tische aus.
"Im Wesen sind sie sich also auch noch ähnlich", kommentierte O'Conner leise an Cian gewandt.
Der zog die Mundwinkel gen Boden und runzelte die Stirn. Er wollte nicht sehen, was der Arzt ihm hier vor Augen hielt. Ripley und Fab waren nicht vom gleichen Schlag. Sie kamen aus derselben Gegend und standen zufällig auf dieselben Clubs. So hatten sie sich kennengelernt. Das war auch schon die einzige Verbindung zwischen den beiden Männern.
Aber der rotzige Ton eben war unangebracht gewesen, wenn auch nachvollziehbar aufgrund der Anspannung.
Cian setzte sich zu seinem Freund an den runden Tisch und Dr. O'Conner platzierte sich etwas abseits an der Wand. Dann telefonierte er mit dem hausinternen Kommunikationsgerät mit dem Beamten an der Aufsichtsstelle von Block A. Wenige Minuten später trat Ripley in den Raum. Mit wachen blauen Augen musterte er seinen Besuch und trat dann in Begleitung einer Beamtin an den Tisch heran.
"Ich kann mich nicht an eine Verabredung erinnern", sagte er süßlich und lächelt in die Runde, "ich befürchte auch, dass ich dir nicht werde weiterhelfen können, C."
"Oh, das ist okay. Sie sollen auch nicht mit mir reden, Anderson. Sondern mit ihm."
Cians Daumen zuckte zu Fab, der in lässiger Pose und überschlagenen Beinen auf seinem Stuhl saß und Ripley schelmisch angrinste.
"Hast du mich auch so vermisst, Schätzchen?", fragte Fab süffisant.