CN: Beteiligung von Kindern (impliziert), Mord (erwähnt), Sucht, Alkohol
Den Frühling verbrachte Cian im Krankenhaus. Seine Familie wanderte von einem Krankenbett zum nächsten, denn Susan und Phelan bekamen ihr Töchterchen.
Eddy und Fab schienen es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, nicht mehr von seiner Seite zu weichen und generell platzte sein Zimmer beinahe aus allen Nähten, weil sich so viele Besucher darin tummelten. Cian war gerührt und nach kurzer Zeit irgendwann angepisst von der Rolle des schwer kranken Krüppels. Daher hatte er gegen ärztlichen Rat die Weiterbehandlung in der Reha-Klinik abgelehnt und saß wieder bei sich zuhause in der Wohnung. Allerdings unter Beobachtung, denn Mitch hatte sich bei ihm einquartiert und diente ihm als häusliche Pflege und fuhr seinen besten Freund zu seinen Physiotherapiestunden.
Cian verbrachte den beginnenden Sommer also auf der Couch und versuchte dort sein Team zu coachen. Eddy kam jeden Nachmittag vorbei und erstattete Bericht.
Leider gab es kaum etwas Neues. Die Ermittlungen steckten fest. Sie waren dringend auf die Deutschen angewiesen, die einfach nicht aus dem Quark kamen.
Schlecht gelaunt ließ sich der Kriminalpsychologe auf das Sofa fallen und stellte seine Krücken zur Seite, die er momentan noch nutzte, da sein motorischer Kortex etwas heftiger in Mitleidenschaft gezogen worden war, als ihm lieb war und sein Gleichgewichtssinn und die Koordination seiner Beine ihm noch schwerfiel. Er schaltete den Fernseher ein und den Ton sogleich wieder ab, als in den Nachrichten überall wieder nur von ihrem Fall berichtet wurde und darüber, dass die Task Force keine Ergebnisse erzielte.
"Hier, dein Tee und deine Medikamente."
"Danke, Mitch. Hast du nicht lieber was Stärkeres zum Runterspülen?"
Mitch zog missmutig die Stirn kraus und Cian bereute seinen dummen Spruch augenblicklich.
"Du hast versprochen, du hörst mit dem Saufen auf."
"Es war auch nur ein Scherz, Alter. Es tut mir leid."
"Mhm. Sam lässt ausrichten, dass sie gern deinen Bereitschaftsdienst übernimmt."
Entschlossen schüttelte Cian den Kopf. Er konnte nicht ewig auf dieser Couch versauern. Außerdem fühlte er sich gut. Mitch kontrollierte, was er aß und trank - oder eben nicht trank - und achtete penibel darauf, wie er seine Medikamente einnahm. Also alles paletti. Er kam sich weder überwacht, noch bevormundet oder eingeengt vor. Dabei hatte er seinen Konsum auch allein super im Griff. Er hatte kein Problem!
Am frühen Abend war die Stimmung zwischen ihnen deutlich gereizt. Mitch gab sich sichtlich Mühe, Cian nicht auf die Füße zu treten, doch er fühlte sich allein durch dessen permanente Anwesenheit in seiner Autonomie angegriffen und reagierte entsprechend patzig auf jede Art der versöhnlichen Kommunikationsversuche seines besten Freundes.
Mitch hatte schließlich resigniert aufgegeben und sich vor dem Fernseher verkrochen. Cian saß seither mit einem tonnenschweren schlechten Gewissen auf einem der Barhocker am Küchentresen und brütete über den Fallakten, als sein Smartphone neben ihm vibrierte.
"Dr. Finnigan, Primum nil Nocere Consultings?", meldete er sich, da er die Nummer nicht kannte.
"Guten Abend, Dr. Finnigan. Lt. Sutherland vom Revier am Merrion Square. Ich habe Ihre Nummer von der Bereitschaftsliste. Ich bin an einem Tatort mit Personenschaden. Das Hauptopfer hat nicht überlebt, Sir, aber die sechsjährige Tochter."
"Ich verstehe. Selbstmord oder Mord?"
"Mord, Sir."
Cian schluckte und traute sich kaum zu fragen, da er das Schlimmste befürchtete.
"Um was für einen Mord -"
"Ein neuer Ritualmord, Sir."
"Ich bin in etwa zwanzig Minuten vor Ort."
Cian beendete eilig das Gespräch und hievte sich vom Hocker. Er schnappte sich seine Krücken und schnallte Partner seine Weste und die Leine um. Er hatte den Verdacht, dass ihm sein Hund heute zu Gute kommen könnte. Außerdem packte er noch einige andere Dinge in eine kleine Tüte und schaute dann zu Mitch, der sich mit kritischem Blick zu ihm gewandt hatte.
"Ich muss noch arbeiten und weiß nicht, wie lange es dauern wird."
"Soll ich dich fahren?"
"Nein."
Mitch machte ein trauriges Gesicht und Cian bereute seine harsche Abfuhr. Aber er konnte die Fürsorge seines Kumpels momentan einfach nicht länger ertragen. Also ging er. Mit einem Taxi fuhr er zum Marrion Square.
Der Tatort war abgesperrt und uniformierte Beamte bemühten sich, die Menge aus Schaulustigen und Paparazzi zurückzudrängen.
Cian quälte sich aus dem Taxi, ignorierte den warmen Sommerregen und nutzte Partners imposante Größe, um sich durch das Gewühl zu manövrieren. Als er an die Absperrung trat und seinen Ausweis vorzeigte, ließ man ihn passieren.
Der Kriminalpsychologe wurde an einen hageren, älteren Herrn in Anzug und Krawatte verwiesen, der in der Nähe eines Leichen- und eines Krankenwagens stand und wild mit einigen Kollegen der Spurensicherung diskutierte. Cian blieb vor dem Mann stehen und räusperte sich vernehmlich.
"Verzeihung? Dr. Finnigan von der Krisenintervention und Opferbetreuung. Sie hatten mich angefordert.“
"Oh! Gut, dass Sie da sind, Doc. Das Mädchen ist ganz apathisch. Alles, was wir wissen, ist ihr Name. Sie heißt Becky. Steht auf einer Kette um ihren Hals. Kommen Sie, sie sitzt im Krankenwagen.“
"Ist sie verletzt?“, fragte Cian bang.
"Nein, nein. Der Mörder hat sie nicht verletzt.“
Zumindest nicht physisch, schoss es Cian traurig durch den Kopf.
Als er um den Krankenwagen herumging, erspähte er ein zierliches brünettes Mädchen auf der Pritsche. Ihre Beine hatte sie eng an die Brust gezogen und sie atmete hektisch. So krampfhaft und schnell, dass ihr zarter Brustkorb sich deutlich hob und senkte. Panische Augen richteten sich auf ihn und den Beamten. Cian bedeute dem andern Mann, stehen zu bleiben, als er sich weiter auf Becky zubewegen wollte.
"Danke. Ich würde gern mit meiner Patientin allein reden.“
"Na schön. Ihre Tante ist verständigt und auf dem Weg hierher.“
Cian nickte und der Beamte ließ ihn und das verschreckte Mädchen allein.
"Hi, Becky. Ich bin Dr. Finnigan, ich bin Psychologe und das ist mein Hund Partner. Wir passen auf, dass dir hier nichts passiert. Okay?“
Becky sagte nichts, doch ihr Blick wanderte zu Partner. Cian ließ dem Hund etwas Spiel und erfahren, wie sein treuer Begleiter war, machte dieser sich ganz klein und trottete vorsichtig auf das Mädchen zu. Zaghaft berührten ihre kleinen Hände das Fell.
"Du musst gar nicht reden, Becky, okay? Ich leiste dir einfach etwas Gesellschaft. Ich setze mich hier auf die untere Stufe des Krankenwagens und wir schauen in die Ferne, während du Partner streichelst, hm?“
Vorsichtig nickte die Kleine und beobachtete, wie Cian sich schwerfällig auf die Tritte sinken ließ und die Krücken an die Außenwand des Krankenwagens lehnte. So blieben sie eine kurze Weile sitzen.
Cian gab Becky Zeit, um sich an ihn zu gewöhnen und zu erkennen, dass von ihm keine Gefahr ausging. Als ihre Augen stetig auf Partner lagen und ihre Händchen das Fell unablässig durch kämmten, doch ihre Atmung sich nicht beruhigte, wagte Cian einen Versuch.
"Becky, mir ist aufgefallen, dass du sehr, sehr schnell atmest. Ich kann das gut verstehen und es ist ganz normal, weil du Angst hast. Aber dein Körper strengt sich ziemlich an. Daher möchte ich gern ein Spiel mit dir spielen. Hättest du Lust?“
Becky zuckte mit den Schultern. Cian griff nach der Tüte, die er aus seiner Wohnung mitgebracht und für solche Fälle, in denen Kinder involviert waren, zusammengestellt hatte. Sie war rot und glitzerte funkelnd.
"Das hier ist eine Wundertüte. Sie ist magisch, denn wenn ich etwas daraus hervorziehe, dann haben die Gegenstände besondere Fähigkeiten.“
Becky bekam große Augen und lehnte sich ihm etwas entgegen. Zunächst zog Cian einen Strohhalm hervor.
"Durch diesen Strohhalm kannst du so tief einatmen wie ein Elefant durch seinen Rüssel. Kannst du das?“
Becky schüttelte den Kopf. Cian nahm einen Atemzug und machte ein trauriges Gesicht. Dann steckte er sich ein Ende des Strohhalms in den Mund, sog einmal daran, setzte ihn ab und nahm einen ganz tiefen Atemzug, als würde er durch einen Strohhalm saugen. Dann hielt er die Luft an und atmete wieder aus. Becky lächelte. Cian reichte ihr den Strohhalm und wies sie an – nicht, ohne ihr den Hinweis zu geben, das andere Ende in den Mund zu nehmen. So atmeten sie eine Weile.
Dann zog er ein Spielzeugpferdchen aus der Wundertüte.
"Wenn du diesem Pferdchen die Mähne reibst, dann sprichst du die Sprache der Pferde.“
Zur Bestätigung rieb er mit dem Daumen über das Spielzeug, zog dann erst wieder den Atem wie gelernt durch seine Lippen, hielt ihn einen Moment und schnaubte dann wie ein Pferd aus. Beckys Lachen wärmte Cian kurz von innen. Er übergab ihr das Pferdchen und auch sie schnaubte schon bald drauf los. Nach dieser Übung atmete das Kind bald wieder ruhig.
Als letztes zauberte Cian aus seiner Wundertüte eine Art Thermoskanne hervor und schraubte sie auf.
"Magst du heiße Schokolade, Becky?“
Das Mädchen nickte. Cian hielt ihr die Kanne hin und sie nahm einen vorsichtigen Schluck. Doch der kleine Mund verzog sich enttäuscht.
"Die ist ja kalt!“
Cian nahm ihr die Kanne wieder ab und betätigte heimlich einen kleinen Knopf, der einen Mechanismus aktivierte, der das Getränk im inneren erwärmte. Ein nettes Spielzeug, das Beth ihm aus den USA mitgebracht hatte.
Wie ein Magier ließ er seine andere Hand über dem Thermobehälter tanzen und wackelte mit den Augenbrauen. Dann reichte er Becky die Kanne zurück. Wieder nahm sie einen Schluck und seufzte wohlig, als die nun heiße Schokolade ihre Zunge benetzte. Schweigend saßen sie da, bis ihre Tante Becky abholte.
"Hier ist die Karte mit meiner Nummer. Ich muss Becky zu den Vorkommnissen heute befragen. Es tut mir leid, aber ohne Aussage geht es nicht.“
Beckys traurige Kinderaugen brannten sich tief in Cians Gedächtnis.
Er hatte Beckys Augen nicht vergessen können. Sie hatten ihn verfolgt, wann immer er die Seinen geschlossen hatte und immer wieder fragte sich Cian, was er hätte anders machen können. Er hätte schneller sein müssen, bessere Arbeit leisten müssen. Dann wäre die Mutter des Mädchens nicht zum neuen Opfer des Ritualmörders geworden und dieses zerbrechliche kleine Wesen nicht Zeugin einer so abscheulichen Tat. Aber er war nicht schnell genug, nicht gut genug, nicht clever und nicht stark genug gewesen. Hatte es nicht verhindern können.
Also tat er das, was er seit vier Jahren immer tat. Er betrank sich. Nicht im Ol‘ Days, denn dort war Cian das Risiko zu hoch, jemandem zu begegnen, den er kannte. Und auch sein bester Freund sollte nicht erfahren, dass Cian nicht durchgehalten hatte.
Daher hatte er sich einen Pub in der Nähe des Tatortes gesucht und einen Whiskey nach dem nächsten gekippt. Solange, bis der Bartender sich geweigert hatte, ihn weiter zu bedienen.
Nur schade, dass Cian Mitch so nicht unter die Augen treten konnte. Außerdem bezweifelte er momentan, in seinem Zustand überhaupt in sein Apartment zurück zu finden. Beschämt und zu wacklig, um sich weiter auf den Beinen halten zu können, ließ Cian sich an der Außenmauer des Pubs entlang zu Boden sinken. Partner leckte ihm den Regen von der Wange. Cian kannte nur eine Person, die er jetzt um sich haben wollte und griff zum Smartphone.
"Hi … Kannsu mich abhol’n?“