CN: Trauma (impliziert)
"Ganz ruhig, Alter. ich verstehe ja kein Wort von dem, was du da vor dich hin brabbelst", schimpfte Jamie milde.
Cian lief fahrig vor dem Punk auf und ab. Nachdem er ihn angerufen hatte, war er irgendwie bei dem Gemeindehaus gelandet, in dem auch die AA-Treffen stattfanden. Dort hatte er sich an die Wand gelehnt und war schließlich langsam daran herabgeglitten, bis er auf dem Hosenboden sitzend seine Knie an seinen Oberkörper gezogen hatte und dort ausharrte, bis sein Sponsor ihn fand. Das hatte dieser dann auch etwa eine dreiviertel Stunde später. In seiner Arbeitskleidung sah Jamie so ganz anders aus. Da fielen die blauen Haare und Piercings beinahe nicht mehr auf. Schon erstaunlich, aber Kleider machten tatsächlich Leute.
Inzwischen tigerte der Kriminalpsychologe vor dem Rettungssanitäter auf und ab und schilderte ungeordnet, was Prof. Dr. O'Neal zum ihm gesagt hatte.
"Warte, warte, warte", stoppte ihn Jamie mit erhobenen Händen, "dann hat er quasi damit gedroht, Eddy zu töten, wenn du dich nicht aus dem Fall zurückziehst?"
"So in etwa. Aber hast du auch verstanden, was ich vorher gesagt habe?"
"Dass du vermutest, Pheobe könnte kein zufälliges Opfer gewesen sein."
Cian nickte gequält und schlug die Hände vor sein Gesicht. Er ertrug diesen Gedanken nicht. Wenn diese Vermutung stimmte, wenn diese Anspielung tatsächlich der Wahrheit entsprach, dann hatte er das Leben seiner kleinen Schwester auf dem Gewissen.
Das Ratschen eines Zippos drang an Cians Ohren und er lugte zwischen seinen Fingern hindurch. Sein Sponsor hatte sich eine seiner Selbstgedrehten angezündet und paffte den bläulichen Dampf in die laue Nachmittagsluft. Der süßliche Geruch kitzelte ihm in der Nase und nicht zum ersten Mal fragte er sich, was für einen Tabak der Punk verwendete.
"Was, wenn er dich manipuliert?"
Cian, der seinen Dauerlauf wieder aufgenommen hatte, hielt inne und wandte sich Jamie zu. Mit gerunzelter Stirn stand sein Sponsor da und zog an der Zigarette.
"Könnte doch sein, oder? Dass O'Neal Psychospielchen mit dir spielt und in Wahrheit ist kein Sterbenswörtchen wahr. Pheobe war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort und Eddy ist schlicht ein Druckmittel, das wunderbar in den Kram passt, um dich nach seiner Pfeife tanzen zu lassen."
"Spekulation", meinte Cian frustriert.
"Nicht mehr, als die Hypothese, die du aufstellst."
Das half ihm doch nicht wirklich weiter, oder?
Wütend trat Cian gegen die niedrige Mauer neben dem Gemeindehaus. Jamie schnalzte mit der Zunge und schnippte etwas Asche auf den Gehsteig.
"Geht's dir jetzt besser?", fragte er sarkastisch.
Natürlich ging es ihm nicht besser! Aber er fühlte sich so hin und her gerissen und wusste einfach nicht, wohin mit sich.
"Also nicht. Hör' zu, C: Nehmen wir doch einfach mal an - rein hypothetisch - du hättest recht und O'Neals Drohung habe Hand und Fuß. Dann war Pheobes Tod kein tragisches Unglück, richtig?"
Cian nickte betrübt. Seine Hände vergruben sich in seinen kurzen Haaren.
"Was würde das für dich bedeuten?", hakte Jamie nach.
"Dass ich der Grund für Pheobes Ermordung bin."
"Aber warum?"
"Weil O'Neal es auf mich abgesehen hat."
"Wieso?"
"Weil ich ihm auf die Schliche kommen kann. Ich bin dabei, zu beweisen, dass er der eigentliche Ritualmörder ist."
"Aber damals warst du an diesem Fall noch gar nicht beteiligt, oder?"
Seine Schritte stockten, als Jamie ihn auf seinen offensichtlichen Denkfehler aufmerksam machte.
"Viel mehr gab es vor all diesen Jahren noch gar keinen offiziellen Ritualmörderfall, weil die Verbindungen zwischen den Morden noch nicht hergestellt wurden, oder?"
"Nein - das - hat erst Fab geschafft. Sein Algorithmus hat die losen Fäden zusammengeführt", bestätigte Cian langsam.
Am metaphorischen Horizont schien ein blasser Silberstreif aufzutauchen.
"Außerdem dachte ich, dass Pheobes Mord so lange ohne Spur blieb, weil es keine Hinweise auf andere, ähnliche - wie nennt ihr das noch gleich - Modi gab?"
"Modi Operandi. Du hast recht, Pheobe war das erste - O-O-pf-er in Irland", holperte Cian über seine Worte. Er hasste es noch immer, seine Schwester als Mordopfer zu bezeichnen.
"Was lässt dich folglich glauben, dass auch nur ein einziges Wort von O'Neal nicht erstunken und erlogen sein könnte? Wenn es doch so offensichtlich ist, dass er zu dieser Zeit noch nichts von dir wissen konnte. Wenn er noch nicht einmal ahnen konnte, dass du eines Tages auf seinen Fall angesetzt sein würdest. Vielmehr so dicht dran sein könntest, ihm die Morde nachzuweisen?"
Cian war fassungslos, als er so da stand und seinen Sponsor ansah, der lässig an die Mauer gelehnt seine Zigarette qualmte.
"Aber er könnte dennoch seine Drohung wahr werden lassen und Eddy etwas antun", warf der Kriminalpsychologe bedenkend ein. Jamie schnaubte entrüstet.
"Du bist mir bisher nicht wie ein Typ vorgekommen, der vor einem Kampf zurückschreckt. Lässt du dich wirklich so leicht einschüchtern?"
Abwägend zuckte Cian die Achseln. Nein, er hatte keine Angst vor einem Kampf. Aber hier ging es nicht um ihn, sondern um das Leben der Frau, die er liebte.
"Was sagt es dir denn, dass O'Neal dir droht, hm? Wann tun Leute so etwas?"
"Wenn sie sich bedroht fühlen", kam es von ihm.
Und etwas rastete ein. Der Silberstreif nahm Konturen an und Cian fühlte sich wie elektrisiert.
Ja, Menschen bedrohten, wenn sie Angst hatten. Der Professor ahnte, dass er ihm ganz dicht im Nacken saß. Er war nah dran an der Lösung. Wenn er jetzt nachgab und sich zurückzog, dann wäre die Arbeit von Monaten umsonst gewesen. Der Tod von so vielen Frauen bliebe ungesühnt. Die Narben in Cians Inneren würden niemals heilen können.
Er wusste, dass es nur zwei Optionen gab. Entweder er ginge auf Nummer sicher und riskierte nichts, wiegte sich in einer Pseudosicherheit und tröstete sich damit, Eddys Leben geschützt zu haben. Dann ginge es mit ihm zu Ende, wie sein Vater zugrunde gegangen war. Oder er bot O'Neal die Stirn und kämpfte weiter. Zeigte den Mördern den Mittelfinger und ließ sich nicht einschüchtern.
Keine Manipulationen mehr.
Zumindest nicht, wenn er nicht derjenige war, der die Fäden zog.