CN: Sucht (erwähnt), Drogen (erwähnt), Prostitution (erwähnt)
Dreiundzwanzig Opfer in Norddeutschland und Frankreich. Sieben Opfer in Schottland. Zwei Opfer hier bei ihnen in Irland. Zweiunddreißig tote Frauen in annähernd vierzig Jahren. Cian Finnigan schwirrte der vom Saufgelage und den missbräuchlich verwendeten Medikamenten noch immer dicke Schädel von den vielen Zahlen und Statistiken, die Fab MacCrea ihm vorgelegt hatte. Sein kleines Genie hatte es tatsächlich geschafft und aus Cians wagem Bauchsagen handfeste Spuren gefiltert.
Der Kriminalpsychologe sah sich mal wieder in seiner Entscheidung bestätigt, damals vor sechs Jahren den verschmuddelten Teenager von der Straße aufgelesen und zu Samantha Roise gebracht zu haben. Seiner Geschäftspartnerin, mit der er die Gutachterfirma führte. Fab hatte damals nahe der Hawkings Street in einem Pappkarton gelebt und sich auf dem Baby-Strich, einige Ecken weiter, regelmäßig angeboten, um über die Runden zu kommen. Cian machte es sich zur Gewohnheit, die Jungs und Mädels einmal die Woche zum Dinner ins Ol' Days einzuladen. Wer Laune hatte, kam mit und freute sich über eine warme Mahlzeit und bekam die Chance auf ein Gespräch. Wer kein Interesse hatte? Kein Problem, er zwang niemanden. Fab kam jedes Mal mit, schwieg aber stoisch. Bis Cian irgendwann von Statistiken zu schwafeln begann, die darlegten, wie viele Jugendliche im Jahr auf der Staße und dem Strich landeten, schließlich in der Drogensucht versumpften oder an HIV verreckten. Alle anderen hatten ihn mit Kulleraugen erschrocken angestarrt. Nur Fab hatte, auf seinem Sandwich kauend, geschnaubt und ihn dann mit diesen verblüffend eisblauen Augen angestarrt. Das Haar fiel ihm viel zu lang und viel zu schlampig in die Stirn, als er schmatzend verkündete, dass die Zahlen überhaupt keinen Sinn ergäben und er, eine Serviette zückend und sich von Cian einen Stift leihend, ihnen allen den Beweis vorrechnete.
Es war offensichtlich, dass dem jungen Schreiberling vor ihm das Herz aufging, sobald es um Zahlen aller Art ging. Das war der Tag, an dem Cian Fab fragte, ob er sich mit Computern auskenne und der Junge ihn ansah, als sei er grenzdebil. Cian schleppte ihn zu Samantha, pflanzte ihn vor einen Rechner und setzte einen Arbeitsvertrag auf. Die Unstimmigkeiten, die ihm dabei in den Formularen auffielen - die Tatsache, dass Fab angeblich keine Familie habe und sein Ausweis verloren gegangen sei - ließ Cian damals einfach dahingestellt. Der Kriminalpsychologe dachte sich, dass der Junge irgendwann schon mit der Sprache rausrücken würde, sobald er genügend Vertrauen zu ihm gefasst hatte.
Heute war Fab MacCrea fünfundzwanzig Jahre alt und einer von Cians besten und innigsten Freunden. Dennoch wusste er noch immer nicht viel mehr über den jungen Mann, als seinen Namen, seine heutige Wohnadresse und dass er gebürtig aus Schottland stammte. Fab war das sprichwörtliche Buch mit sieben Siegeln.
Wirr und konfus hatte Cian eine unzusammenhängede Mail an sein Team verfasst und sich dann auf zu seiner Befragung mit Ms Clarck und Mr. Ripley gemacht. Fab hatte ihn ein bisschen traurig angesehen, als er das liebevoll zubereitete Frühstück verschmäht hatte. Aber Cian bekam einfach keinen Bissen hinunter. Vor dem Verhörraum wartete bereits Eddy mit zwei dampfenden Bechern Kaffee in der Hand und den Akten unter den Arm geklemmt.
"Pünktlich wie ein Uhrwerk, Ms Williams."
"Nun, ich habe mir sagen lassen, dass mein Boss diese Eingenschaft an seinen Mitarbeitern hoch schätzt. Er selbst allerdings nicht gerade dafür bekannt ist."
Cian lachte und nahm sich einen der Becher. Teurer Laden, aus dem sie das Gesöff hatte, aber er hatte auch nichts Anderes erwartet. Er nahm einen tiefen Schluck und verbrannte sich den Mund. Die Dosis Koffein war es ihm wert, dass er wohl die nächste Zeit auf seinen Geschmacksinn verzichten musste.
"Sind unsere Zeugen schon da?", erkundigte sich der Kriminalpsychologe interessiert. Die Doktorandin nickte mit wippendem Pferdeschwanz.
"Jep. Ist ja auch schon eine viertel Stunde über dem verabredeten Termin." Cian stöhnte genervt, beließ es aber bei der Scholte.
Stattdessen bewegte er sich gemächlich zum Wartebereich und spähte hinein. Ms Clarck und Mr. Ripley saßen sich still gegenüber. Die junge Frau mit den mittellangen, mausbraunen Haaren und der schiefen Brille, schaute ruhig und konzentriert in eine Zeitschrift. Alle paar Sekunden blätterte sie weiter. Der schottische Doktorand hingegen linste immer wieder nervös zur Uhr an der Wand, prüfte dann die an seinem Handgelenk und sah sich anschließend im Raum um. Sein linker Fuß wippte stetig auf und ab. Cian grinste.
"Sehr schön. Sieh es dir an, Eddy. Psychologie vom Feinsten. Hast du schonmal von Suggestion gehört?"
Eddy nickte, machte aber eine wiegende Handbewegung, um anzudeuten, dass es nicht viel gewesen war, was man ihr damals im Studium dazu beigebracht hatte.
"Man kann einer Person so ziemlich alles in den Kopf setzen, was man möchte. Solange man es auf subtile Weise tut. Wenn ich will, dass sich unsere werten Zeugen hier wohlfühlen, dann lasse ich ihnen ein Wasser bringen, frage sie, ob sie gut hergefunden haben und breche so das Eis. Ich spiele den netten Psycho-Onkel. Du verstehst?", führte Cian aus. Die Blondine nickte.
"Gut. Aber wenn ich möchte, dann kann ich auch dafür sorgen, dass sie mürbe werden. Ein wenig angeknackst. Eine Zerreißprobe inszenieren."
"Du bist mit Absicht zu spät."
Cian tippte sich bestätigend mit dem Zeigefinger an die Nasenspitze.
"Du suggerierst den Beiden, es gäbe aus irgendwelchen Gründen eine Verzögerung. Aber welche sollte das sein und was erhoffst du dir davon?", fragte Eddy nach. Der Kriminalpsychologe zuckte nur gelangweilt mit den Schultern und fixierte die beiden Wartenden.
"Ist doch egal. Ich muss mir nichts ausdenken. Wenn sie etwas zu verbergen haben, dann erledigt ihr Gewissen die Arbeit für mich und spiegelt es nach außen in ihrem Verhalten wider", sagte Cian und deutete auf den nervös zuckenden Mr. Ripley.
"Wir fangen aber nicht mit ihm an, sondern mit Ms Clarck. Sie wird uns, wie ich vermute, eine abgeklärtere Version der Ereignisse darlegen. Außerdem darfst du dich dann auch mal ein wenig in suggestiven Fragetechniken üben. Ich greife hier und dort ein, aber das Gespräch wirst du führen. Bock?"
Eddy strahlte und hob stolz das Kinn. Natürlich hatte sie Lust, die Befragung zu leiten. Unter Cians Supervision fühlte sie sich auch relativ sicher. Es sollte ihre erste sein. Zielstrebig ging sie auf die Brünette zu und reichte ihr die Hand, holte tief Luft und lächelte warmherzig: "Guten Tag, Ms Clarck. Ich danke Ihnen für Ihr Kommen. Mein Name ist Williams, ich werde das Gespräch mit Ihnen führen. Dies ist Dr. Finnigan, er wird bei der Befragung anwesend sein und hier und dort nachhaken. Folgen Sie mir doch bitte in den Nebenraum."
Sie begaben sich auf den Flur und in das angrenzende Verhörzimmer. Eddy zog den Stuhl für Ms Clarck zurecht: "Haben Sie gut hergefunden, Ms Clarck? Ja? Das freut mich zu hören. Darf ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten?"
Cian setzte sich und schlug zufrieden die Beine übereinander.