Das Dämonenblut verlieh Jonathan Fähigkeiten, die weit über die eines Schattenjägers hinausgingen. Vielleicht war das der Grund, weshalb er ihr Unbehagen spürte, als wäre es sein eigenes. Es war nicht nur das unruhige Treiben der Großstadt mit all seinen Geräuschen, welches sie zu verunsichern schien. Als sie das Institut erreichten, zögerte Siobhan. ER glaubte Furcht in ihren Augen zu erkennen. Interessant.
Jonathan hielt ihr seine Hand entgegen, doch sie ignorierte die Geste. Wie schon zuvor mied sie es, sich berühren zu lassen. Ja, sie hatte ein Geheimnis. Aber wer war er, darüber zu urteilen?
»Wollen wir hereingehen? Oder gibt es eine anderen Ort an dem du jetzt lieber wärst?«, fragte er leise.
Sie sah ihn misstrauisch an.
Ja, das dachte er sich.
Als sie das Institut betraten, kamen ihnen Alec und Clary entgegengelaufen. »Wir waren zu spät. Am richtigen Ort, aber zu spät«, sagte Alec.
»Wieder eine Leiche?«, fragte Jonathan und blickte in Clarys blasses Gesicht. Das reichte ihm als Antwort.
»Wer ist das?«, Alec zeigte auf Siobhan.
Alle Blicke richteten sich auf sie.
Sie riss kurz die Augen auf, streckte ihm ruckartig ihre Hand entgegen und zog sie sogleich wieder zurück, ohne dass er die Chance hatte, sie zu ergreifen. »Siobhan Branwell. London Institut.«
Alec blickte fragend zu Jace, der nur kurz die Schultern hob.
»Alexander Lightwood. Ich bin der Leiter dieses Instituts.« Er musterte sie kurz. »Branwell. Ein bedeutender Name. Charlotte Fairchild Branwell war die Gründerin des Londoner Instituts.«
»Fairchild?«, mischte sich Clary ein.
»Ja«, sagte Jonathan. »Ihr seid praktisch verwandt. Aber sind wir das nicht alle?« Ihn amüsierte Clarys irritierter Gesichtsausdruck.
»Aber es gibt keine Branwells mehr seit …«, Alec überlegte.
»1945«, beendete Isabelle seinen Satz.
»Dann scheinen unsere Informationen nicht korrekt zu sein«, mischte Jonathan sich wieder ein und bemerkte die zunehmend zweifelnde Blicke in Siobhans Richtung. Ihm war es zwar nicht egal, was es mit ihr auf sich hatte, aber solange sie seine Pläne nicht durchkreuzte, war es unwichtig. Bisher war ihr Auftauchen eher von Vorteil für ihn. Denn die Aufmerksamkeit und das Misstrauen richteten sich nun auf sie. Was ihm wieder mehr Bewegungsfreiheit gab.
Alec gab einen Laut der Frustration von sich. »Wie auch immer. Branwell, du kommst mit mir. Ich will wissen, was passiert ist. Alle anderen kümmern sich um … ihr wisst schon, wen. Ich will diesen Dämon aus dem Verkehr ziehen. So schnell wie möglich.«
Siobhan hatte Mühe, Alecs großen Schritten zu folgen.
»Was für ein Dämon?«, fragte sie.
Alec hatte offenbar nicht vor, ihr etwas zu erzählen. Sie wusste, was für Fragen gleich folgen würden. Sie war keine gute Lügnerin. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis er das herausfinden würde.
Sein Büro war auffallend ordentlich. Selbst sein Schreibtisch war ein geordnetes Durcheinander. Eines der Bücher war noch aufgeschlagen. Sie erkannte Beleths Siegel sofort. Vielleicht musste sie gar nicht lügen. Nur hier und da etwas weglassen.
»Du behauptest, also eine Branwell zu sein. Wie ist das möglich?« Alec setzte sich hinter den Schreibtisch und deutete ihr, sich auch zu setzen.
»Mein Vater war William Branwell, meine Mutter Alice Branwell.«
Alec lehnte sich ruckartig nach vorn. »Unmöglich. Du bist doch höchstens achtzehn.«
»Neunzehn«, korrigierte sie. »Es ist kompliziert.«
»Kompliziert?«
Dieser Lightwood hatte verstörende Ähnlichkeit mit Yael. Das irritierte sie.
»Wahrscheinlich werden Sie mir nicht glauben.«
»Sehr wahrscheinlich sogar.«
»Werden Sie meine Anwesenheit dem Rat melden?«
»Gibt es einen Grund, warum ich das nicht sollte?«
»Wie gesagt, es ist kompliziert.« Siobhan rieb sich das Gesicht.
Alec lehnte sich zurück und sah sie nachdenklich an.
Sie wusste, dass er ihre Identität überprüfen konnte. Ein simpler Bluttest würde bestätigen, was sie behauptete. Doch wenn er sie dem Rat meldete, wäre alles vorbei.
»Ihr jagt Beleth?«, sagte sie.
Alecs Haltung spannte sich wieder an. »Ja und mich interessiert brennend, was du damit zu tun hast.«
»Er ist kein gewöhnlicher Dämon. Eine Seraphklinge kann ihm kaum etwas anhaben.«
»Das ist mit klar. Aber ich wiederhole ich nur ungern. Was hast du damit zu tun? Wer auch immer du bist.«
»Es gibt nur einen Ort in Edom, von dem er nicht ohne Weiteres entkommen kann. Und das ist das Reich von Lilith«, ignorierte sie sein Verhör. »Er hat dort keinen Einfluss. Genaugenommen können die beiden sich nicht ausstehen.«
Ihr war nicht entgangen, dass seine rechte Hand schon seit einigen Minuten unter dem Tisch weilte. Sicher hielt er bereits eine Dolch oder dergleichen in der Hand. Siobhan sah ihm jetzt direkt in die Augen, wissend, was für eine Wirkung das auf ihn haben würde. Sie sah, wie sich die feinen Haare auf seinem Unterarm aufstellten. Doch er blieb erstaunlich ruhig. Gut für ihn. Also begann sie zu erzählen.
»Beleth tauchte 1939 in London auf. Mit ihm kamen Chaos und Zerstörung nach England. Es war eine schwere Zeit für die Schattenjäger, da sie an zwei Fronten kämpfen mussten. Mein Vater konzentrierte sich nur noch auf Beleth. Er jagte dessen Untertanen, um an Informationen über ihn heranzukommen. Aber die Dämonen seiner Legion waren loyal. Er bekam lange Zeit nur wenig aus ihnen heraus. Doch dann kam der Durchbruch.«
Alec sah sie aufmerksam an und schwieg. Es fiel ihr schwer, ihn und sein Schweigen zu deuten, als erzählte sie weiter.
»Er fand heraus, dass man Beleth in Liliths Reich verbannen muss, um ihn langfristig loszuwerden. Also fanden wir einen Weg. So dachten wir zumindest.«
Alec hörte weiterhin aufmerksam zu.
»Der Rat unterstützte unseren Plan nicht. Also mussten wir improvisieren. Mein Vater ließ Beleth durch eine Rune an mich binden und sandte mich nach Edom. Beleth war somit gezwungen, mir in Liliths Reich folgen.«
Alecs Mund blieb für einen kurzen Moment offenstehen. »Was? Wie?«
»Das ist unwichtig. Es funktionierte. Wir hatten keine andere Wahl. Beleth wütetet bereits im Institut. »Sie rieb sich über die Stirn. »Da war bald niemand mehr gewesen, der sich ihm hätte entgegenstellen können.«
Alec sah sie fassungslos an. »Nehmen wir an, all das stimmt. Edom wäre dein Tod gewesen. Kein Shadowhunter übersteht die Hölle. Und all das liegt bereits über siebzig Jahre zurück. Wie kommt es, dass du heute hier bist?«
»Ich weiß nicht, was mit mir geschehen ist. Ich erinnere mich an nichts, was nach dem zweiten September 1945 passiert ist. Und dann bin ich plötzlich hier. In New York.«
Das war die erste Lüge, die sie Alec an diesem Tag erzählte.
Alec stand auf und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. Er rieb sich den Nacken, blieb stehen und sah sie nachdenklich an.
»Ihr seid beide hier. Du und dieser Dämon. Also hat er einen Weg aus Edom gefunden. Und durch eure Verbindung bist du auch wieder hier«, schlussfolgerte er. »Auch wenn es mir schwerfällt, dir etwas davon zu glauben, aber es ist das einzige, was unter diesen Umständen Sinn ergibt. Sollte das alles stimmen, könnte uns diese Verbindung von großem Nutzen sein. Wir werden ihn durch dich aufspüren können.«
Sie zog ihre Stirn in Falten. »Diese Verbindung besteht ganz sicher nicht mehr«, sagte Siobhan.
Und das war die zweite Lüge, die sie ihm an diesem Tag erzählte.
»Wie kommst du darauf?«
»Beleths erste Maßnahme wird gewesen sein, einen Warlock zu finden, der den Bindungszauber löst, damit ich ihn nicht wieder nach Edom bannen kann. Und ich gehe davon aus, dass es der letzte Zauber war, den dieser Warlock gesprochen hat.«
Allmählich fiel ihr das Lügen leichter.
»Beleths erstes Opfer war ein Hexenmeister«, gab Alec zu.
Glaubte er ihr etwa? So schnell?
»Wie auch immer. Magnus ist ein mächtiger Hexenmeister. Er wird uns helfen, eure Verbindung wiederherzustellen, damit wir Beleth aufspüren können.«
»Bane?«, fragte sie gedehnt.
»Du kennst ihn?«
Sie kam nicht dazu, diese Frage zu beantworten, weil es plötzlich an der Tür klopfte.
»Nicht jetzt!«, rief Alec.
Die Tür ging trotzdem auf und Jace steckte seinen Kopf herein.
»Tut mir leid, aber es ist wichtig. Das musst du dir ansehen.« Jaces Blick ging zu Siobhan. Er bemerkte die Anspannung, die in diesem Raum lag und liebend gern hätte er gewusst, was Alec gerade erfahren hatte. Doch das musste warten. »Es geht um diesen Dämon … du weißt schon, wer«, sagte er.
»Du kannst ihn beim Namen nennen. Sie kennt Beleth wohl besser als jeder andere hier.«