Magnus saß seit zwei Stunden fast reglos in seinem Sessel und blickte zur weit geöffneten Tür seiner Dachterrasse. Die aufgehende Sonne legte ihr wärmendes Licht über die Dächer der Stadt und tauchte das Loft des Hexenmeisters in orangerotes Licht. Friedvoll und still war dieser Morgen. Still war auch Magnus. Friedvoll nicht so sehr.
Das, was Azazel ihm angetan hatte, war nichts gegen das, was Beleth ihm antun könnte. Aber er sorgte sich nicht um sich. Es war Alec, um den er fürchtete. Beleth würde weiterziehen, wenn er mit New York fertig war, und wenn man ihn ungehindert gewähren ließ. Magnus lebte bereits lange genug, und er hatte schon ganze Reiche unter weniger mächtigen Dämonen als Beleth fallen sehen. Magnus würde weiterbestehen und die Welt würde sich auch weiterdrehen. Wie immer. Aber Alec war ein Shadowhunter, ein Dämonenjäger, und er und die anderen im Institut würden diesen Dämon nicht gewähren lassen.
Magnus bekam den leeren Ausdruck in Siobhan Branwells Augen nicht aus dem Kopf. Alec kannte nur die halbe Geschichte, was dieses Mädchen und ihre Familie betraf. Es gab außer Valentine kaum einen Shadowhunter auf dieser Welt, der mehr Grund hatte, den Rat zu hassen als sie. Egal, wer Siobhan früher einmal war, diese kleine Schattenjägerin hatte zweiundsiebzig Jahre lang Zeit gehabt, an ihrem Hass zu arbeiten. Und die Hölle war ein ganz hervorragender Ort dafür. Aber vielleicht tat er ihr auch unrecht und sie war tatsächlich die Heldin in der Geschichte. Wer wusste das schon? Ihm war nicht entgangen, wie vor allem Jace bereits seine schützenden Flügel über Branwell ausgebreitet hatten.
So oder so, er musste Alec von den Branwells erzählen, auch wenn das nicht gerade ein gutes Licht auf ihn selbst werfen würde und alte Wunden aufriss.
»Komm herein«, sagte er laut.
Er wusste immer, wenn Alec in der Nähe war. Er wusste auch, dass Alec schon einige Minuten vor der Tür verharrt hatte – zögernd, nervös.
Die Tür öffnete sich und gleichmäßige, sichere Schritte näherten sich Magnus. Alecs Gang war nicht das, was Magnus damals zuerst an dem bildhübschen Schattenjäger aufgefallen war. Aber, seine Art sich zu bewegen, sagte alles über ihn aus. Magnus schloss kurz die Augen, sammelte sich, damit er wenigstens etwas souverän wirkte, und stand auf, um Alec mit einem kühlen: »Was soll ich heute für dich tun?«, zu begrüßen.
Alec blieb in größerer Distanz stehen.
Magnus bekämpfte den Drang, auf ihn zuzugehen, ihn zu küssen und …
»Wir müssen reden«, sagte Alec. »Ich denke, du verschweigst uns etwas in Bezug auf Branwell.«
Magnus deutete mit der Hand auf einen der Sessel.
Alec setzte sich. Seine braunen Augen musterten Magnus sorgenvoll. »Ich habe dich noch nie so gesehen, Magnus. Was ist los?«
»Nun«, sagte Magnus mit weitschweifiger Geste. »Du kennst mich auch erst einen Wimpernschlag lang.« Er sagte es, setzte sich ebenfalls wieder, schlug die Beine übereinander und legte seine Hände auf die Lehnen des Sessels. Er war blass, sein Blick richtete sich nach draußen und Alec konnte sehen, dass Magnus Unterkiefer sich in Anspannung gleichmäßig hin und herbewegte.
Alec wollte gerade etwas sagen, als Magnus ihn wieder ansah. »Ich war nicht immer der nette Hexenmeister von nebenan, Alexander …«, er hielt inne, blickte wieder nach draußen und fuhr fort. »Die Familie Branwell lernte ich in London über einen Freund kennen.«
Die Art, wie Magnus das Wort Freund betonte, machte Alec unruhig. »Ein Freund?«
Magnus sah ihn vielsagend an. »Ja, nun ja. Du weißt schon.«
»Oh«, sagte Alec und versuchte, seine Eifersucht zu verbergen.
»Yael. Ein Hexenmeister wie ich. Gutaussehend, schlank, groß, Augen so fesselnd wie … und ein Lächeln, dem man einfach nicht widerstehen konnte. Er war jedoch keiner, der sich irgendjemandem unterordnete. Weder dem Rat noch dem obersten Hexenmeister von London. Das brauchte er auch nicht. Er war mächtiger als jeder Hexenmeister, dem ich in meinem langen Leben begegnet bin. Und er war mit William Branwell befreundet.«
Alec hob erstaunt die Augenbrauen.
»Ein abtrünniger Hexenmeister, befreundet mit einem der mächtigsten Shadowhunter von England. Zu dieser Zeit?«
»Ja. Die Branwells führten eine Art Doppelleben. Alice und William Branwell waren ohne Frage gute und ehrbare Schattenjäger, ganz anders als der Rat zu dieser Zeit. Doch sie hatten ebenso eine Schwäche für die Macht und die Möglichkeiten der Schattenwelt. Sie waren überzeugt, dass man die Unterweltler in den Kampf gegen Dämonen mit einbinden sollte. Ihre Fähigkeiten nutzen. Damit standen sie damals ziemlich allein da. Doch Yael half ihnen, die Verbindung zur Schattenwelt herzustellen. Und so arbeiteten sie mit einigen von ihnen zusammen, ohne dass der Rat davon wusste. William und Alice Branwell wurden zu den erfolgreichsten Jägern in ganz Europa. Und in ihre Fußstapfen traten später ihr ältester Sohn Christian und seine Zwillingsschwester Lucile. Vielleicht hatte der Rat in Idris ja etwas geahnt, ich weiß es nicht, aber der Erfolg der Schattenjäger-Familie gegen das Böse sprach für sich und niemand wollte wissen, wodurch oder mit wessen Hilfe das zustande kam. Yael versuchte immer, mich dazu zu bewegen, an diesem Bündnis teilzuhaben. Er hatte den ehrgeizigen Wunsch, dass eines Tages so ein Bund tatsächlich vom Rat abgesegnet würde. Ich hielt Yael für unglaublich naiv. Schattenjäger und Schattenwelter gemeinsam gegen Dämonen? Absurd.« Magnus lachte leise und zynisch, biss sich auf die Lippe und sah im nächsten Moment so aus, als würde er weinen. Aber das tat er nicht. Stattdessen redete er weiter, ohne Alec anzusehen. »Ich war damals so egoistisch. Ich habe mich nur für meine Geschäfte und mich interessiert und die waren nicht besonders shadowhuntertauglich. Falls du weißt, was ich meine. Ich verlor Yael an Christian Branwell, der zu einem äußerst ansehnlichen jungen Mann herangewachsen war.« Magnus verstummte wieder.
Alec sah, wie Magnus mit sich rang. Seine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Er wischte sich kurz darüber und hielt seine Fassung. »Dann begann der Zweite Weltkrieg. Alice und die Mädchen hielten sich in Frankreich auf bei Alices Mutter – einer Verlac, wenn ich mich recht erinnere. Die Unterweltler enthielten sich des Krieges der Irdischen. Der Rat ebenso. Nur einige Werwolf-Clans nicht. Sie konnten sich gar nicht schnell genug diesem Nazi-Abschaum anschließen. Die Liste derer Gräueltaten geht weit über das hinaus, was viele über den Zweiten Weltkrieg zu wissen glauben. Zu der Zeit wusste allerdings noch niemand, dass ein mächtiger Dämon genau dieses Chaos nutzte, um mehr und mehr seiner Dämonen in unsere Dimension zu holen. Niemand hielt ihn auf.«
»Beleth«, sagte Alec.
Magnus nickte. »Die Familie Branwell hatte ihr ganzes Leben dem erbitterten Kampf gegen das Böse und dem Schutz der Menschheit verschrieben. Sie glaubten an eine Allianz mit den Unterweltlern. Zu ihren Bedingungen natürlich.«
Magnus hielt erneut inne.
»Was ist passiert?«, fragte Alec vorsichtig.
»Alice und die Mädchen waren in ihrem kleinen Landhaus in Südfrankreich, als die Deutschen kamen. Niemand weiß, was genau passiert ist. Aber offenbar hatten Alice und Lucile Branwell versucht, die Dorfbewohner zu beschützen. Der Rat wusste von der bevorstehenden Invasion der Deutschen und deren Bündnis mit den Wölfen, doch sie hielten es nicht für nötig, sich in den zweiten, großen Krieg der Irdischen, wie sie es nannten, einzumischen. Dabei hätten nur ein paar mehr Schattenjäger gereicht, um zumindest dieses Unglück abzuwenden. Als man die Leichen von Alice, Lucile und der alten Verlac fand, war kaum noch etwas von ihnen übrig. Es muss ein ganzes Rudel Werwölfe über sie hergefallen sein. Und das Dorf war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Siobhan fand man unter der Erde in einem kleinen Verschlag. Ihr Körper war bedeckt vom Blut ihrer Familie. Die Kleine hatte noch nie sehr viel gesprochen. Aber von diesem Tag an redete sie gar nicht mehr.«
»Gar nicht mehr?«
»Nein. Sie hat nie mehr auch nur ein Wort gesprochen.«
Alec war erstaunt. »Aber sie redet jetzt.«
»Ja«, sagte Magnus und sah ihn durchdringend an.
»Wie ging es weiter?«
»In den Instituten von London, Paris und Berlin wusste man inzwischen, dass ein Großdämon sein Unwesen trieb, und sie betrachteten den Krieg nun nicht mehr nur als Angelegenheit der Irdischen. Der Rat von Idris setzte William Branwell auf Beleth an. Der war nach dem Tod seiner Frau und seiner ältesten Tochter natürlich mehr als motiviert, diesen Dämon zu vernichten. Aber, ich weiß nicht genau, warum er so auf Beleth fixiert war.«
»Woher weißt du das alles?«, unterbrach Alec ihn.
»Yael kam eines Tages zu mir, erzählte mir alles und bat mich um Hilfe. Er, William und Christian Branwell hatten einen Plan, um Beleth zu bezwingen. Doch dazu benötigten sie mehr, als nur einen Hexenmeister. Sie hätten eine ganze Armee Warlocks gebraucht. Und nur ich hatte damals den Einfluss, so etwas zustande zubringen. Leider war ich ein selbstsüchtiger, eifersüchtiger Narr und lehnte es ab, ihm und seinem Shadowhunter zu helfen. Christian Branwell sprach daraufhin beim Rat vor und bat sie um Hilfe. Um die Erlaubnis, offiziell Hexenmeister rekrutieren zu dürfen, und um eine ziemlich große Menge Elektrum. Der Rat lehnte ab. Christian Branwell muss daraufhin in Idris vor Wut getobt haben und dabei kam heraus, dass er ein Verhältnis mit einem abtrünnigen Hexenmeister hatte. Ihm wurden umgehend alle Runen entfernt, er musste seine Stele und seine Waffen abgeben. Zu dieser Zeit wimmelte es in London von Dämonen. Der junge Branwell hatte keine Chance ohne seine Runen. Er kehrte nie wieder zu seinem Vater, seiner Schwester und Yael zurück. Nur ein paar Tage später fand man seine verstümmelte Leiche in der Themse.«
Alec schluckte.
Magnus blickte auf. Eine Träne ran aus seinem Augenwinkel. »Das ist nicht der einzige Tod, den ich verschuldet habe. Yael war nicht mehr derselbe danach. Er war voller Zorn und Trauer, und das wurde zu Hass. Er begann sich mit einer Art von Magie zu befassen, mit der sich niemand befassen sollte.«
Alecs Oberkörper schnellte nach vorne. »Moment. War er der Hexenmeister, der Siobhans Schattenrune geschaffen hat?«
Magnus nickte. »Er ist der Einzige, der dazu in der Lage gewesen wäre.«
»Also, war es nicht der Hexenmeister, den Beleth vor ein paar Tagen getötet hat, wie wir annahmen.«
»Zweifelhaft.«
»Das ist gut«, sagte Alec und stand abrupt auf. »Finden wir Yael und lassen ihn die Verbindung Beleths zu Siobhan aufheben. Dann schicken wir Beleth dahin zurück, wo er hingehört.«
»Ich befürchte, das wird nicht möglich sein. Yael nahm sich nach Siobhans Opfer das Leben. Die ganze Familie Branwell war ausgelöscht und diese Familie war in vielerlei Hinsicht Yaels Familie geworden – die einzige, die er jemals hatte. Sein Tod geht genauso auf mein Konto wie Christian Branwells. Und wahrscheinlich auch Williams, und auch für Siobhans Schicksal bin ich verantwortlich.«
Alec ließ sich langsam wieder in den Sessel sinken. Magnus wandte sein Gesicht ab, doch Alec sah die Tränen. Alecs Kehle brannte. Er fühlte sich kalt und zittrig, und er wusste nicht, was er sagen sollte. Doch er wusste, was er tun konnte. Er stand auf, ging zu Magnus, hockte sich vor ihn, nahm eine seiner Hände und umschloss sie mit seinen. Alec hatte ihn lange nicht mehr so verletzlich gesehen. »Magnus«, sagte er leise. »Was auch immer du für eine Person damals warst. Ich kenne sie nicht. Aber der Magnus Bane, den ich kenne und lieben gelernt habe, der hat nichts mit dem Mann zu tun, den du eben beschrieben hast. Hilf uns, diesen Bastard Beleth loszuwerden und ich verspreche dir, ich werde dafür sorgen, dass der Rat nie wieder so viel Einfluss haben wird. Kein Valentine Morgenstern, kein Großdämon und auch keine Seelie-Queen. Gib uns nicht auf, Magnus. Gib diese Allianz nicht auf. Und vor allem, gib uns nicht auf.«
Magnus liefen Tränen über die Wangen, aber er lächelte.
»Ich liebe dich, Alexander Lightwood. Das weißt du, oder?«
Alec lächelte, ließ Magnus Hand los, beugte sich über ihn und küsste ihn.
Was für eine Befreiung für beide. Magnus wusste von diesem Augenblick an, dass er diesem Shadowhunter mit Leib und Seele und allem, was er noch war und jemals sein würde, zu einhundert Prozent ergeben war. Der Kuss war lang, sanft und das Tröstlichste, was er seit einer ganzen Weile gefühlt hatte.
Alec unterbrach diese wiedergewonnene Zärtlichkeit nur ungern, aber es war nicht der richtige Zeitpunkt für eine umfangreiche Versöhnung. Er richtete sich auf und setzte sich wieder in den Sessel gegenüber. Kurz schwiegen sie und sahen sich nur an. Das Bemerkenswerte an ihrer Beziehung war schon immer gewesen, dass sie keine Worte benötigten, um sich zu verstehen.
Doch Magnus Blick senkte sich plötzlich wieder. Das Sorgenvolle war in sein Gesicht zurückgekehrt. »Es gibt da noch etwas, dass du wissen solltest. Ich denke nicht, dass darüber etwas in eurer Datenbank steht.«
Alec sah ihn aufmerksam an.
»Siobhan besitzt eine Gabe.«
»Eine Gabe?«
»Ja, so wie Clary und Jocelyn, die Gegenstände in einem Bild verschwinden lassen können.«
»Okay. Und was ist es?«
»Hast du die kleine Branwell berührt? Hattet ihr bisher, wie soll ich sagen, Körperkontakt?«
»Wie bitte?«, Alec sah Magnus befremdet an.
»Beantworte meine Frage, Alexander«, sagte Magnus ernst.
»Na ja, sie hat mir ihre Hand gegeben zur Begrüßung. Das war es mit Körperkontakt.«
»Gut. Und gab es vielleicht einen emotional nahen Moment zwischen euch?«
»Nein«, sagte Alec so, als hätte man ihn gefragt, ob er mit einem Dämon kopuliert hätte.
»Gut.«
»Wieso? Was ist ihre Gabe, mach es nicht so spannend.«
»Es ist nicht leicht zu erklären, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Sie verfügt über gewisse empathische und sympathische Fähigkeiten.«
Alec sah ihn fragend an.
»Das heißt, sie kann jedes deiner Gefühle, Emotionen, selbst tief Verborgenes und Unbewusstes erspüren. Es fühlen. Sie kann diese Gefühle spiegeln und außerdem ihre Gefühle und Emotionen auf andere übertragen, sodass sie glauben, es wären ihre eigenen. Das kann sehr irritierend, ja geradezu verwirrend oder beängstigend sein.«
Alec rieb sich das Gesicht. »Das ist eine mächtige Gabe.«
»In der Tat. Als ich sie das erste Mal traf, war sie vier. Große, blaue Augen, langes, hellblondes Haar, ein Lächeln, welches Gletscher schmelzen ließe – ein kleiner Engel im wahrsten Sinne des Wortes. Sie spielte mit einer Puppe, lachte mich nur einen Augenblick lang an und danach hatte ich zwei Tage lang das Bedürfnis, mit Puppen zu spielen.«
»Und dazu reichte nur eine Berührung?«
»Ich habe sie gar nicht berührt. Ich denke, es muss entweder physische oder emotionale Nähe sein, um davon beeinflusst zu werden. Als Kind konnte sie das natürlich nicht steuern, doch sie hat später gelernt, es zu kontrollieren. Allein schon, weil ihr Vater nicht wollte, dass der Rat davon erfährt und sie nach Idris überführt, um sie für ihre Zwecke einzusetzen.«
»Das ist verständlich«, sagte Alec. »Sie kann also praktisch jeden dazu bewegen, das zu fühlen, was sie fühlt?«
»Ich denke schon. Und sie kann dir deine größten und geheimsten Ängste spiegeln.«
Plötzlich wurde Alec kreidebleich, er stand zeitlupenartig auf und sah Magnus nun nicht mehr so liebevoll an. »Branwell war jahrzehntelang an einen Wutdämon gebunden«, sagte er aufgebracht. »An einen Wutdämon! Hast du auch nur eine Ahnung, was das unter diesen Umständen bedeutet?« Er rieb sich mit der Hand über den Mund, wirkte nun eher abwesend und fahrig. »Ich muss zurück ins Institut! Ich fasse es nicht, dass du mir nicht gleich davon erzählt hast!« Er stand kurz unentschlossen da, starrte Magnus mit geröteten Augen an und ging dann, bevor Magnus noch etwas dazu sagen konnte.