Siobhan folgte Alec und Jace zur Zentrale. Das Institut war größer und offener als das in London. Hohe Räume, lichtdurchflutet – eine Mischung aus klassischer Architektur und futuristisch anmutender Technologie. Es war lange her, dass sie so viele Schattenjäger in einem Raum gesehen hatte. Sehr lange.
Die Zentrale selbst war ein ebenso hoher Raum, aufgeteilt auf mehrere Ebenen. Auf jeder davon herrschte reges Treiben. Gelegentlich streifte sie ein neugieriger Blick. Die Shadowhunter hier waren groß, durchtrainiert und erhaben. Offenbar vermischten sich heutzutage nur noch die Erfolg versprechenden Gene. Ihre himmlischen Vorfahren mussten stolz auf sie sein.
Vor dem größten der halbdurchsichtigen Monitore in der Mitte blieben sie stehen. Fragil und zerbrechlich sah diese Technologie aus. Mit nur einer Geste ›zauberte‹ Jace eine Karte der Stadt New York herbei. Viele rote Lichter blinkten darauf.
»Was bedeutet das?«, fragte Siobhan.
»Es zeigt Dämonenaktivität in der Stadt.«
Alec trat näher. »Verdammt! Das müssen Hunderte sein.«
»Ist das ungewöhnlich?«, fragte Siobhan.
Die beiden sahen sie befremdet an.
Sie kannte es nicht anders. Siobhan war in Chaos und Zerstörung groß geworden. Sie war sechs gewesen, als Hitler Deutschland übernahm und zwölf, als er England und der Welt den Krieg erklärte. Nicht wenige Unterweltler schlossen sich ihm an. Zur gleichen Zeit war Beleth aufgetaucht und der Terror bekam eine neue Dimension von abartig. Als sie neunzehn war – im August 1945 - warfen die Staaten Atombomben auf Japan ab. So endete der Krieg der Irdischen am 2. September 1945. Und es war auch das Ende ihres Krieges.
»Siobhan?«
Jaces Stimme holte sie ins Jetzt zurück. »Alles okay?«
Sie nickte und beobachtete die blinkenden roten Lichter genauer. »Jedes dieser Lichter steht für Dämonenaktivität?«
Alec nickte. »Ja, es müssen Hunderte sein.«
»Das ist nur ein Dämon«, sagte sie. Es war ein einziges rotes Licht, das so schnell von Ort zu Ort sprang, dass es aussah, als wären es Hunderte.
»Das ist Beleth. Er möchte uns glauben machen, dort draußen wäre die Hölle los und uns so aus dem Institut locken. Er streut uns. Dort kann er dann systematisch einen nach dem anderen ausschalten.« Sie sagte es mit einer Selbstverständlichkeit, als würde sie das weder berühren noch beunruhigen.
Alec und Jace sahen sich beunruhigt an.
»So hat er das auch in London so gemacht«, ahnte Alec.
Siobhan nickte.
Jace gefiel das nicht. Ihm gefiel es nicht, keine Kontrolle über die Situation zu haben. Er wollte sich nicht im Institut verstecken wie ein Hase in seinem Bau, während der Fuchs draußen herumlungerte und auf einen günstigen Moment wartete, um zuzuschlagen. Jace war der Jäger, nicht die Beute.
Alec musterte Siobhan weiterhin misstrauisch. »Kann es sein, dass er nach dir sucht? Erst hat er den Hexenmeister ausgeschaltet, der die Rune geschaffen hat und jetzt sucht er … die Rune.«
»Die Rune?«, mischte Jace sich ein. »Was für …«
»Später«, unterbrach Alec. »Achte darauf, dass sie keinen Schritt vor die Tür macht. Lass sie nicht aus den Augen.«
Er nickte zögerlich.
»Und sag den anderen Bescheid.«
»Okay«, sagte Jace, obwohl er nicht wusste, was genau er den anderen sagen sollte.
»Wir brauchen Magnus«, raunte Alec.
»Magnus?«, fragte Siobhan und zwischen ihren Augen bildete sich eine tiefe Furche. Doch Alec ignorierte das und ging.
Jace verstand nicht, was hier vorging und er brannte darauf zu erfahren, was das alles mit Branwell zu tun hatte. Er lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Tisch und musterte sie. Sie sah nicht aus wie ein Shadowhunter. Nicht nur, weil sie scheinbar fast frei von Runen war. Außerdem hatte sie etwas Unschuldiges an sich. Nicht gerade das, was einen Dämon das Fürchten lehrte … »Nicht!«, sagte er hektisch.
Zu spät.
Sie hatte den taktischen Alarm ausgelöst.
»Bollocks«, sagte sie und tat schuldbewusst, als überall die roten Lampen angingen und das nervtötende Geräusch des Alarms an jedermanns Trommelfellen zerrte. Es war kein Versehen, auch wenn sie es so aussehen ließ, aber es behagte ihr nicht, wie Jace sie gerade gemustert hatte.
Hastig schaltete er den Alarm wieder aus und sah sie verständnislos an.
Sie drehte ihm den Rücken zu und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Ihr war nicht entgangen, dass Jace nicht der Einzige war, der sie beobachtet hatte. Dieser Sebastian stand auf einer der oberen Ebenen und blickte zu ihnen hinunter. Als sich ihre Blicke trafen, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Nur kurz, aber lang genug, um Siobhans Interesse zu wecken.
»Ich kann selbst auf mich aufpassen«, wandte sich wieder an Jace. »Habt ihr in eurem schicken Institut einen Ort, an dem ich mich waschen und umziehen kann?«
»Ich zeige dir, wo du die nächste Zeit wohnen wirst. Dort findest du alles, was du benötigst. Unter einer Bedingung.«
Sie hob erwartungsvoll die Brauen.
»Du versuchst nicht, durch den Abfluss zu flüchten oder so was.«
»Warum sollte ich durch einen Abfluss flüchten?«, fragte sie verständnislos.
ᛟ
Jace sollte Siobhan zwar nicht aus den Augen lassen, aber er konnte sie ja schlecht unter die Dusche begleiten.
Obwohl …
Er grinste, als er den schmalen Gang zwischen den Quartieren entlangging.
»Jace!« Clary und Isabelle fingen ihn im Flur ab.
»Was gibt es?«
»Das würden wir gern von dir wissen«, entgegnete Clary. »Wir dürfen das Institut nicht verlassen. Was ist los?«
»Beleth«, sagte Jace.
»Sollten wir dann nicht da draußen sein und ihn jagen?«
»Wahrscheinlich.«
»Und warum dürfen wir das nicht?«
Isabelle mischte sich ein. »Alec, wird seine Gründe haben, Clary.« Dann wandte sie sich an Jace. »Was denkst du über Branwell?«
»Hm«, Jace strich sich die Haare zurück. »Ich weiß nicht.«
»Ja, geht uns auch so«, nickte Isabelle und blickte kurz zu Clary. »Offenbar hat sie Alec etwas erzählt, was ihn ziemlich aufgewühlt hat. Aber er scheint ihr zu vertrauen. Also sollten wir es auch tun. Sie hat definitiv etwas mit Beleth und seinem Auftauchen hier zu tun. So viel steht fest.«
»Ich vertraue ihr nicht«, sagte Clary. »Sie ist merkwürdig.«
»Ungelogen«, murmelte Jace.
»Und sie hat keine Runen an ihrem Körper«, sprach Clary weiter. »Ist sie nicht Shadowhunter von Geburt an? Ich meine, ich bin es erst seit Kurzem, und sieh mich an.«
»Ja, es ist eigentlich nicht möglich. Es sei denn, der Rat hat sie wegen eines Regelverstoßes verbannt und ihre Runen entfernen lassen.«
»Bis auf eine?«, zweifelte Isabelle.
Jonathan hatte der Unterhaltung im Flur aus sicherer Entfernung gelauscht. Ihm war nicht entgangen, dass Siobhan – falls das ihr Name war – eine unangenehme Aura hatte. Etwas an ihr erschien ihm seltsam vertraut. Er hatte vor, dem auf den Grund zu gehen. Bevor die anderen es taten. Also wartete er, bis die drei vom Gang verschwunden waren und ging zu Branwells Zimmer. Die Tür war nur angelehnt. Er klopfte. Niemand antwortete. Behutsam schob er die Tür auf und sah hinein. Sie war im Bad, also nutzte er die Gelegenheit, sich umzusehen. Auf dem Boden lag ihre Kleidung. Und was ihm schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen war, ließ ihn auch jetzt nicht los. Er hob ihre Jacke auf. Sie war aus grobem, altmodischen und schwerem Stoff. Er hielt sie unter die Nase, atmete tief ein und schloss die Augen. Ja, seine Sinne hatten ihn nicht getäuscht …
»Was wird das?«
Er fuhr herum.
Sie stand dort mit nassem Haar, das auf ihre schmalen Schultern tropfte. Jetzt, wo auch Dreck und Ruß aus ihrem Gesicht verschwunden war, sah man die ebenmäßige Blässe ihrer Haut, die auch sonst nur noch von einem Badetuch bedeckt war. In dem dämonischen Teil seiner Selbst machte sich Begehren breit.
»Du tropfst auf den Teppich«, sagte er und legte ihre Jacke aufs Bett. »Es tut mir leid, ich wollte hier nicht so hereinplatzen und …«
»Herumschnüffeln?«
Er lachte kurz und wurde gleich wieder ernst. »Was ist das für ein Geruch?«
Sie erstarrte für einen kurzen Augenblick und sah ihn dann durchdringend an. So, als würde sie etwas in seinen Augen suchen. Jonathan hielt ihrem Blick stand. Das plötzlich so eisige Grau ihrer Augen faszinierte ihn zunehmend.
»Verzweiflung«, sagte sie schließlich.
»Hm.«
Jonathan wusste, was das für ein Geruch war. Dieser süßlich herbe Duft von siedendem Blut und verbranntem Fleisch. Ja, er kannte diesen Geruch nur zu gut. Er trat dicht an sie heran und lächelte, während er ihr ins Ohr flüsterte: »Das Erste, was ein Shadowhunter in der Hölle verliert, sind die Runen.«
Sie spürte seinen Atem an ihrem Hals und schloss kurz die Augen. Sie wusste nicht, ob er Freund, Feind oder sogar beides war. Aber seine Nähe fühlte sich nicht bedrohlich an. Vertraut eher. Und das war irritierend. Sie rührte sich nicht. Auch nicht, als er seine Finger sanft über die Rune an ihrem Hals gleiten ließ. »Aber das hier ist keine gewöhnliche Rune.«
Erst jetzt sah er ihr wieder ins Gesicht. Seine Augen funkelten voller Faszination und Anspannung zugleich.
»Was hast du getan?«, raunte er ihr so nah ins Gesicht, dass ihre Lippen sich fast berührten.
Sie wich zurück. »Ich verstehe die Frage nicht.«
»Keine Sorge. Egal, was es ist. Ich behalte es für mich.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
Ihre scheinheilige Art amüsierte ihn. Er ließ von ihr ab. Er mochte sie. Anders, als er Clary mochte. Das war neu. Und … aufregend.
»Bist du hungrig?«, fragte er, als wäre gerade nichts von alldem passiert.
Sie nickte zögerlich.
»Gut. Ich kümmere mich darum.«
Er wandte er sich zum Gehen und da war es wieder, dieses vieldeutige Lächeln, das sie jetzt schon öfter an ihm bemerkt hatte.
Sie bemerkte, wie angespannt sie die ganze Zeit gewesen war. Dass jemand sie, nach allem, was erlebt hatte, noch so aus dem Konzept bringen konnte, verunsicherte sie. Nein, es ärgerte sie. Siobhan ging zum Spiegel und betrachtete ihr Ebenbild. Ihre Finger zogen die feinen Linien der Rune an ihrem Hals nach. Er hatte recht. Das war keine gewöhnliche Rune. Aber das schien diesen Sebastian nicht sonderlich zu beunruhigen. Und das machte ihn vielleicht noch gefährlicher als Jace.