Jonathan stand hinter dem Fenster seines Apartments und blickte auf das Leben draußen. Er verachtete und beneidete die Irdischen gleichermaßen für ihre Ahnungslosigkeit. Er hatte nie verstanden, wieso es seine Aufgabe als Shadowhunter sein sollte, die Irdischen zu beschützen. Die Nephilim waren so viel höhere Wesen als diese insektenähnlich herumwuselnden Kreaturen dort unten.
Er bemerkte Schritte hinter sich, drehte sich jedoch nicht um. Dass Valentine früher oder später wieder auftauchen würde, hatte er geahnt.
»Jetzt, wo der große böse Dämon sicher verstaut ist, kommst du wieder aus deinem Loch gekrochen«, sagte er verächtlich und wandte sich um. »Was willst du hier, Vater?«
Valentine zog einen der Stühle vom Tisch und setzte sich. »Kann ein Vater nicht hin und wieder seinen Sohn besuchen?«
»Was willst du?«, wiederholte Jonathan.
Valentine gab ein gespieltes Seufzen von sich, legte das Seelenschwert vor sich auf den Tisch, deutete darauf und sagte: »Dieses Ding nützt uns überhaupt nichts, wenn wir nicht auch den Rest dazu bekommen.«
Jonathan verschränkte die Arme vor der Brust und sah seinen Vater spöttisch an.
Valentine musterte ihn kurz, lächelte und nickte kaum merklich. Seine Hand fuhr über die glänzende Klinge des mächtigen Engelsartefakts. »Eins muss ich dir lassen, mein Sohn. Du bist wirklich schwer zu durchschauen. Was ist es denn nun, das du willst? Vielleicht kann ich dir helfen.«
Jonathans Blick verfinsterte sich. »Im Moment …«, er blickte wieder aus dem Fenster. »… dich töten.«
Valentine rieb sich das raue Kinn und stand wieder auf. »Die Sache ist die, Jonathan. Du sagst das ständig, aber da du nicht einen einzigen ernsthaften Versuch unternommen hast, mich zu töten, gehe ich davon aus, dass es nicht das ist, was du wirklich willst. Also was ist es, das dich so sehr beschäftigt, dass du sogar vergessen hast, mich zu bestrafen?«
Jonathan starrte weiter nach draußen und dachte über Valentines Frage nach. Es gab nicht viel, was er gewollt hatte – Rache an seinem Vater, Clarys bedingungslose Liebe, vielleicht so etwas wie ein Leben – doch nichts davon fühlte sich so an, als würde es die zehrende Leere ausfüllen oder den dauernden Unfrieden in seinem Innersten zum Schweigen bringen können.
»Ich war vielleicht etwas unfair zu dir, als wir das letzte Mal gesprochen haben«, sagte Valentine und kam näher.
Jonathan ignorierte ihn weiter.
»Die kleine Branwell«, fuhr Valentine fort.
Jonathans Kopf schnellte herum.
Valentine grinste. »Ich habe Branwells Jüngste unterschätzt. Sie könnte unsere Verbündete sein.«
»Unsere?«, zweifelte Jonathan erneut Valentines Absichten an. Sein Blick wurde argwöhnisch. »Hast du nicht behauptet, sie würde mich manipulieren?«
Valentine winkte ab, als wäre das Schnee von gestern. »Vielleicht habe ich dein Interesse an ihr nur falsch interpretiert.«
»Mein Interesse an ihr?«, wiederholte Jonathan und wurde langsam wütend. Valentines Manipulationsversuche waren so plump, dass sie beleidigend waren. »Sag, was du tatsächlich willst und verschwinde«, knurrte er.
»Ich denke, sie hat etwas mit dem Verschwinden des Kelches zu tun. Die Kleine spielt ein doppeltes Spiel und sie hat Hilfe. Mächtige Hilfe.«
»Denkst du«, spottete Jonathan.
»Nun, ich bin mir inzwischen ziemlich sicher.«
Jonathan wandte sich Valentine nun schon etwas interessierter zu.
»Ich weiß jetzt, wer das kleine Kunststück mit Alicante vollbrachte und den Kelch gestohlen hat. Sein Name ist Yael«, fuhr Valentine fort. »Ein Hexenmeister, der den Rat hasst, wie kein anderer.«
»Und?«, fragte Jonathan nun wieder gelangweilt.
Valentine lächelte verschwörerisch, trat noch dichter an seinen Sohn heran, tippte mit dem Finger gegen dessen Brust und sagte: »Siobhan Branwell ist so etwas wie Yaels kleine Schwester. Nicht im Blute, aber es gibt sehr viel engere Bindungen als die Blutsbande. Und das macht sie so wichtig. Gut für uns also, dass die Kleine dich mag. Nutze das. Komm ihr näher. Finde raus, was sie wirklich will. Niemand entkommt Edom so einfach. Was hat sie dafür tun müssen? Was ist ihr und Yaels Plan? Wofür brauchen sie den Kelch?«
»Wie kommst du darauf, dass sie mich mag?«
Valentine rollte mit den Augen. Von allen Fragen, die er jetzt hätte stellen müssen, stellt sein dummer Sohn nur diese. Er war kein bisschen besser als Jace, grollte es in ihm. »Hör zu, Junge. Alles, was ich über die Familie Branwell weiß, deutet darauf hin, dass sie nichts, aber auch gar nichts mit den anderen im Institut gemein hat. Die kleine Branwell hat mehr mit dir und mir gemein, als ich dachte.«
»Wir beide, du und ich – wir haben absolut nichts gemein«, zischte Jonathan mit der Gehässigkeit einer wütenden Kobra. Aber, sein Interesse war geweckt. »Erzähl mir, was du weißt«, forderte er.
Valentine setzte sich wieder und lehnte sich mit triumphierender Miene zurück. »Ich hörte von William Branwell, als ich acht war und begann ihn zu studieren, als ich dreizehn war. Es stellte sich heraus – seine Forschung, seine Ansichten, seine Hingabe – alles diente einzig dem Zweck, Dämonen effizient und mit so wenig Verlusten, wie möglich zu vernichten. Branwell war ein Genie. Doch mir war aufgefallen, dass nur die Erwähnung des Namens Branwell regelrechtes Schaudern bei einigen Ratsmitgliedern auslöste. Also begann ich in geschwärzten Akten, verbotenen Tagebüchern und Dateien zu stöbern. Ich wollte unbedingt wissen, warum die Familie Branwell, die einen so mächtigen Dämon gebannt hatte, warum diese offiziell so hochgelobten Helden zugleich so viel Unwohlsein beim obersten Rat auslösten.«
Jonathan wurde ungeduldig. »Und was hast du nun herausgefunden?«
»William Branwell jagte nicht nur Dämonen, er jagte auch Schattenwesen und nicht ausschließlich jene, die gegen die Regeln des Rates verstoßen hatten. Doch er tötete sie nicht, er sammelte sie. Dämonen und Schattenwesen gleichermaßen.«
»Warum?«
»Um sie zu studieren, sie zu verändern, sie zu verbessern – alles Mögliche eben.«
»Er experimentierte an ihnen?«
»Wie ich bereits erwähnte, Branwell hat mich zu dem inspiriert, was ich heute bin: der Aufstand, der Zirkel, der Entschluss, mich gegen den Rat zu stellen, um das Aussterben der Schattenjäger und die virale Ausbreitung von Dämonenabschaum zu verhindern. Branwell war ein Visionär und er war sich nicht zu schade, gegen die Gesetze und Regeln des Rates zu verstoßen, um seine Ziele zu verwirklichen. Er und seine Familie waren ihrer Zeit weit voraus, Jonathan.«
»Warum weiß davon niemand?«, wunderte er sich.
»Oh, die Obersten des Rates wissen sehr wohl davon. Sie verscharrten das Branwell-Anwesen in Idris unter einem Fluch. Versiegelten alle Unterlagen zu den Familienmitgliedern und fälschten die Einträge in der Shadowhunter-Datenbank. Was denkst du, weshalb du keinen Eintrag über Siobhan Branwells empathische Fähigkeiten gefunden hast? Keiner in ihrer Familie zuvor besaß diese oder eine ähnliche Gabe. Das ist sicher keine Fähigkeit eines Nephilim.«
»Du denkst, Branwell hat an seinen Kindern experimentiert?«
»Vielleicht. Dazu fand ich keine Aufzeichnungen. Aber, mich hat er zumindest auf die eine oder andere Idee gebracht.«
Valentine hatte Jonathan jetzt genau da, wo er ihn haben wollte. Sein Sohn war so verblüfft und gleichermaßen fasziniert von dem, was Valentine gerade angedeutet hatte, dass er sogar vergaß, seinem Vater für den letzten Satz einen hasserfüllten Blick zuzuwerfen.
Valentine stand auf, streckte sich demonstrativ und nahm das Schwert wieder an sich. »Ich verlasse mich darauf, dass du mir die anderen beiden Insignien beschaffen wirst. Denn ich beabsichtige nicht erst herauszufinden, was Branwell, ihr Dämon und der Hexenmeister damit vorhaben, wenn es zu spät ist.«
Jonathan nickte abwesend.
Valentine trat dicht an Jonathan heran und raunte ihm ins Ohr: »Kontrolle ist Macht, mein Sohn. Vergiss das nicht.« Dann klopfte er ihm auf die Schulter und ging.
Jonathan starrte noch eine ganze Weile zur Tür, nachdem sein Vater gegangen war. Er traute Valentine nicht. Er würde es nie tun, aber er hatte ein paar sehr interessante Fragen in den Raum geworfen. Jonathan war so in Gedanken, dass er das erste zaghafte Klopfen an seiner Apartmenttür überhörte.
ᛟ
Siobhan bereute schon in dem Moment, als sie dort stand, dass sie geklopft hatte, dass sie überhaupt dort war. Es war dumm, leichtsinnig und … nun, dumm hatte es schon einigermaßen gut getroffen. Als niemand öffnete, wandte sie sich zum Gehen, doch genau in diesem Moment öffnete sich die Tür.
»Siobhan? Woher weißt du, wo ich wohne?«
Sie kratzte sich verlegen die Stirn, schob dann ihre Hände in die Gesäßtaschen ihrer Jeans, hob kurz die Schultern und antwortete: »Ich kann nicht schlafen. Und im Institut sind alle so komisch. Isabelle hat mir verraten, wo du wohnst. Tut mir leid. Das war eine dumme Idee. Ich sollte wieder …«
»Nein«, beeilte Sebastian, sich zu sagen und lächelte freundlich. »Nein, ganz und gar nicht. Komm rein.«
Zögernd trat sie ein.
»Ich will wirklich nicht stören. Ich meine, es ist schon ziemlich spät und nicht jeder mag unangekündigten Besuch.«
»Niemand genau genommen«, sagte er und musste über ihren erschrockenen Gesichtsausdruck schmunzeln. »In deinem Fall ist das natürlich etwas anderes.«
»Warum?«
Das war eine interessante Frage, die er lieber unbeantwortet lies. Er schloss die Tür hinter ihr und beobachtete sie, während sie durch den einzigen Wohnraum seines Studio-Apartments schlenderte und sich alles darin ansah. Vor dem Klavier blieb sie schließlich stehen.
»Spielst du?«, fragte sie.
»Gelegentlich. Und du?«
»Nicht in den letzten zweiundsiebzig Jahren.«
Ihre Blicke trafen sich und er glaubte etwas Zorniges hinter ihren anziehenden, aber zuweilen recht unruhigen Augen zu erkennen.
Er ging zum Küchentresen und fragte so beiläufig wie möglich: »Bist du hungrig? Ich habe gehört, von einem Vampir ausgesaugt zu werden, kann einen ziemlich auszehren.«
Sie biss sich amüsiert auf die Unterlippe, hob zwei Finger in die Luft und sagte: »Es waren zwei. Habe ich gehört.«
Er lachte leise. »Dann bist du also ganz besonders hungrig.«
Jonathan wollte gerade beginnen, etwas zum Essen vorzubereiten, als er ihre Hand plötzlich an seinem Arm spürte. »Deswegen bin ich nicht hier.«
Er hielt inne und sah sie erstaunt an.
»Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen.«
»Entschuldigen?«
Sie nickte. »Ich wollte dir keine Angst machen.«
Er wusste nicht, wovon sie sprach. Dementsprechend war wohl auch sein Gesichtsausdruck.
Sie erklärte: »Der Kuss. Falls du dich erinnerst. Das ist schon ein paar Tage her.«
»Ich erinnere mich sehr gut«, sagte er und lächelte vieldeutig.
Das brachte sie kurz aus dem Konzept. »Ja … ähm … klar. Also, das kam etwas überraschend und ich war gerade erst zurück aus der …«, sie wusste nicht, wie sie es ihm erklären sollte, aber sie versuchte es. »Du hast vielleicht etwas gespürt, was dich verunsichert hat. Du weißt inzwischen über meine … Gabe … also, eigentlich habe ich das unter Kontrolle, aber manchmal …«, sie überlegte, wie sie ihm erklären sollte, was passierte, wenn sie sie nicht unter Kontrolle hatte.
Natürlich erinnerte sich an den Kuss. Und was er dabei gefühlt hatte. Und was das in ihm ausgelöst hatte. Nicht zu vergessen, das Messer in seiner Hand.
»Wie funktioniert deine Gabe?«, fragte er.
»Wie sie funktioniert?« Sie sah ihn etwas hilflos an. »Keine Ahnung. Andere fühlen, was ich fühle. Wenn ich es will oder wenn ich nicht darauf achte. Emotionen wie Wut, Angst, Zuneigung, alles Mögliche und eben das, was dazugehört: das Zittern und der kalte Schweiß bei Angst, die Verwirrung und Orientierungslosigkeit bei Panik, das Kribbeln in der Magengegend bei … du weißt schon. So was eben.«
Er dachte an den Dämon in der Gasse, der unter ihrer Hand in Panik geraten und gegen die Wand gelaufen war.
»Und dazu braucht es also nur eine Berührung?«
»Manchmal nicht einmal das. Ich vermeide es, jemanden spüren zu lassen, was ich fühle. Und ich kann die Gefühle anderer nicht spüren, wenn sie es nicht zulassen. Andererseits tragen die meisten ihr Innerstes so penetrant vor sich her wie billiges Parfum. Werwölfe sind am schlimmsten.« Sie rümpfte die Nase und sah an Jonathan vorbei zum Fenster.
»Das ist eine ziemlich beeindruckende Fähigkeit.«
»Beängstigend, trifft es eher. Alle tun so, als könnte ich Gedankenlesen und würde in ihre Privatsphäre eindringen oder was weiß ich. Als würde mich deren inneres Geplapper interessieren.«
»Ich bin nicht die anderen«, sagte er. »Ich glaube, dass Emotionen uns große Macht verleihen. Und du kannst nicht nur deine, sondern auch die der anderen nutzen. Ich denke, dir ist gar nicht bewusst, wie mächtig dich das macht.« Jonathan strich Siobhan sanft eine Strähne hinters Ohr.
»Was soll ich mit so einer Macht denn, deiner Meinung nach, anfangen?«
»Wie du diesen Skerpia erledigt hast, das war schon ziemlich nützlich.«
»Tot wäre ich trotzdem. Dass das nicht der Fall ist, habe ich lediglich Beleths Unsterblichkeit zu verdanken.«
»Beleth«, wiederholte Jonathan den Namen des Dämons verächtlich. Er mochte dieses Thema nicht. »Was ist mit mir? Was spürst du in meiner Nähe?«, lenkte er das Gespräch wieder in eine Richtung, die ihn nicht innerlich zum Kochen brachte.
Sie wusste, dass er das fragen würde. Jeder, der von ihrer Fähigkeit erfuhr, wollte das irgendwann wissen. »Keine Sorge. Da ist nichts«, sagte sie.
»Da ist nichts?«, wiederholte er verletzt.
Sie verneinte kopfschüttelnd, lächelte und legte ihre Hand an seine Brust. »Nein. Bei dir muss ich mich ganz auf das verlassen, was dein Körper mir sagt.«
»Ist das gut oder schlecht?«
Sie schwieg und ertastete den gleichmäßigen und kräftigen Schlag seines Herzens. Sein Blick veränderte sich. Die Farbe seiner Augen glänzte plötzlich wie das glasklare Blau einer Lagune. Sein Brustkorb hob und senkte sich schneller, und seine Atmung wurde unruhig.
Zaghaft, fast zu vorsichtig legte er seine Hand jetzt an ihre Hüfte und zog sie zu sich. So dicht, dass sie befürchtete, er müsste nun auch ihren verräterischen Herzschlag fühlen.
»Und?«, fragte er. Seine Lippen kamen ihren dabei so nahe, dass sie jedes Wort darauf spüren konnte. »Was sagt dir mein Körper?«
Sie war nicht in der Lage, darauf zu antworten. Das musste sie auch nicht, denn das warme Weich seiner Lippen umschloss mit unerwarteter Zärtlichkeit ihren Mund. Mit einem hauchfeinen Lächeln auf seinen Wangen sah er sie wieder an und schien auf die Antwort zu warten.
Sie versuchte, ihren inneren Aufruhr unter Kontrolle zu bringen. Doch das war gar nicht so leicht, wenn er sie so ansah, wie er es gerade tat. Und auch ziemlich riskant. Sie spürte bereits, wie sie etwas zu überwältigen drohte, was sie in wirklich große Schwierigkeiten bringen würde.
Abrupt wandte sie sich von ihm ab und suchte mit verzweifeltem Blick die Tür zum Bad. Zum Glück gab es in diesem Apartment nicht allzu viele Türen.
Als sie die Badezimmertür hinter sich geschlossen hatte, atmete sie erleichtert auf und blickte in den Spiegel. Es war, wie sie befürchtet hatte – das Blau ihrer Augen, war einem dämonischen Schwarz gewichen. Von den Schläfen bis zu ihrem Kinn zeichneten sich dunkle Linien, die aussahen, wie die fein verzweigten Äste eines Baumes. Wieso war das nicht passiert, als Jace sie geküsst hatte? Es war nicht ungewöhnlich, dass das, was in ihr schlummerte, in bestimmten Situationen zum Vorschein kommen wollte. Beleth hatte sie gelehrt, das zu beherrschen. Das hätte nicht passieren dürfen.
»Ist alles in Ordnung?«, hörte sie Sebastians besorgte Stimme von draußen.
Die natürliche Farbe ihrer Augen kehrte allmählich zurück. »Entschuldige«, rief sie durch die geschlossene Tür. »Mir war plötzlich nicht gut. Das Vampirgift, denke ich.«
Du bist so dumm, Branwell, schimpfte sie sich innerlich. Setzte sich auf den Rand der Wanne, stützte ihre Hände auf die Knie und ließ ihren Kopf hängen. Was war das nur mit ihm, dass der sie derart in Schwierigkeiten bringen konnte?
»Kann ich hereinkommen?«, hörte sie ihn vorsichtig fragen.
Sie kontrollierte mit einem schnellen Blick, dass nichts mehr von ihrem zweiten Gesicht zu sehen war, und blickte zu der sich bereits öffnenden Tür.
Sebastian sah weniger besorgt als neugierig aus. Er hockte sich vor sie und sah sie mitfühlend an. »Ist schon eine Menge passiert, in den letzten Tagen, nicht wahr?«
Sie wich seinem Blick aus und nickte.
»Okay, ich habe eine Idee. Wie wäre es, wenn ich uns endlich etwas zu Essen mache und du dich auf dem Sofa ausruhst?«
»Ich sollte gehen.«
Jonathan seufzte. »Ich verspreche dir, ich werde dich nicht mehr küssen.« Er hob die rechte Hand in die Luft und verschränkte seine Finger etwas unbeholfen.
»Was soll das sein?« Siobhan war nicht nach Lächeln, aber ihre Mundwinkel hoben sich dennoch.
Er blickte auf seine Hand und versicherte: »Das ist der offizielle Shadowhunter-nicht-Küssen-Eid. Kennst du den nicht?«
»Hast du dazu auch die passende Rune?«
Er holte seine Stele hervor und hielt sie ihr hin. »Lass dir was einfallen, Branwell.«
Sie verlor sich kurz in dem Glänzen seiner Augen und den winzigen Grübchen seines verschmitzten Lächelns und gab sich geschlagen. »Wenn ich es mir recht überlege, bin ich schon ein wenig hungrig.«
Sie hatte einen Bärenhunger.
Er zeigte Genugtuung, ließ die Stele wieder in seiner Tasche verschwinden und verließ das Bad.
»Gute Entscheidung«, hörte sie ihn draußen sagen und dann war da nur noch das geschäftige Klappern von Geschirr und Töpfen.
Nein, das war es ganz und gar nicht. Aber sie wollte auch nicht zurück ins Institut. Dahin, wo Beleth war. Siobhan verließ das Bad, setzte sich auf das gemütliche Sofa und beobachtete Jonathan bei der Arbeit.
Seine Handgriffe wirkten sicher und routiniert. Wie alles an ihm. Er war groß, schlank und trotzdem recht breitschultrig. Seine Bewegungen hatten nichts Grobes oder Gewöhnliches. Trotz seines nicht ganz so engen Shirts zeichneten sich darunter die Konturen eines gut trainierten Körpers ab. Seine Hände waren ebenso schlank und langgliederig – die Hände eines Künstlers, nicht die eines Kriegers. Siobhan huschte ein Lächeln über das Gesicht. Wie sehr man sich von Äußerlichkeiten täuschen lassen konnte. Er war durch und durch ein Krieger. Das hatte sie gesehen, als er mit Jace in der Gasse die Skerpia bekämpft hatte. Sebastian Verlac genoss das Töten. Er war ein Shadowhunter, ein ziemlich eindrucksvoller dazu.
»Wenn du mich so anguckst«, sagte er schmunzelnd, »könnte ich annehmen, du magst mich, Branwell.«
»Wusstest du, dass wir miteinander verwandt sind«, entgegnete sie, ohne auf seine Bemerkung einzugehen.
Das Messer in seiner Hand, mit dem er gerade noch Gemüse in Streifen geschnitten hatte, entglitt ihm und fiel geräuschvoll zu Boden. Noch während er es wieder aufhob, erklärte Siobhan: »Meine Großmutter war eine Verlac. Du siehst ihr ziemlich ähnlich.«
Der zweite Satz war ein Scherz, doch Sebastian schien wohl nicht nach Scherzen.
»Ich denke, nach so langer Zeit, kann man es getrost als sehr entfernte Verwandtschaft bezeichnen«, sagte er, ohne sie anzusehen.
Siobhan zog ihre Beine auf das Sofa und schlang ihre Arme darum. »Ja, und Shadowhunter sind ja alle ein wenig miteinander verwandt. Zumindest die mit den großen Namen.«
Jonathan fiel auf, dass sie das ziemlich abfällig gesagt hatte. Das bestätigte, was Valentine ihm über die Branwells erzählt hatte. Sie hatte wohl tatsächlich nicht viel mit dem Rat am Hut.
»Ist auch egal«, fuhr sie fort. »Da du mich ja nicht mehr küssen wirst, nicht wahr?«
Er hob seine Hand, kreuzte seine Finger und lächelte schief.
Mit einem lauten Seufzen ließ sie sich in die weichen Kissen des Sofas sinken und blickte an die Decke. Die hatte auch schon bessere Zeiten gesehen. Ein Wasserschaden, augenscheinlich in der Wohnung darüber, hatte einen großen, unförmigen, gelblich braunen Fleck hinterlassen. Sie kniff ihr rechtes Auge zu und erkannte darin das pausbackige Gesicht eines dieser albernen Putten, welche sich die Menschen gern auf ihre Kamine oder Anrichten stellten, weil sie diese pummeligen, nackten kleinen Engelskarikaturen für besonders niedlich hielten.
»Mach dir nicht so viel Mühe mit dem Essen, ich kann sowieso nichts schmecken«, rief sie.
Jonathan konnte sich gut daran erinnern, dass er auch erst drei Wochen nach seiner Wiederkehr aus Edom etwas schmecken konnte. Er hätte ihr so gern gesagt, dass er das kannte und dass das vergehen würde, aber stattdessen musste er überrascht tun und so etwas sagen wie: »Du kannst nichts schmecken?«
»Schon okay«, sagte sie. »Nur ein kleiner Preis für die Freiheit, nicht wahr?«
Ihr Blick ging ins Leere und ihre Hand an ihren Hals, wo sie abwesend die Linien ihrer Schattenrune nachzog. Er hatte das schon einige Male bei ihr beobachtet. Jonathan legte das Messer beiseite, setzte sich zu ihr aufs Sofa und sah sie nachdenklich an. »Warum bist du wirklich hier?«
Sie wandte ihren Kopf zu Seite und schwieg.
Und gerade als er wieder etwas sagen wollte, sah sie ihn an und sagte: »Du solltest nicht anfangen, mich zu mögen, Sebastian Verlac.«
»Dafür ist es aber leider zu spät, Siobhan Branwell.«