Jace suchte im unteren Teil des Hauses nach einem Zugang zu den Tunneln. Meist war es eine versteckte Tür, irgendwo in den Kellern der Herrenhäuser. Doch das Branwell-Haus schien keinen Keller zu haben. Oder er war einfach zu gut versteckt. Systematisch klopfte Jace jede Wand und jedes Bücherregal im Untergeschoss ab, um einen Hinweis auf einen Geheimgang zu finden.
Clary untersuchte derweil das Arbeitszimmer von William Branwell. Auf seinem Schreibtisch stand ein Familienfoto. Sie nahm es in die Hand und betrachtete es. Dank ihrer Recherche über die Branwells konnte sie den Gesichtern darauf sogar Namen zuordnen. Da waren William und seine Frau Alice Branwell. Seine Hand lag an ihrer Hüfte und sein Blick zeigte die tiefe Verbundenheit zu ihr. Die noch recht jungen Zwillinge Christian und Lucile hatten schon diesen typischen Shadowhunter Blick – selbstbewusst, kühl und misstrauisch. Sie waren hübsch, aber welcher Schattenjäger war das nicht, und sie sahen sich, obwohl unterschiedlichen Geschlechts, tatsächlich mehr als nur ähnlich. Das kleine Mädchen zwischen ihnen musste Siobhan sein. Auf diesem Foto war noch eine andere Person, die Clary nicht aus der Schattenjägerdatei kannte. Er stand hinter der Kleinen. Ein junger Mann. Im Gegensatz zum Rest der Familie hatte er dunkle Augen und dunkle Haare. Clary erinnerte sein Aussehen an Alec. Doch das war kein Shadowhunter. Seine Hände ruhten in behütender Geste auf den Schultern der kleinen Siobhan, die so offen und unschuldig in die Kamera strahlte, als wäre sie ein ganz normales, kleines Mädchen aus einer ganz normalen Familie.
Clary drehte das Bild in ihren Händen. Ihr fiel auf, dass sich die Rückseite des Rahmens zu sehr wölbte.
Jace betrat das Arbeitszimmer, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sah etwas hilflos aus.
»Was ist?«, fragte Clary.
»Ich kann keinen verdammten Keller oder Tunnel oder irgendwas in der Art finden«, sagte er und ließ sich auf einen der zwei Sessel vor dem Schreibtisch plumpsen.
Clary betrachtete immer noch das Bild in ihren Händen.
»Was hast du da?«, fragte Jace neugierig.
»Ein Familienfoto.« Sie drehte es wieder auf die Rückseite. »Aber, da ist etwas drin.«
Sie hatte den Satz kaum beendet, da stand Jace schon wieder, hatte ihr den Bilderrahmen aus der Hand genommen und fummelte die Rückseite ab. »Bingo!«, sagte er zufrieden und hielt nun ein dick zusammengefaltetes Stück Papier in der Hand.
Clary sah in fragend an.
»Das ist der Grundriss des Anwesens. Hätte ich gewusst, dass der so schlecht versteckt ist, hätte ich mir das ganze Geklopfe gespart und gleich danach gesucht.«
Jace entfaltete das erstaunlich große Stück Papier vor Clary auf dem Schreibtisch, und er hatte recht. Es war ein ausführlicher Grundriss des Hauses und eine Karte des umliegenden Anwesens. Aufmerksam studierte er sie. Clary nahm das Foto aus dem Rahmen und drehte es um. Auf der Rückseite war eine handschriftliche Notiz: Ronchamp/Frankreich Sommer 1933
»Und?«, fragte sie Jace. »Hast du den Eingang gefunden?«
»Oh ja«, sagte er, faltete die Karte wieder zusammen, nahm ihr das Familienfoto aus der Hand, steckte es in die Innentasche seiner Lederjacke und ging vor.
In der Eingangshalle des Hauses blickte er sich kurz suchend um und kniete sich dann vor eines der Muster, welches den Marmorboden verzierte. Erst als er seine Stele aus der Hosentasche nahm und ein paar der Linien nachzeichnete, erkannte Clary, dass in diesem Muster eine Rune versteckt war, die nun hell zu leuchten begann. Jace stand auf, schob Clary etwas zur Seite und blickte erwartungsvoll auf den Boden vor ihren Füßen.
Und tatsächlich öffnete sich der Boden und offenbarte einen unbeleuchteten Zugang nach unten. Zweifelnd schaute Clary in dieses Loch mit Treppe, welche in absoluter Finsternis zu verschwinden schien.
Jace ging vor. »Komm schon, Angsthase und benutze dein Elfenlicht. Ich habe keine Lust, dich am Fuß der Treppe aufzulesen.«
»Ich bin kein Angsthase«, murrte sie und folgte ihm vorsichtigen Schrittes die schmale und viel zu steile Treppe hinab in den Keller. Das Licht in ihren Händen reichte gerade einmal aus, um die Dunkelheit in einem Umkreis von höchstens einem Meter zu vertreiben. Clary lief es kalt den Rücken runter, denn man sah absolut nichts und der Raum schien recht groß zu sein, so wie ihre Schritte klangen. Auch Jace war beunruhigend still und seine Schritte vorsichtig. Langsam zog er sein Schwert und hielt es mit beiden Händen vor seinen Körper. »Haben wir nicht eine Rune, die das Sehen in Dunkelheit möglich macht?«, fragte sie leise.
»Die funktioniert nur, wenn es noch einen Rest Licht gibt, hier ist es allerdings so finster wie im Arsch eines Croucher-Dämons.«
»Na, du musst es ja wissen«, sagte sie.
Er lachte leise, wurde aber sofort wieder ernst und konzentrierte sich auf seine Schritte in der Dunkelheit.
»Verdammt«, fluchte er. »Hier muss doch irgendwo etwas sein.«
»Ja, ein Lichtschalter wäre nicht schlecht.«
»Es sei denn …«, Jace blieb abrupt stehen und sagte nun mit lauter und fester Stimme: »Lumen Accendere!«
Er hatte es kaum ausgesprochen, da entzündeten sich kleine Öllampen in ihren Wandhalterungen und erleuchteten so nach und nach den ganzen Raum.
»Oh, in Hogwarts warst du also auch«, scherzte Clary und stellte erleichtert fest, dass es ein ganz gewöhnlicher, wenn auch riesiger, Kellerraum war. Unterteilt wie eine Bibliothek durch hohe Regale, die gefüllt waren mit altem Kram und Holzkisten. Clary hätte zu gern in einigen von denen gestöbert, doch Jace ging schon wieder weiter. Er machte erst vor einer massiven Eisentür am anderen Ende des Raumes halt.
Die Tür war mit unzähligen Runen und anderen magischen Zeichen verziert. Das meiste davon hatte Clary noch nie gesehen. Jace wusste aber auch hier, was zu tun war und zeichnete eine der Runen mit seiner Stele nach. Ein lautes, metallisches Klacken verriet, dass er die Tür damit entriegelt hatte. Er schob die schwere Eisentür langsam auf.
Ihm schlug ein widerlicher Gestank entgegen. Reflexartig legte er seinen Arm über die Nase und fluchte: »Bei den Engeln!«
Clary stand da, ebenfalls mit einer Hand über Mund und Nase und fragte: »Was zur Hölle ist das?«
»Schwefel«, erklärte Jace, der sich allmählich an den Gestank gewöhnte. Vielleicht waren auch gerade alle seine Geruchsnerven abgestorben. Ihm war beides recht. »Ich denke, hier sind wir richtig«, sagte er und ging vor.
»Bist du sicher?« Clary folgte ihm nur widerwillig in den Tunnel.
»Schwefel ist eine der Absonderungen von dunkler Magie. Und so wie ich das sehe, passiert gerade auch etwas ziemlich Übles in Alicante. Also immer der Nase nach würde ich sagen.«
Es war nicht der Gestank, der Clary in diesem Moment verunsicherte, es war der leicht vibrierende Klang in Jaces Stimme. Sie hatte ihn noch nie zuvor bei ihm gehört, diesen Klang von Furcht.
Der Tunnel war ein langer und schier unendlich verzweigter; halbrunder Gang, dessen Wände und der Boden aus kaltem Naturstein geschlagen waren. Die feuchten Wände waren, ebenso wie die Tür, die zu diesem Gang geführt hatte, übersät mit Zeichen und Runen, die sich erst offenbarten, als Clary mit ihrem Licht in deren Nähe kam. Der schweflige Geruch war dauerpräsent, aber auch Clary hatte sich allmählich daran gewöhnt.
Jace hatte ein beeindruckendes Gedächtnis, was diese Tunnel betraf, stellte sie fest und ertappte sich dabei, den gut gebauten Schattenjäger vor ihr zu mustern. Seine Bewegungen waren leicht und lauernd zugleich. Jeder Muskel seines Körpers schien gespannt und sein Profil war im Halbdunkel sehr viel männlicher als das anderer junger Männer seines Alters. Dass sie Jace hin und wieder auf diese Art musterte, war nicht wirklich ihre Schuld, beruhigte sie ihr heftig pochendes Herz und ihr schlechtes Gewissen zugleich.
So in Gedanken versunken, entging ihr Jaces abruptes Stehenbleiben und sie rempelte unsanft gegen seinen Rücken.
Er sah sie verständnislos an und zeigte dann auf eine Tür direkt vor ihnen. Er öffnete den Mund und sagte etwas zu ihr, aber, wie schon zuvor im Brocelyn Wald, unter dem sie sich wohl gerade befanden, drang kein Ton zu ihr durch. Beide sahen sich einen Augenblick unentschlossen an. Dann nickte sie sanft. Jace öffnete die Tür mit seiner Stele.
Das plötzlich einfallende Licht schmerzte in ihren Augen. Sie benötigten einige Sekunden, bis sie sich an das Tageslicht gewöhnt hatten. Eine golden schimmernde Treppe führte die letzten Meter hinauf in die weiße Stadt Alicante – die Heimat der Schattenjäger und der Sitz des obersten Rates von Idris. Unangekündigten Besuch sah man nicht gern in Alicante. Mit einem warmen Empfang hatten sie also nicht gerechnet. Dass es jedoch gar keinen Empfang gab, überraschte die beiden. Die Stadt war wie ausgestorben – nun, sie war ausgestorben. Hier war niemand, nichts. Kein Geräusch, kein Geruch, es gab keine Kälte und keine Wärme, und selbst das Tageslicht wirkte unnatürlich gedämpft. Es war, als wären sie an einem Ort, der nur so aussah wie Alicante, einer Art leblosen Abbildung der Stadt.
Sie hatten jedoch keine Zeit, lange darüber nachzudenken, was hier passiert war. Sollte es etwas mit Magie zu tun haben, lag das weit über ihren Fähigkeiten? Eilig liefen zu einer der Waffenkammern in der, laut Alec, das Elektrum lagern sollte. Niemand war hier, um sie aufzuhalten. Es war aber auch nichts mehr dort, was es zu bewachen gäbe. Die Kammer war leer. Sowie jede der anderen Kammern, die Jace und Clary jetzt nacheinander öffneten. Jace atmete japsend die geruchs- und geschmacklose Luft ein und schnellte herum zu Clary, die ihn mit ebenso verstörtem ängstlichem Blick anstarrte. ›Was zur Hölle?‹, formten seine Lippen lautlos.
Clarys Hände zitterten.
›Bring uns zurück, Clary!‹
Auch ohne Ton verstand sie Jaces Worte und zeichnete hektisch die Portalrune in die Luft. Für einen Augenblick befürchtete sie, dass diese Rune hier – wo oder was auch immer dieses Hier war – nicht funktionieren würde, doch es öffnete sich der flüssig schimmernde Sog eines Portals, welches so nur Clary erschaffen konnte.
Sie sah, wie erleichtert auch Jace darüber war. Keine Sekunde länger wollten die beiden an diesem Ort bleiben und sprangen durch das Portal zurück ins Institut.
ᛟ
Jonathan kam mit einem mulmigen Gefühl ins Institut. Was, wenn Valentines Sorgen berechtigt waren? Siobhan könnte den anderen über den Vorfall auf der Krankenstation berichtet haben. Was auch immer da vorgefallen war. Jonathan konnte sich immer noch nicht recht erklären, was überhaupt passiert war. Seine Schritte wurden langsamer, seine Hand legte sich unauffällig um den Griff seines Messers am Beinhalfter. Und er lächelte. Freundlich, verhalten, wachsam … doch niemand beachtete ihn mehr als sonst. Ebenso, wie kein Herondale oder Lightwood auf ihn wartete, um ihn zu stellen. Seine Zweifel, die Valentine in ihm gesät hatte, verflogen ebenso, wie seine Befürchtung, jeden im Institut an diesem Morgen töten zu müssen.
Jonathan wusste, wo im Institut die Insigne versteckt war. Er wusste, was Valentine damit anfangen wollte. Der Hass seines Vaters auf alles Dämonische war so offensichtlich, dass Valentine in seinem Größenwahn wohl entgangen war, dass er ausgerechnet seinen Sohn damit beauftragt hatte, ihm das zu beschaffen, was jedes Wesen dämonischen Blutes auf immer und ewig auslöschen würde. Entweder war Valentine unglaublich dumm oder unglaublich gerissen. Aber auch das würde Jonathan noch herausfinden. Im Moment war es nur wichtig, dass Valentine glaubte, er hätte die Kontrolle.
»Sebastian«, begrüßte Isabelle ihn auf dem Gang zur Zentrale.
»Guten Morgen, Isabelle«, sagte er und legte sein freundlichstes Verlac-Lächeln auf. Er bemerkte, dass Isabelle an diesem Morgen ein gewisses Leuchten in den Augen hatte und beschloss, das zu ignorieren.
»Gibt es etwas Neues von unserem Dämon?«, fragte er.
Sie sah ihn an, als wäre sie unsanft aus einem schönen Traum erwacht.
»Nein. Es ist sogar verdächtig ruhig zurzeit. Keinerlei dämonische Aktivität in der Stadt. Was, genaugenommen, ebenso beunruhigend ist.« Ihr Blick ging nachdenklich ins Leere.
»Und wie geht es unserem Gast?«, fragte Jonathan.
Da war es wieder, dieses Leuchten in Isabelles Augen. »Ich mag sie«, sagte Isabelle, als würde sie das selbst überraschen. »Sie ist so …«, Isabelle suchte nach dem richtigen Wort. »Ich weiß nicht.« Der eben noch verzückte Ausdruck in ihrem Gesicht verwandelte sich in eine sorgenvolle Miene. »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
»Was denn?«, fragte Jonathan.
»Siobhan als Köder für Beleth benutzen. Was wissen wir denn schon über ihn? Außer, dass er mächtig, unsterblich und absolut bösartig ist. Dämonen zögern nicht. Sind wir ihm schon gewachsen? Ist es nicht leichtsinnig, zu glauben, wir könnten Branwell vor Beleth beschützen?«
Jonathan teilte ihre Sorgen nur bedingt, aber sie konnten nicht wissen, dass der Schattenjäger Sebastian, den sie zu kennen glaubte, über weit mehr Fähigkeiten verfügte, als sie sich auch nur vorstellen konnte.
Er sah Isabelle mitfühlend an. »Wir schaffen das und es wird mir eine Ehre sein, diesem lästigen Bastard meine Klinge so weit in den Rachen zu schieben, dass er sie am anderen Ende wieder herauskommen sieht.« Er sprach es in feinstem, englischem Akzent.
Sie musste unweigerlich lachen. Wenn auch nur kurz.
»Izzy, Sebastian«, kam Alec schnellen Schrittes auf sie zu. Sein Blick war starr und ernst. »Folgt mir!« Dann lief er ohne eine weitere Erklärung an ihnen vorbei Richtung Aufzug, der in die unteren Ebenen des Instituts führte. Die beiden folgten ihm.
»Was ist los?«, fragte Izzy, als sie im Aufzug waren.
»Jace und Clary sind aus Alicante zurück.«
»Haben sie das Elektrum?«, fragte Jonathan, der nicht vorhatte, sich in der Nähe einer größeren Menge dieses Elements aufzuhalten.
»Nein.«
»Nein?«, wiederholte Izzy.
»Nein. Da war kein Elektrum in Idris. Genaugenommen war da gar nichts.«
»Was?«
Jonathan beobachte Alec aufmerksam. Es war faszinierend zu sehen, wie die sonst so selbstsichere und souveräne Fassade dieses eingebildeten Lightwood bröckelte.
Alec legte kurz die Hand über seinen Mund, rieb sich das Kinn und sah seine Schwester an. »Sie sind alle fort. Alicante ist eine Geisterstadt und jeder magische Gegenstand, der Kelch, die Waffen … alles ist verschwunden.«
Isabelle sah ihn ungläubig an.
Und auch Jonathan verspürte allmählich Besorgnis. Hatte Valentine damit zu tun? Aber für so etwas bedurfte es etwas mehr als nur ein paar Shadowhunter-Tricks. Oder war das Beleths Werk? Aber wie? Kein Dämon konnte den magischen Schutz der Stadt Alicante überwinden. Oder hatten sie ihn tatsächlich unterschätzt?
»Da ist noch etwas«, sagte Alec.
Beide sahen ihn an und konnten sich nicht vorstellen, was es da noch geben konnte.
»Es geht um Branwell. Haltet euch erst mal fern von ihr.«
»Was?«, fragte Isabelle. »Wieso?«
»Wir können ihr nicht trauen. Magnus hat mir von ihr und von ihrer Familie erzählt. Das, was nicht in den Akten steht. Glaub mir, sie könnte weitaus gefährlicher sein als Valentine. Und vielleicht hat sie mehr mit Beleth zu tun, als wir glaubten.«
Jonathan wusste nicht, ob er innerlich frohlocken oder besorgt sein sollte. Also entschied er sich erst einmal für beides.