»Legt sie hierhin!«, sagte Magnus und fegte alles vom Tisch, als er sah, was der Notfall war, von dem Alec am Telefon gesprochen hatte. »Was ist passiert?« Er blickte abwechselnd in die hilflosen Gesichter der Schattenjäger.
»Skerpia«, sagte Jace.
»Skerpia!« Magnus begann sofort seine Hände über Siobhans Körper hinweg zu bewegen und ließ seine Magie über ihr wirken. »Und sie lebt noch. Wie ist das möglich?«
Seine Frage blieb unbeantwortet. Eilig begann er die klaffende Wunde an ihrem Bauch zu schließen. Ihr Körper bäumte sich auf und krampfte, als er das tat.
Jace wollte Siobhan festhalten, doch Magnus stieß ihn beiseite.
»Fass sie nicht an!«
»Wieso nicht?«
»Weil ich ihr Sterben bis in meinen kleinen Zeh fühlen kann. Und ich bin ein Hexenmeister, der sich vor ihrer Gabe einigermaßen zu schützen weiß. Du kannst das nicht.«
Jace trat zögernd einen Schritt zurück.
»Kannst du ihr helfen?«, fragte Clary.
Magnus reagierte nicht auf ihre Frage und versuchte mit ausholenden Handbewegungen über Siobhans Körper das ganze Ausmaß ihrer Verletzungen zu erfassen.
»Sebastian? Wo willst du hin?«, rief Isabelle, als sie bemerkte, dass er schon an der Tür war.
Ohne sich umzudrehen, antwortete er: »Es krauchen immer noch ein paar Skerpia in New York herum. Irgendjemand muss ja unseren Job erledigen.«
»Aber, Sebas...«
Jace hielt Isabelle am Arm. »Lass ihn gehen. Es stimmt, uns sind ein paar dieser Dinger entwischt. Und ich denke, er braucht das jetzt.«
Isabelle gab einen leisen Seufzer von sich und sah wieder zu Magnus, der zunehmend irritiert wirkte, schließlich von Siobhan abließ und erschöpft in einen der Sessel sank.
»Wie steht es um sie?«, fragte Alec nüchtern.
Magnus sah ihn missmutig an. »Nun, sie stirbt.«
»Und was denkst du dagegen zu unternehmen?«
»Nichts«, entgegnete er. »Ihr Körper ist vollgepumpt mit dem übelsten Dämonengift, das es gibt. Sie müsste bereits tot sein. Ist sie aber nicht. Was sagt euch das?«
Jace, Alec und Clary sahen sich fragend an.
Isabelle ging zu Siobhan und betrachtete nachdenklich die Schattenrune an ihrem Hals. »Sie stirbt nicht, weil sie an diesen Dämon gebunden ist.«
Magnus nickte.
»Und was bedeutet das für sie genau?«, wollte Jace wissen.
Magnus faltete seine Hände unter dem Kinn. »Es bedeutet, dass sie mit diesem Gift in ihrem Körper nicht leben kann, aber wegen der Verbindung zu Beleth auch nicht sterben kann.«
Isabelle sah ihn erschrocken an. »Das ist furchtbar.«
»In der Tat.«
Jace fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, ging zum Fenster, sah hinaus und sagte: »Aber wir müssen doch irgendetwas tun können?«
Magnus erhob sich schwungvoll aus seinem Sessel. »Ihr könnt tatsächlich etwas tun. Eine bessere Gelegenheit, Beleth zu schnappen, bekommt ihr nicht.«
Jace wandte sich um. »Wie meinst du das?«
»Die Kleine ist in der schlimmstmöglichen Verfassung. Sie stirbt, im wahrsten Sinne des Wortes, tausend Tode. Das heißt, es wird eine Menge von Beleths Energie angezapft. Ich bin mir sicher, dass ihn das schwächt. Andererseits wäre er schon längst hier aufgetaucht …«, er sah wieder zu Siobhan, »… denn das da ist seine Achillesferse. Und die überlässt er sicher nicht jemandem, der ihm damit Schaden zufügen kann. Ihre Rune, diese Verbindung ist wieder aktiv, das bedeutet, er weiß genau, wo sie ist. Also, warum ist er nicht schon hier, um sie zu holen?«
»Magnus könnte recht haben«, sagte Alec. »Wir beschwören Beleth und befördern seinen Dämonenarsch in den Käfig. So, wie es von Anfang an geplant war.«
»Werdet ihr es ohne das Elektrum aus Idris schaffen?«
Isabelle nickte und deutete auf ihr leeres Handgelenk. »Wir mussten improvisieren. Ich hoffe, es erfüllt seinen Zweck.«
Magnus musterte die Schattenjäger skeptisch. »Mit Hoffen kommen wir hier nicht weit. Ihr müsst sicher sein, den Dämon halten zu können, sobald ich ihn beschwöre. Anderseits sind wir tot.« Sein Blick blieb für einen Moment an Alec haften und sein Herz verkrampfte sich schmerzhaft.
Die drei sahen sich an und nickten sich in stillem Einverständnis zu. Sie wollten gehen, als Jace noch einmal innehielt. Er zeigte auf Siobhan.
»Was ist mit ihr?«
Magnus schwieg.
»Sie hat Sebastian und mir das Leben gerettet, Magnus. Es kann nicht sein, dass sie so endet. Das hat sie nicht verdient. Also lass dir gefälligst was einfallen.« Jace Augen funkelten entschlossen, sein Unterkiefer bewegte sich Hin und Her und erst als Magnus nickte, folgte Jace den anderen.
ᛟ
Valentine beobachtete seinen Sohn eine Weile beim Töten der Skerpia, bevor er sich bemerkbar machte. »Ich habe dich wirklich hervorragend ausgebildet.«
Jonathan fuhr herum. Er hatte gerade die letzte der Kreaturen in der Gasse aufgespürt. Das Ding hatte sich hinter einem Müllcontainer verkrochen und rasselte nun wütend mit seinem giftigen Schwanz. Jonathan erledigte es mit nur einem Hieb. Sein Vater, der dort unbeeindruckt stand, das Seelenschwert, welches Jonathan ihm überlassen hatte, auf dem Rücken wie eine Trophäe, und die Arme selbstgefällig vor dem Körper verschränkt, schürzte die Lippen. »Skerpia. Interessant. Sind das nicht Liliths Schoßhündchen?«
Jonathan wischte seine Klinge am Ärmel ab. Er hatte kein Interesse daran, auf eine Frage zu antworten, auf die Valentine die Antwort kannte.
»Hast du in Idris gefunden, was du gesucht hast?«, fragte er.
»Eher nicht.«
Valentine tat geheimnisvoll. Aber Jonathan hatte gerade kein Interesse an einem längeren Gespräch mit seinem Vater.
»Und was ist mit dir?«, fragte Valentine.
»Was meinst du?«
»Du dachtest doch nicht wirklich, dass sie dich mag?«
Jonathan schaute seinen Vater nun doch etwas überrascht an.
»Denkst du, ich wüsste nicht, was im Institut vor sich geht? Ich habe Augen und Ohren überall, mein Junge. Außerdem hast du mich damit beauftragt, etwas über die Branwells in Erfahrung zu bringen. Ich gebe zu, ich wusste bereits mehr, als ich dir gegenüber erwähnt habe. Ihre äußerst interessante Begabung hingegen, war auch mir neu. Es ist schon faszinierend zu sehen, wie verzweifelt du an einen Funken Menschlichkeit in dir geglaubt hast. Da hat sie dich ganz schön an der Nase herumgeführt, nicht wahr?«
Jonathans Blick verfinsterte sich.
Valentine lächelte wieder dieses höhnische Lächeln. »Lektion Nummer Eins. Dämonen lieben nicht. Sie begehren, sie gieren, sie wollen besitzen, aber sie lieben nicht. Liebe erfordert ein gewisses Maß an Selbstlosigkeit. Keine Eigenschaft, die Deinesgleichen zu eigen ist, mein Sohn.«
»Auch keine, die dir zu eigen ist«, erwiderte er kalt.
Valentine lachte. »Wie der Vater, so der Sohn, nicht wahr? Obwohl deine Mutter nicht unwesentlich daran beteiligt ist. Und ich rede nicht von Jocelyn Fairchild.«
Jonathans Augen färbten sich plötzlich schwarz wie die Nacht. Wütend stapfte er auf Valentine zu und hielt ihm seine Klinge an die Kehle. »Was weißt du schon über sie.«
»Mehr, als du denkst, mein Junge. Dass ich dich nach Edom schicken konnte, die Möglichkeit überhaupt ein Tor in ihre Höllendimension zu öffnen, das verdankst du ihr. Wusstest du eigentlich, dass es überhaupt nur zwei Wege in Liliths Reich gibt? Jeder, der auf andere Art und Weise versucht, zu ihr zu gelangen, verglüht schon an der Türschwelle. Egal, wie mächtig oder unsterblich er oder sie auch sein mag. In diesem Teil von Edom gelten Liliths Gesetze. Nun verrate mir also, wie hat es deine kleine Schattenjägerin damals geschafft, in einem Stück dahin zu gelangen. Und wie kam sie wieder zurück? Was denkst du? Die Familie Branwell ist auf jeden Fall sehr einfallsreich gewesen. William und seine Forschung haben mich überhaupt erst zu dem inspiriert, was ich heute bin.« Er ließ eine bedeutungsschwere Pause, lächelte und ergänzte: »Eher zu dem, was du heute bist.«
»Was weißt du über sie.«
»Alles zu seiner Zeit. Wie geht es mit Beleth voran? So langsam erweist sich Branwells Dämon nämlich als echtes Problem für meine Pläne.«
Die Beiläufigkeit, mit der Valentine das Thema wechselte, ließ Jonathan schwindlig werden. Er hing innerlich immer noch Valentines Anspielungen über die Branwells fest.
Valentine schmunzelte, wurde sogleich wieder ernst und fuhr fort.
»Das, was mit Alicante geschehen ist, ist nicht Beleths Werk. Da muss ein Hexenmeister im Spiel gewesen sein. Einer, der dunkle Magie beherrscht. Ich vermute, er arbeitet für Beleth. Das war ein Geniestreich, die Stadt Alicante unserer Dimension vorübergehend mit dem Alicante einer noch leeren Dimension zu vertauschen. Eine wirklich äußerst elegante Art und Weise, dem Rat eins auszuwischen. Schade, dass es nur temporär war.«
»Was soll das? Warum erzählst du mir das alles? Inwiefern durchkreuzen Beleth und sein Hexenmeister deine Pläne«, unterbrach Jonathan.
»Ich weiß, dass der Kelch nicht in andere Dimensionen transportiert werden kann. Es ist also davon auszugehen, dass der Hexenmeister, der dieses Kunststückchen mit Alicante vollbracht hat, nun auch im Besitz des Kelches ist.«
»Und wieso glaubst du, dass er oder sie für Beleth arbeitet? Er könnte auch einfach nur den Kelch wollen, um Beleth damit zu bändigen.«
»Ich dachte, ich hätte dir mehr beigebracht. Beleth war einst der Engel Bethiel, einer der hohen Mächte, dessen Engelskräfte sogar über die von Raziel reichten.«
»Und daher auch über die von Raziels Kelch«, schlussfolgerte Jonathan.
»Außerdem ist mit unserem Alicante ist auch gleich der ganze Vorrat an Elektrum verschwunden, das war auffallend praktisch.«
»Für Beleth.«
Valentine nickte.
»Aber was wollen sie dann mit dem Kelch?«
»Das ist die richtige Frage. Ich nehme an, sie werden als Nächstes in den Besitz der anderen zwei Insignien kommen wollen. Nicht auszudenken, was sie damit anfangen könnten.«
»Dämonen und Hexenmeister können gar nichts damit anfangen«, zweifelte Jonathan an Valentines Vermutung.
»Ganz genau. Fehlt ihnen nur noch ein williger Nephilim. Oder nicht.«
Jonathans Herz schlug bis zum Hals. Er versuchte all die Informationen zu ordnen. Doch egal, wie er es drehte und wendete, alles davon führte zu Siobhan. Er war besorgt und seltsam aufgeregt zugleich. Seine innere Unruhe konnte nicht verwirrender sein.
Plötzlich summte sein Handy. Er blickte kurz darauf und sah, dass er bereits mehrere Anrufe von Isabelle verpasst hatte. Kurz hatte er wieder den Geruch von Siobhans Blut in der Nase und starrte unentschlossen auf das summende Handy.
»Du solltest rangehen, Junge. Es könnte wichtig sein«, sagte Valentine mit spöttischem Ton in der Stimme.
Zögernd hielt Jonathan das Handy ans Ohr.
»Sebastian, du musst zurück ins Institut kommen«, hörte er Isabelle. »Wir werden Beleth festsetzen, solange Branwell in diesem Zustand ist. Alles Weitere, wenn du hier bist.«
Jonathan ließ das Telefon wieder in seine Hemdtasche gleiten. Mit abwesendem Blick sagte er: »Beleth wird vielleicht nicht mehr lange ein Problem sein« und ging.
»Was ist mit dem Spiegel?«, rief Valentine. »Du musst ihn holen, bevor Beleth oder sein Handlanger es tun. Hast du verstanden?«
Jonathan verschwand ohne ein weiteres Wort im Schatten der hohen Häuser.
Als er wenig später im Institut eintraf, herrschte eine aufgeregte Stimmung. Clary empfing ihn in der Zentrale mit sorgenvoller Miene und den Worten: »Magnus wird alles tun, um sie zu retten.«
Er hatte nicht danach gefragt. Und die mitleidigen Blicke von Isabelle und Jace machten ihn wütend.
»Magnus glaubt, dass Beleth durch die Verbindung zu Branwell geschwächt ist«, erklärte Alec. »Also unsere beste Chance, ihn festzusetzen.«
»Gut«, sagte Jonathan kühl. Er wusste, selbst wenn es so war, gab es da einen Hexenmeister in Beleths Schlepptau, der ihnen den ganzen Spaß verderben könnte. Ungünstig war, dass Jonathan den anderen davon nichts erzählen konnte. Denn dann müsste er auch die unangenehme Frage beantworten, woher er diese Information hatte.
Alec ging mit ihnen den Plan durch, damit sich jeder auf das Kommende vorbereiten konnten.
Clary war irritiert von Sebastians leidenschaftslosem Verhalten. Sie mochte den britischen Schattenjäger, aber manchmal verhielt er sich merkwürdig und widersprüchlich. Es war, als wäre er zwei völlig unterschiedliche Personen. Als sie damals erfahren hatte, dass ihr Bruder Jonathan noch lebt, und sie nach dessen Angriff auf Max Lightwood, das ganze Institut auf den Kopf gestellt hatten, um Jonathan zu finden, da dachte sie sogar einen kurzen Augenblick lang, dass es Sebastian sein könnte. Doch er hatte den Elektrumtest bestanden und Max konnte sich leider nicht an seinen Angreifer erinnern. Doch, je länger sie mit Sebastian zu tun hatte, desto mehr erweckte er ihr Misstrauen. Anderseits … er war Engländer. Und seit sie Siobhan kannte, ahnte sie, dass eigenartiges Verhalten vielleicht eine europäische Eigenschaft war. Was wusste sie schon? Immerhin beschränkte sich ihr Wissen über die Sitten und Bräuche andere Länder auf das noch seltsamere Auftreten deutscher oder japanischer Austauschschüler damals an ihrer Schule.
»Clary?«, riss Jace sie aus ihren Gedanken.
»Ja. Wann geht es los?«
Jace schmunzelte. »Vielleicht solltest du dich noch ein paar Stunden hinlegen. Vor Sonnenaufgang lässt sich Beleth nicht beschwören. Das wüsstest du, hättest du Alec zugehört.«
»Ich habe zugehört«, log sie. »Beleth ist dann wohl der einzige Dämon, der den Sonnenaufgang, dem Sonnenuntergang vorzieht.«
»Wie viele Dämonen kennst du denn?«
Sie sah ihn bockig an. »Genug«, und stampfte davon.
Jonathan stand noch da und studierte die taktische Karte auf dem Tisch. Jace musterte den ihn kurz und fragte: »Hast du den Rest der Viecher erwischt?«
Jonathan nickte stumm.
»Wollen wir darüber reden?«, versuchte Jace erneut dem stillen Engländer eine Emotion zu entlocken.
»Worüber?« Erst jetzt blickte Jonathan auf. Sein Blick war kühl und argwöhnisch.
»Was da draußen passiert ist?«
»Du meinst, dass sie uns weggestoßen hat wie Spielzeugsoldaten?«
Jace sah ihn unverwandt an. »Sie hat uns das Leben gerettet.«
»Hätte sie nicht tun müssen, wäre sie vorher nicht aus dem Institut abgehauen.«
»Was ist los mit dir? Ich dachte, du magst sie?«
»Das eine, hat mit dem anderen nichts zu tun. Sie hat einen Dämon mit bloßem Handauflegen dazu getrieben, seine Schädel wie eine Melone platzen zu lassen. Wie hat sie das gemacht? Außerdem ist sie viel zu stark und zu schnell für eine Nephilim ohne Runen. Sie verfügt über Fähigkeiten, die …«, Jonathan suchte nach den richtigen Worten.
Jace schüttelte den Kopf. »Ja, wir wissen überhaupt nichts über sie. Wir wissen auch nicht, wie sehr sich die Schattenrune auf sie auswirkt. Vielleicht nutzt sie sogar die eine oder andere von Beleths Fähigkeiten. Aber das macht sie nicht zwangsläufig zum Feind. In dem Fall hätte sie uns dort draußen sterben lassen können. Hat sie aber nicht. Stattdessen liegt sie jetzt auf dem Tisch eines Hexenmeisters und leidet Höllenqualen. Und wer weiß, was mit ihr passiert, wenn wir Beleth bezwingen und was für Auswirkungen das auf sie hat.«
Jonathan war nicht entgangen, wie sehr Jace sich gerade in Rage redete. Und es gefiel ihm nicht. Obendrein, was wusste Jace schon über Höllenqualen und wie sehr diese jemanden verändern konnten.
»Wie auch immer«, war alles, was Jonathan dazu sagte.
Jace schüttelte verärgert den Kopf. »Okay, wenn du die nicht nach ihr sehen willst, dann tu ich es.«
Überrascht blickte Jonathan auf und sah nur noch Jaces Rücken, als der, entschlossenen Schrittes, davon stampfte.