»Alle in mein Büro!«, befahl Alec, als er mit Isabelle an Clary und Jace vorbeiging.
Magnus war bereits dort, zumindest körperlich. Im Geiste schien er Lichtjahre entfernt. Jace raunte Alec zu: »Was hat er gesagt?«
»Das, was er nicht gesagt hat, beunruhigt mich mehr«, murmelte er und ließ sich in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch sinken. Müde rieb sich Alec das Gesicht. Jace fühlte sich hin und wieder schuldig, dass er ihm die Leitung des Instituts aufgebürdet hatte. Aber er war davon überzeugt, dass es so das Beste für alle war. Sie benötigten keine weiteren Aldertrees oder Herondales, sondern jemanden mit Herz und Verstand. Jemanden, der seine eigenen Interessen nicht vor die der anderen stellte. Jemanden wie Alec.
»Sebastian wird auch gleich hier sein«, sagte Clary, die ihr Handy in die Hosentasche schob und die Tür hinter sich schloss. Dann war es unangenehm still. Jeder wartete auf Alecs Erklärung zu allem, doch der saß nur da und grübelte.
»Können wir jetzt einen Dämon jagen gehen, oder was?«, versuchte Jace, diese merkwürdige Stimmung etwas aufzulockern.
Magnus ergriff das Wort. »Beleth befehligt achtzig Legionen von Dämonen aus fünf der sieben Reiche der Hölle, deren einziger Daseinszweck es ist, Chaos und Zerstörung zu verursachen. Einen Erzdämon zu töten ist den Nephilim in Jahrhunderten nicht gelungen, daher sollten wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sie nicht zu töten sind.«
»Ein unsterblicher Dämon?«, sagte Clary.
»Nicht unsterblich, sondern unzerstörbar. Zumindest für unsereins. Wir reden hier von einem gefallenen Erzengel. Einem Getreuen Luzifers.«
Jace schüttelte den Kopf. »Ich dachte immer, die wären ein Mythos.«
»Vielleicht sind sie das. Vielleicht sind sie das nicht«, antwortete er.
Alec schien endlich mit seinen Gedanken fertig zu sein und murmelte: »Unzerstörbar bedeutet nicht unbezwingbar. Unser größtes Problem ist Zeit.«
»Das ist richtig«, gab Magnus zu. »Beleth wird beginnen, seine Legionen zu rufen. Und dann ist hier, im wahrsten Sinne des Wortes, die Hölle los.«
»Also, was machen wir dagegen?«, fragte Jace.
»Wer keine Zeit hat, muss sie beschaffen. Wir könnten diesen Dämon, zumindest vorübergehend, festsetzen. Seraphklingen sind für ihn genauso gefährlich. Nur, dass ihn das nicht umgehend in die Hölle befördert. Aber es wird eine Weile dauern, bis er sich wieder erholt hat. In diesem Zustand – wie in jedem anderen körperlosen – ist er relativ schwach. Das wäre die Zeit, die wir benötigen, um uns etwas Endgültiges auszudenken.«
»Wie lange?«, fragte Jace.
»Nun, er ist kein gewöhnlicher Großdämon, also wird er dafür nicht sehr lange brauchen.«
»Wie lange, Magnus?«, hakte nun auch Alec nach.
»Tage, Stunden … Ich weiß es nicht.«
Jace fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und sah nicht glücklich aus. Sein Blick ging zu Clary.
Sie schüttelte leicht den Kopf und sagte: »Das ist zu viel für uns. Der verschwundene Valentine, das vermisste Schwert und jetzt auch noch ein unbesiegbarer Dämon. Was kommt als Nächstes? Luzifer persönlich?«
»Wie gesagt, Beleth ist nicht allmächtig«, sagte Magnus. »Die Branwells haben ihn einmal überlistet, wir könnten es auch.«
»Stimmt. Wir könnten Branwell als Köder benutzen«, sagte Alec.
»Köder?«, wiederholte Isabelle entrüstet, die bemerkte, wie angetan Alec von dieser Idee war. Jetzt war klar, dass Alec der Engländerin nie vertraut hatte. Branwell konnte ihm nicht gleichgültiger sein, wenn er ernsthaft in Erwägung zog, sie als Köder für einen Dämon wie diesen zu benutzen.
»Alec, wie kannst du nur daran denken, sie derart in Gefahr zu bringen? Sie ist eine von uns!«
»Sie hat sich geopfert, um diesen Mistkerl zu fassen. Niemand verlangt von ihr, das wieder zu tun. Sie muss ihn nur anlocken, den Rest übernehmen wir.«
»Das ergibt Sinn«, sagte Jace. »Es gibt nur zwei Dinge, die ihm und seinen Plänen, wie auch immer die aussehen, in die Quere kommen können. Valentine, sollte er den Kelch wieder in seine Finger bekommen, und die Schattenjägerin, die ihn in die einzige Höllendimension gesperrt hat, aus der er nicht entkommen konnte. Zumindest für eine Weile.«
»Könnte sie das wieder tun?«, mischte sich Clary ein. »Ihn nach Edom verbannen? Wäre das möglich, Magnus?«
Izzy trat vor. »Was redet ihr da?«
»Nein«, sagte Magnus. »Wir sollten Branwells Verbindung zu Beleth nicht nutzen. Wir wissen zu wenig über diese Rune.«
Alec wirkte enttäuscht. »Fakt ist, wir brauchen mehr Zeit, die wir nicht haben, solange Beleth in New York sein Unwesen treibt. Fakt ist auch, dass Branwell die einzige Möglichkeit ist, ihn zu unseren Bedingungen anzulocken.«
Jace war nicht entgangen, dass Magnus sich äußerst unwohl fühlte. Sicher hatte der Hexenmeister auch gespürt, dass Siobhan und ihre Verbindung zu diesem Dämon mehr als ein Rätsel aufgab.
»Fragen wir sie doch«, sagte Jace, »vielleicht fällt ihr ja noch etwas dazu ein.«
»Ich übernehme das«, sagte Jonathan, der plötzlich den Raum betrat. Hatte er gelauscht? Sein und Jaces Blick trafen sich kurz und – wie häufig in letzter Zeit – hatte Jace den Eindruck, dass es kein freundlicher war. Selbst wenn Sebastian lächelte, war da immer etwas in seine Augen, das …
»Gut.« Alec erhob sich. »Die anderen bereiten sich vor. Wir dürfen uns keine Fehler erlauben, sollten wir auf diesen Dämon treffen.«
Sie nickten und verließen den Raum, nur Magnus stand immer noch da und musterte Alec. »Du machst dich wirklich gut als Leiter des Instituts. Die Rolle steht dir«, sagte er mit sanfter Stimme.
Alec fühlte sich elend. Er vermisste Magnus. Seit ihrem letzten Streit mied der Hexenmeister ihn.
»Magnus, Bitte. Ich weiß, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, aber wir …«
Magnus hob die Hand und Alec verstummte. »Nicht, Alexander«, seine Augen wurden glasig, »Ich helfe dir mit dem Dämon. Mehr nicht.«
Er sagte es und eilte davon. Alec schluckte, schloss die Tür, lehnte seine Stirn dagegen und blieb noch eine ganze Weile so stehen.
ᛟ
Siobhan schlich durch ihr Zimmer und versuchte sich daran zu erinnern, wann sie das letzte Mal so etwas wie ein Zimmer gehabt hatte. Ein Bett, Stille … oder Schlaf. Sie schloss die Augen und ließ sich mit ausgebreiteten Armen aufs Bett fallen. Sie lächelte, als ihr Körper tief und weich in die Kissen sank. Das Klopfen an ihrer Tür wollte sie ignorieren, doch das Wissen, dass man sie auch hier nicht in Ruhe lassen würde, ließ sie sich wieder aufsetzen. Mit hängenden Schultern blickte sie zur Tür. Es klopfte erneut. Es war ein zurückhaltendes, respektvolles Klopfen und das versöhnte sie etwas.
»Es ist offen«, sagte sie eher zu sich als zu dem unerwünschten Besucher.
Die Tür ging auf. Er hatte ein bemerkenswertes Gehör, selbst für einen Shadowhunter, staunte sie. Sebastian trat ein und stellte eine Tüte auf die Kommode neben der Tür. Er lächelte.
»Was hast du da?«, fragte sie.
»Ich habe für dich gekocht.«
»Du hast gekocht? Für mich? Das ist merkwürdig.«
Er setzte sich neben sie. Sie stand im selben Moment auf, ging zur Kommode und untersuchte den Inhalt der Tüte.
Jonathan wollte so sehr aus ihr schlau werden, aber sie machte es ihm wahrlich nicht leicht.
»Woher wusstest du das?«, fragte sie überrascht, als sie den Inhalt der Tüte untersucht hatte.
»Die Shadowhunter-Datenbank ist ziemlich penibel geführt.«
»Etwas zu penibel«, murmelte sie, nahm die Tüte und setzte sich wieder aufs Bett. Allerdings mit etwas mehr Abstand von ihm.
»Gern geschehen«, sagte er.
Dieser Sebastian erwartete wohl einen Dank, aber er hatte das sicher nicht für sie getan. Er wollte ihr Vertrauen erlangen. Sie war doch kein Hund, den man mit einem Leckerli bestechen konnte. Obwohl dieses Essen schon unfassbar gut roch.
Die Ernüchterung folgte umgehend. Nach dem ersten Bissen wurde ihr klar, dass sie absolut nichts schmecken konnte. Es war, als wäre sie noch immer in Edom. Keine Freude, keine Möglichkeit, etwas zu genießen. Nichts. Gar nichts. Lediglich der Hunger wurde gestillt.
»Ich kann mir nicht vorstellen, was du durchmachen musstest«, sagte er. Das war gelogen. Sein Bedürfnis, etwas zu tun oder zu sagen, was sie das wissen ließ, war gefährlich präsent. Er stand abrupt auf, ging zum anderen Ende des Zimmers und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Kommode.
»Ich erinnere mich nicht an Edom«, sagte sie.
»Ja. Das sagtest du bereits.«
Sie sah ihn jetzt argwöhnisch an, stellte das Essen beiseite, und legte ihre Hände in den Schoß. »Weshalb bist du hier?«
Das war eine interessante Frage, eine, auf die es mehrere Antworten gab.
»Neugier.«
»Geht es um Beleth? Ihr könnt ihn nicht töten, das ist euch doch klar, oder?«
»Ja.«
Jonathan sah, dass sie äußerst angestrengt nachdachte, ohne jedoch auch nur eine Sekunde den Blickkontakt mit ihm zu unterbrechen. Er fühlte sich merkwürdig. War sie das? Er hockte sich vor sie, diese von oben herab behagte ihm nicht – nicht bei ihr – und war für den Bruchteil einer Sekunde regelrecht benommen. Das war nicht normal. Irgendetwas an ihr irritierte ihn massiv. »Was ist das nur mit dir?«, sagte er leise, hob seine Hand, als wolle er ihr eine Strähne von der Stirn streichen, ließ sie aber gleich wieder sinken.
Sie sagte nichts, schaute nur abwesend durch ihn hindurch, während ihre Finger über die Rune an ihrem Hals fuhren, als versuchte sie die Antwort auf seine Frage dort zu finden. Jonathan hatte eine Ahnung, was sie beschäftigte. Aber würde er dazu etwas sagen, würde sie wissen, dass er ihr kein Wort glaubte. Er erhob und wandte sich zum Gehen. Er war ihr bereits viel zu nahe gekommen. Das war nicht gut. Es lenkte ihn ab. Sie lenkte ihn ab. Er war nicht hier, um Freundschaften zu schließen. Ganz sicher nicht. Er würde nicht in ihren Geheimnissen herumstochern und sie so auch nicht in seinen. Es war besser so.
Siobhan ahnte, dass ihr Schweigen diesen Schattenjäger noch misstrauischer gemacht hatte. Normalerweise konnte sie ihr Gegenüber schnell einschätzen. Doch bei ihm war das nicht möglich. Warum?
Andererseits, was wusste sie schon noch über diese Welt. Und alles darin. Nur den Bruchteil ihres Lebens hatte sie hier verbracht. Wie sollte sie da noch wissen, wie sich Vertrauen anfühlte? Was richtig und was falsch war. Was echt war. Niemand war einfach nur freundlich. Nicht ohne Grund. Niemand.