Jace sah Magnus ungläubig an. »Raphael?«
»Ja. Er hat so etwas wie eine offene Leitung zu Branwell. Sie hat ihn angerufen, aber vergessen, wieder aufzulegen. Bildlich gesprochen.«
Clary trat vor. »Also, wenn ich das richtig verstehe. Das, was auch immer sie mit ihm gemacht hat, ist Magie?«
Magnus nickte.
»Aber … wie?«
»Kann Raphael sie finden oder nicht?«, mischte sich Alec ein.
»Ich denke schon.«
»Wer oder was verdammt, ist sie eigentlich?«, sagte Isabelle frustriert, hielt inne und blickte erschrocken zu Clary. »Oh mein Gott, was ist mit Simon? Ist er auch …?«
Magnus winkte ab. »Nein, nein. So ist das nicht. Simon geht es gut.«
Alec sah zu dem, der bisher noch gar nichts dazu gesagt hatte.
»Jace?«
Jace reagierte, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht und er sah benommen in die Runde. »Wenn sie so etwas kann …«, sagte er, »… warum hat sie das nicht schon vorher genutzt?«
»Weil sie uns getäuscht hat. Genau wie Jonathan!«, knurrte Alec.
»Nein«, erwiderte Jace kopfschüttelnd. »Vielleicht weiß sie gar nicht, was sie kann. Oder es hat was mit der Bindung zu Beleth zu tun und sie nutzt seine Magie. Wie auch immer. Sie ist nicht Valentine. Und sie ist nicht Jonathan. Nicht im Geringsten.« Jaces Blick ging wieder ins Leere.
»Egal. Valentine hat sie jetzt«, sagte Alec. »Der Meister der Manipulation. Wie lange wird es wohl dauern, bis er und Jonathan ihr seine Ziele eingeimpft haben. Jace, wach auf! Es ist nicht deine Schuld. Nichts davon. Also finde dich damit ab, dass sie unser Feind ist. Wir können jetzt darüber streiten, ob jemand uns absichtlich oder unabsichtlich schadet. Fakt ist, Siobhan ist eine Bedrohung und Fakt ist auch, die Inquisitorin weiß mehr darüber, als sie zugibt.«
Überrascht blickte Jace auf. Alec hatte das also auch bemerkt. Und das, was Jace in Imogens Augen gesehen hatte, als sie dem Mädchen gegenübergestanden hatte, war seltsam. Zuerst hatte er es für Hass oder Abscheu gehalten, doch es war Angst.
»Du hast recht«, sagte er. »Wir benötigen Antworten« und ging.
Isabelle sah ihm besorgt hinterher.
»Was ist nur mit ihm los in letzter Zeit?«, frage Alec kopfschüttelnd.
Magnus sah, dass jeder hier es bereits ahnte. Außer Alec.
»Also, wie gehen wir vor?«, fragte Alec. »Bist du sicher, dass wir sie durch Raphael aufspüren können?«
Magnus sah ihn an, als hätte Alec angezweifelt, dass Magnus den besten Martini der Stadt mixte.
ᛟ
Jace klopfte nicht an die Tür zum Büro. Er ging einfach hinein und setzte sich lässig und mit verschränkten Armen in den Sessel vor Imogens Schreibtisch, die ihn mit aufgerissenen Augen und einem großen Fragezeichen darin anblickte.
»Was gibt es? Ich dachte, ihr hättet eure Anweisungen, also was tust du hier? Zumal die Art und Weise, wie du in mein Büro polterst, mehr als unangemessen ist. Auch wenn du mein Enkelsohn bist, hast du nicht das Recht, hier einfach so …«
»Das ist Alecs Büro«, unterbrach er. »Und vielleicht habe ich nicht das Recht, hier einfach so hereinzuplatzen, aber ich habe sehr wohl das Recht auf die Wahrheit.«
Imogen sah ihn verblüfft an, senkte dann ihren Blick und tat beschäftigt.
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
Jace löste seine Haltung wieder, rückte mit dem Sessel etwas näher an den Tisch heran und legte seine Arme darauf ab. Sie konnte seinem energischen Blick nun nicht mehr ausweichen. »Fangen wir damit an, dass du mir alles erzählst, was du über Siobhan Branwell weißt.«
Ihr Gesichtsausdruck wirkte gequält. »Jace, mein Junge. Ich kann nicht mit dir darüber reden. Es gibt nur wenige Personen im Rat, die überhaupt davon wissen.«
»Wovon?«, fragte er.
Imogen rieb sich über den Mund und wirkte ungewohnt unsicher.
Einen Moment lang schwieg sie und musterte ihn nachdenklich, doch dann schien sie zu einem Entschluss gekommen zu sein, lehnte sich zurück und begann. »Es gibt Dinge, die du nicht in unseren Geschichtsbüchern finden wirst. Sagen, Mythen und Prophezeiungen zum Beispiel. Das heißt jedoch nicht, dass es sie nicht auch bei uns gibt. Einige davon sind sogar älter als die Nephilim selbst und finden sich daher auch in sehr viel älteren Büchern. Die Bibel ist nur eines davon.«
Jace rümpfte die Nase.
Imogen fuhr fort »Würde es dir reichen, wenn ich dir sage, dass sie entweder das Beste oder das Schlimmste ist, was uns passieren kann?«
»Nein«, sagte er kühl.
Sie seufzte wieder. »Du weißt, dass die Nephilim geschaffen wurden, um die Menschenwelt vor der Dämonenwelt zu beschützen. Es ging hauptsächlich – und immer nur – um das Gleichgewicht von Gut und Böse, welches, seit die Dämonen es aus ihrer Dimension zunehmend in unsere geschafft haben, zu kippen droht. Übrigens, auch ein Grund, weshalb es Valentine bis heute gelingt, so viel Anhänger für seine Sache zu gewinnen. Wie auch immer. Die Nephilim werden schon seit langer Zeit immer weniger und die Schattenwesen daher immer unruhiger, weil damit auch ihre Existenz bedroht ist. Also versuchten sie ihr Schicksal wohl selbst in die Hand zu nehmen.«
Jace horchte auf. »Wie.«
»So genau weiß das keiner. Nur, dass es um eine Waffe ging, welche sie den Dämon von Gadara nennen.«
Imogen blickte kurz auf und versuchte in Jaces Augen, so etwas wie Erkenntnis zu finden. Doch er hatte wohl einige Bildungslücken in irdischer Mythologie.
»Ich verstehe nicht? Was hat das mit Siobhan zu tun?«
»Yael Cauver, enger Vertrauter, bester Freund und Berater von William Branwell, hat schon lange, bevor er die Familie kannte, ausgiebige Studien dazu betrieben. Und auch währenddessen. Und nicht nur er. Es gab einen ganzen Zirkel abtrünniger Hexenmeister, der sich damit befasst hat.«
»Um was genau zu tun?«
»Wir dachten, dass sie diesen Dämon zu beschwören und zu beherrschen versuchen. Beweise dafür fanden wir jedoch nie.«
»Einen Dämon, um sie vor Dämonen zu schützen?«
»Die steigende Zahl von Abtrünnigen der Hölle, die auf Erden wandelte, war für alle eine Bedrohung. Vor allem für Schattenwesen wie Hexenmeister nun mal welche sind. Und eine Waffe ist nur für denjenigen gefährlich, der sie nicht kontrolliert.«
»Okay, ich wiederhole mich nur ungern. Aber was hat das mit Branwell zu tun?«
»Vielleicht nichts, vielleicht alles. Aber was, wenn sie nicht versucht haben, diesen Dämon zu beschwören, sondern ihn zu erschaffen.«
Jace wusste nicht, ob er noch mehr hören wollte.
»Yael, Beleth, die verschwundenen Insignien – all das. Und heute erfahre ich von einer Branwell, die Edom einstiegen ist wie Phönix aus der Asche? Wie konntet ihr dem Rat und mir diese Information nur vorenthalten?«, schimpfte sie.
Jace rieb sich verlegen die Stirn. »Nun, wir wollten erst mal abwarten und …«
»Und was?«, fauchte sie, beruhigte sich sogleich. »Wusstet ihr überhaupt, dass Yael Beleths Sohn ist. Hat hier überhaupt jemand seine Hausaufgaben gemacht?«
Jace wich schlagartig sämtliche Farbe aus dem Gesicht. Er wagte es kaum noch einmal zu fragen, was Siobhan nun mit all dem zu tun haben soll, aber er konnte eine unheilvolle Ahnung nun auch nicht mehr verdrängen.
»Hat der Zirkel es geschafft?«, fragte er zaghaft.
Sie erhob sich schwungvoll und sagte: »Wir dachten nicht. Doch nachdem, was heute passiert ist, bin ich mir nicht mehr so sicher.«
Jace starrte abwesend vor sich hin.
»Nichtsdestotrotz ist sie ein Nephilim. Und somit genauso sterblich wie wir.«
Jace sah sie verständnislos an. »Wenn wir mal den unwesentlichen Fakt außer Acht lassen, dass Yael diesen Umstand umgangen ist, als er Siobhan an Beleth gebunden und ihr somit ebenfalls die Unsterblichkeit verschafft hat. Oh Mann, mir dreht sich der Schädel. Ich dachte, Yael wäre nur daran interessiert, Christian Branwell wiederzuerwecken?«
»Seine Beziehung zu Christian Branwell und seine emotionale Bindung an diese Familie, schließt das nicht zwingend aus.«
Jace rieb sich das Gesicht. »Das ist eine riesige Sache. Wenn auch nur die Hälfte davon stimmt, warum hat der Rat so etwas für sich behalten?«
»Eine mächtige Waffe. Eine, die angeblich die Dämonenwelt entweder beherrschen oder auslöschen kann und somit vielleicht jeden Schattenjäger überflüssig macht? Was denkst du, Jace. Davon abgesehen, war nichts davon war mehr von Bedeutung, nachdem der Zirkel 1945 vom Rat zerschlagen und seine Mitglieder hingerichtet wurden. Wir gingen davon aus, dass die Sache damit erledigt wäre.«
»Bis auf Yael.«
»Der Rat dachte damals, er sei bereits tot.«
Jace wurde plötzlich einiges klar. Der Fluch, den der Rat auf das Branwell-Anwesen gelegt hatte, um Spuren zu verwischen und Fragen zu vermeiden. Fehlenden Einträge in der Datenbank zu den Branwells und Yael. Und warum Beleth, als er Edom verlassen hatte, anstatt seine Dämonen zu rufen, zuerst nach ihr gesucht hatte. Wer braucht schon Legionen, wenn er eine Waffe hat, die mächtiger ist als jede Legion.
»Jace, ich kann mir vorstellen, wie du dich jetzt fühlst. Du hast ihr vertraut und sie wirkt so unschuldig, aber du hast keine Vorstellung davon, wie es sich angefühlt hat … was dieses … Ding mir gezeigt hat.«
Er sah sie verstört an.
»Es war grauenhaft«, sie wandte ihr Gesicht kurz ab, sah ihn aber sogleich wieder an, rieb sich flüchtig über die Augen und sagte mit nun fester und kalter Stimme. »Wir werden ihre Verbindung zu Beleth zu lösen. Es ist seine Unsterblichkeit, die wir zerstören müssen, dann ist auch sie sterblich.«
»Na, wenn es weiter nichts ist«, sagte Jace zynisch.
»Beleth ist vielleicht für unsere Begriffe unsterblich, Jace. Doch er ist nicht gänzlich unzerstörbar«, erklärte sie. »Er war einst ein Engel. Und was tötet Engel?«
»Andere Engel«, sagte Jace, eher im Scherz.
»Ganz genau. Wir benötigen das Schwert eines Engels, geführt von der Hand eines Engels.«
»Tja, aber im Moment haben wir weder noch«, sagte er.
Imogen blickte nachdenklich zur Seite. »Du hast das Schwert damals aktivieren können. Ich denke nicht, dass wir tatsächlich einen Engel benötigen, um Beleth zu töten.«
Jace gefiel der Gedanke, diesen Bastard endgültig den Garaus zu machen. Über den Rest beabsichtigte er vorerst nicht nachzudenken. Er glaubte ohnehin nicht an Prophezeiungen oder biblische Legenden. Jace klopfte entschlossen mit beiden Händen auf die Lehnen des Sessels und stand auf.
»Gut, dann holen wir uns jetzt das verdammte Schwert zurück. Das war sowieso der Plan.«
»Und was dann?«, fragte Imogen besorgt, der nicht entgangen war, dass Jace etwas zu sorglos mit alldem umging.
»Dann …«, sagte er und ging zur Tür, »… sehen wir weiter. Ich bin immer lieber für Beweise, bevor ich jemanden zum Tode verurteile. Und ich rede nicht von Beleth.«
ᛟ
Siobhan und Jonathan kamen nach Valentine aus dem Portal und fanden sich in einem Industrieloft wieder. Eine ganze Etage, ausgebaut zu einem riesigen Apartment, getragen von kantigen Säulen und klaren Linien. Es war das ganze Gegenteil von Magnus Apartment. Nicht weniger exklusiv, aber hier war nichts gemütlich oder lebendig. Der dominante Farbton war Grau, es gab nur schlichte, weiße Möbel und keinerlei Farbe, außer der bunten Leuchtreklame, die durch die gewaltigen Fensterfronten nach innen drang und für gedämpftes, aber wenigstens etwas warmes Licht sorgte.
Das war also Valentine Morgensterns Unterschlupf.
Siobhan überraschte nichts hiervon. Ein Industrieloft im obersten Stockwerk einer alten Fabrik mit Blick auf den East River, der Brooklyn Bridge und dem Brooklyn Hights Viertel. Sie ging zu der breiten Fensterfront und blickte hinunter. Von hieraus konnte man sogar das Institut sehen. Sich direkt vor den Augen des Feindes zu verstecken, passte zu ihm. Jonathan hatte es nicht anders gemacht. Die Morgenstern-Familie war schon damals für ihr strategisches Talent und ihre Dreistigkeit bekannt.
»Willkommen in meiner bescheidenen Behausung«, sagte Valentine mit ausholender Geste und ließ den angeschlagenen Hexenmeister, den er gezwungen hatte, für ihn das Portal zu öffnen, wegschaffen.
Weder Siobhan noch Jonathan reagierten.
Valentine nahm Raziels Schwert vom Rücken und hing es in eine der Waffenhalterungen an der Wand, welche wohl eigens zu diesem Zweck angefertigt worden war.
Siobhan beobachtete jede seiner Bewegungen. Er behandelte das Schwert ehrfurchtsvoll. So viel Shadowhunter steckte also noch in ihm. Seine Finger glitten andächtig über die breite Klinge und dann sah er zu ihr.
»Komm her. Es ist an der Zeit, dass du deine Waffen wählst.« Er deutete dabei auf die zahlreichen Schwerter und Dolche, die sich auf den anderen Halterungen befanden.
Siobhan folgte Valentines Aufforderung, ohne zu zögern.
Der sah seinem Sohn kurz triumphierend in die Augen. So wie er es früher beim Schach immer getan hatte. Jonathan fühlte sich unbehaglich. Was dachte Valentine hier zu gewinnen? Und warum wurde er aus Siobhan gerade so gar nicht schlau?
Siobhan betrachtete jede einzelne Klinge.
Es war still. Unangenehm still. Jonathans Unbehagen wuchs, je länger er Siobhan und Valentine zusammen sah. Sein Vater musterte das Mädchen von der Seite, mit einem kaum merklichen Lächeln auf den Lippen. Jonathan kannte diesen Blick. Es war der des stolzen, aber ebenso berechnenden und manipulativen Lehrmeisters. Was sah er in ihr? Sein nächstes Projekt?
»Deine Waffe ist wohl keine, die an dieser Wand zu finden ist? Dein Vater, sosehr ich ihn auch schätze, hat dich nicht zum Kampf ausgebildet, habe ich recht?«, sagte Valentine.
Siobhan blickte ihn mürrisch an.
Wieder huschte dieses triumphierende Lächeln über Valentines Lippen. »Und dir ist klar, weshalb er das getan hat?«, fügte er hinzu, obwohl er die Antwort darauf wohl zu kennen glaubte.
Sie blieb beim Schweigen. Alles lief ganz anders, als sie sich auch nur hatte vorstellen können. Der, den sie suchen und nach Edom zurückschicken sollte, der hatte nun sie gefunden. Und er war nicht, was sie erwartet hatte. Ganz und gar nicht. Um das Gefühlschaos in ihrem Inneren nicht zu überwältigend werden zu lassen, schaltete sie ihre Emotion kurzerhand ab. Sie war gerade nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen. Zumindest nicht, was Jonathan betraf. Plötzlich blieb ihr Blick an einem Dolch hängen, der regelrecht zu ihr sprach.
Valentine sah zu Jonathan und erklärte: »William Branwell hat eine Waffe geschaffen, aber er war zu feige, sie auch einzusetzen. Stattdessen hat er sie zahm gemacht – defensiv. Tragisch.«
Jonathan war nicht entgangen, wie abfällig er das gesagt hatte.
»Mein Vater war nicht feige«, entgegnete Siobhan ruhig und nahm nun einen der Dolche von der Halterung. »Mein Vater war umsichtig.«
Valentine lächelte. »Einigen wir uns auf vorsichtig.« Er musterte sie wieder und murmelte: »Es ist schon erstaunlich …«, und hielt wieder inne.
Sie interessierte nicht, was Valentine zu sagen hatte. Valentine war nur eine Komplikation. Eine, die sie hier und jetzt entfernen könnte. Es war fast so, als würde der schmale Dolch in ihrer Hand genau das einfordern.
»Jace, Jonathan, selbst Clarissa …«, fuhr Valentine fort. »Sie alle sind gezeichnet. Innerlich und zum Teil …«, er blickte wieder kurz zu Jonathan, »… auch äußerlich. Doch du …«, Valentine schüttelte leicht den Kopf. »Aber du … scheinst völlig intakt. Wie ist das möglich? Wessen Blut hat dein Vater benutzt, um dich zu dem zu machen, was du bist. Ich sehe keinen Dämon in dir. Ich sehe keinen Engel in dir. Ich sehe aber auch keine Schattenjägerin in dir. Vielleicht ist auch keine Seele in dir.«
Siobhan beeindruckten Valentines Worte nicht im Geringsten. Sie fuhr mit den Fingern abwesend über den glatten, makellosen Stahl der Waffe in ihrer Hand. Eine hauchfeine, zweischneidige Klinge mit asymmetrischem Heft und kurzer Parierstange. Für so eine Waffe musste man präzise und schnell sein. Sie war beides. Als ihre Finger den schwarz glänzenden Stahl der scharfen Schneide erneut berührten, offenbarten sich rötlich schimmernde Runen darauf.
Valentine hob erstaunt seine Brauen, war dann regelrecht aufgeregt, nahm eilig das Gegenstück zu dem Dolch von der Halterung und reichte ihn ihr ebenfalls. »Eine hervorragende Wahl. Offenbar wissen sie genau, zu wem sie gehören. Warum überrascht mich das nicht.«
»Wem haben Sie die gestohlen? Das sind keine gewöhnlichen Dolche.«
Er schmunzelte und ließ ihre Aussage unkommentiert. Doch dann wurde sein Blick eindringlicher. Geradezu herausfordernd. Genau wie seine Körperhaltung.
Jonathans Körper spannte sich augenblicklich an. Er kannte diese Haltung seines Vaters. Sie bedeutete nichts Gutes. Offenbar wollte Valentine gleich testen, wie gut sie mit ihren neuen Waffen umzugehen wusste. Selten kämpfte er mit fairen Mitteln. Seine Lektionen waren immer demütigend und schmerzhaft zugleich.
»Lass sie in Ruhe«, sagte Jonathan leise, aber bedrohlich genug, um Valentines Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Valentines Augen verengten sich zu Schlitzen. »Ich muss schon sagen, Jonathan. Du enttäuschst mich wieder und wieder. Deine Tarnung im Institut aufzugeben, war dumm und impulsiv. Jace hätte schon nicht zugelassen, dass die alte Herondale deinem Mädchen etwas tut. Und warum nur habe ich den Eindruck, dass die kleine Branwell hier auch gut ohne deine Hilfe zurechtkommt?«
Jonathans Blick verfinsterte sich. Er zeigte auf Siobhans gerissene Lippe und auf den sich ausbreitenden Bluterguss an ihrer Wange und dem Kiefer.
»Ach, ja? Was glaubst du, wem sie das zu verdanken hat?«
Valentine hob sichtlich beeindruckt die Brauen. »Sag an. Das war Jace? Wer hätte das gedacht? Es besteht doch noch Hoffnung für den Jungen.«
Jonathan atmete schwer. Sein Puls schoss in die Höhe. Er verabscheute Valentine, und gerade hatte er beschlossen, ihn zu töten.
Siobhan trat plötzlich zwischen die beiden. »Ich habe Hunger.«
Beide sahen sie gleichermaßen verblüfft an. Kurz war es still, dann huschte ein amüsiertes Lächeln über Valentines Gesicht.
»Du hast recht.« Er rieb sich die Hände und ging zu der offenen Küche, klopfte Jonathan im Vorbeigehen väterlich auf die Schulter und sagte: »Lasst uns etwas essen, Kinder. Hunger macht schlechte Laune und das wollen wir ja nicht.«
Er öffnete den Kühlschrank, warf nur einen kurzen Blick hinein, nahm einen Eisbeutel heraus, blickte Jonathan kurz über seine Schulter hinweg an und warf ihm den Eisbeutel zu. »Hier, da du ja neuerdings so gern den Helden spielst.«
Jonathan fing den Eisbeutel mit einer Hand. Er mochte es nicht, wie Valentine mit ihm oder mit ihr sprach und drückte ihr vorsichtig das Eis gegen die Schwellung.
Siobhan lächelte ihn an.
Und da war es wieder, dieses seltsame Summen in Jonathans Magengegend. Sie beobachtete oder belauerte ihn nicht wie jemand, der auf der Hut war oder Angst hatte. Es war vielmehr Neugier in ihren Augen. Offensichtlich besaß sie die Eigenschaft, sich von einem Moment auf den anderen in eine völlig neue Situation einzufügen. Kein Wunder für jemanden, der die meiste Zeit seines Lebens in der Hölle verbracht hatte.
Er sagte nichts, sie sagte nichts, doch ihre Blicke hafteten aneinander, als hätten sie nicht vor, jemals wieder etwas anderes anzusehen. Das Licht in dem Raum ließ das Blau ihrer Augen wärmer erscheinen als sonst. Und dennoch, hatte er das Gefühl, dass sie sich verändert hatte.
»Nimm dich in Acht vor ihm«, sagte er leise. »Fast alles, was aus dem Mund meines Vaters kommt, ist zynisch oder eine Lüge.«
Nicht leise genug.
Valentine quittierte Jonathans Worte mit einem belustigten Lächeln und machte sich kopfschüttelnd daran, die Pasta vorzubereiten.
Siobhan bemerkte, wie sehr Jonathan alles, was sein Vater tat oder sagte, erboste und legte reflexartig ihre Hand auf Jonathans, mit der er ihr den Eisbeutel an die Wange hielt, um ihn davon abzuhalten, Valentine zu töten, bevor sie wieder klar denken konnte. Sie brauchte Zeit. Mehr Zeit, um all das, was in der letzten Stunde passiert war, zu verarbeiten und ihre Schlüsse daraus zu ziehen.
»Bezaubernd, ihr zwei«, hörte sie Valentine spotten, woraufhin Jonathan seine Hand abrupt unter ihrer zurückzog, ihr das Eis in die Hand drückte, und seinen Vater mit einem Blick ansah, der einen ganzen Ozean zum Kochen bringen würde.
Siobhan war lange genug an einen Zorndämon gebunden, um zu spüren, wann eine Stimmung endgültig kippte. Also lenkte sie Jonathans Aufmerksamkeit wieder auf sich, indem sie ihm den Eisbeutel zurück in die Hand legte und beides an ihre Wange.
Jonathan sah sie perplex an und schien vergessen zu haben, was er seinem Vater eben noch antun wollte.
Valentine mochte die Kleine.
Sie war nicht von der zuweilen durchscheinenden Boshaftigkeit seines Sohnes, aber auch nicht so urteilend und selbstgerecht wie Jace oder Clary. Wenn sie auch nur annähernd das war, was er vermutete, dann war sie perfekt für seine Zwecke. William Branwell hatte schon vor Jahrzehnten etwas geschaffen, was Valentine bei keinem seiner drei Versuchsobjekte gelungen war. Eine wenig wurmte ihn das. Die Kleine war aber sicher leicht zu manipulieren und mit etwas Geschick, brauchte er vielleicht nicht einmal Jonathan dafür.
Valentine sagte: »Also, das mit dem Essen, dauert noch ein wenig. Seht euch um. Da jetzt das ganze Institut auf der Suche nach euch sein wird, seid ihr hier vorerst am sichersten.« Er deutete mit dem Gemüsemesser auf eine der Türen zu den Schlafzimmern. »Und wie gesagt, fühlt euch wie zu Hause.«
Jonathan wollte gerade etwas erwidern.
Siobhan hatte nicht den Eindruck, dass es etwas Freundliches sein würde, so wie er seinen Vater schon wieder ansah, also griff sie sein Handgelenk und zog ihn mit sich. Jonathan ließ es geschehen und folgte ihr bis in eines der Zimmer. Erst da bemerkte er, dass Siobhan nur halb so entspannt war, wie sie die ganze Zeit gewirkt hatte. Und das erleichterte ihn ungemein.
Sie ließ sich mit einem erschöpften Seufzer auf den Rand des Bettes sinken und starrte kurz ins Leere. »Er ist deine Familie. Egal, wie sehr du glaubst, ihn zu hassen. Egal, was er tut oder wie boshaft er auch ist … es reicht nur ein Augenblick der Güte oder der Zuneigung, nur ein nettes Wort oder eine fürsorgliche Geste … und nichts von allem, was vorher war, ist mehr von Bedeutung.«
Jonathan war sich nicht sicher, ob sie tatsächlich noch von ihm und Valentine sprach, denn ihre Finger zogen wieder die feinen Linien ihrer Schattenrune nach. Eine Geste, die er schon so oft an ihr gesehen hatte und die ihn wieder an ihre Begegnung mit Beleth und dessen merkwürdig zahmem Verhalten in ihrer Gegenwart erinnerte.
Er schloss langsam die Tür, ging zu ihr, hockte sich vor sie hin und hob sanft ihr Kinn. »Was ist es, was du willst?«
Sie sah ihn fragend an.
»Nach allem, was sie dir angetan haben, denkst du sicher anders darüber, dass du ihnen geholfen hast, Beleth festzusetzen. Wenn du es dir also anders überlegt hast? Ich bin dabei. Ich weiß, dass Beleth keine Bedrohung für dich ist. Gönnen wir ihm also wieder etwas mehr Freiraum. Das wird sie von uns ablenken.«
»Beleth ist besser dort, wo er jetzt ist«, sagte sie.
Jonathan ärgerte ihre Zurückweisung. Denn als das empfand er ihre Antwort. »Wen willst du damit schützen? Ist es wegen Jace?« Er musste sich extrem zurückhalten. Allein der Gedanke, dass sie und Jace …
»Dich«, sagte sie.
»Mich?«
Natürlich, ihn, wusste sie. Beleth würde Jonathan – wie jeden anderen hier – in Stücke reißen. Und dann würde er Jonathans abgerissenen Kopf, mit einem Schleifchen versehen, an Lilith schicken. Selbst, wenn er und Siobhan dafür zurück nach Edom befördert würden. Wut war eine zuweilen recht irrationale Emotion.
»Du denkst, ich würde nicht mit ihm fertig?«, fragte er.
Sie erhob sich. »Nun, es sah nicht wirklich danach aus, als hättest du bei deiner letzten Begegnung mit ihm, irgendetwas unter Kontrolle gehabt.«
Er sah sie gespielt empört an und zog sie eng an sich. »Uh, wie gemein. Ich hätte dich vielleicht in der Zelle lassen soll.«
Sie lachte kurz.
»Was soll ich nur mit dir machen, Siobhan Branwell«, raunte er und sein Blick blieb an ihren Lippen haften. Weder sie noch Jonathan mussten darüber nachdenken, was für Konsequenzen die Art, wie sie sich gerade ansahen, haben würde. Ihre Lippen berührten sich und da war keine Angst mehr, keine Wut … es war friedlich in ihnen.
Er zog sie so behutsam aus, dass sich jedes einzelne Härchen ihres Körpers aufrichtete. Als sie ihm schließlich das Shirt über den Kopf zog, ihre Finger sanft über seinen Rücken gleiten ließ, bis zu seinem Bauch und dann den obersten Knopf seiner Hose öffnete, bebte sein Körper.
Sie hatten alles um sich herum ausgeblendet.
Und als sie endlich auf dem Bett lagen, er ihre weiche Haut unter seinen Fingerspitzen spürte, während sich ihr schlanker Körper ihm, unter jedem seiner zunächst zaghaften und dann immer energischeren Stöße entgegendrängte, erschien ihm alles andere plötzlich so klein und unbedeutend. Näher würden sie dem, was die Irdischen als Himmel bezeichneten, wohl nie kommen. Er wusste, dass dieser Moment ein kurzer werden würde, zu sehr hatte er sich bereits nach dieser Art Nähe verzehrt. Und so endete dieser bedeutenden, aber unaufhaltbare Moment, der nicht umsonst mit Sterben verglichen wurde, viel zu schnell. Jonathan sog dieses übermächtige Gefühl in sich auf, wie ein Ertrinkender Luft, bevor er langsam, aber friedlich zurück in die Dunkelheit sank.
Er begehrte alles an ihr. Valentine hatte gelogen. Dämonen konnten lieben. Doch wie jedes andere Gefühl auch empfanden Dämonen es wohl um ein Tausendfaches stärker als jedes andere Geschöpf. Was es wohl genauso zerstörerisch machte. Wenn Siobhan nur halb so viel für ihn empfand, wie er für sie, würden sie Welten niederreißen. Und dieser Gedanke gefiel ihm.
Er sah sie schuldbewusst an. Er genoss ihr sanftes Streichen durch sein Haar, ihren liebevollen Blick. Doch dann schreckte sie plötzlich auf.
»Valentine!«, war alles, was sie sagte.
Jonathan sah sie fragend an. Das war so ziemlich das Letzte, was er hören wollte, während er mit ihr im Bett lag. Siobhan stand auf, ging ein paar Schritte und hielt den Zipfel des Lakens mit beiden Händen vor ihrer Brust, ohne jedoch den Rest ihrer Blöße damit zu bedecken, und entblößte damit auch ihn. Was ihm jedoch ziemlich gleich war. Genau wie sein verdammter Vater.
Er schmunzelte und deutete stumm auf das verräterische Zeichen seiner erneut ansteigenden Erregung zwischen seinen Beinen. Immerhin stand sie dort nackt und er hatte nicht vor, es bei diesem einen und viel zu kurzen Mal zu belassen. Absolut nicht.
Doch er erntete dafür nur einen tadelnden Blick.
Er schmunzelte. Seufzend ließ er sich zurück in die Kissen sinken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und verwarf die Idee, mit dem Niederreißen von Welten. Sie war schon seltsam. Sie hatte diese zwei Seiten. Einerseits hatte sie etwas Lauerndes, Raubtierhaftes und dann war es wieder, als wäre sie ein scheues Reh, allein gegen ein Rudel Wölfe. Aber, sie war sein scheues Reh. Und letztlich könnte er es allein gegen ein Rudel Wölfe aufnehmen.