Jace stand unentschlossen vor Magnus Loft und wollte gerade wieder gehen, als der Hexenmeister ihm schwungvoll die Tür öffnete.
»Was stehst du hier, Shadowhunter?«
Jace blickte ihn etwas erschrocken an, kratzte sich die Nase und hob kurz die Schultern.
Magnus rollte mit den Augen, drehte sich auf dem Absatz um und gab Jace mit einer Geste zu verstehen, dass er hereinkommen solle.
»Im Morgengrauen geht es los, nehme ich an?«, fragte er und setzte sich mit einem Martini-Glas in der Hand in den Sessel.
Jaces Blick ging suchend durch den Raum.
»Sie ist im Gästezimmer«, sagte Magnus beiläufig.
Jace rührte sich nicht.
Magnus musterte den blonden Schattenjäger nun aufmerksam, schmunzelte kurz und raunte: »Interessant.«
»Was?«
»Ach nichts. Geh zu ihr. Sie ist wach. Meistens. Ich habe ihr etwas gegen die Schmerzen gegeben. Mehr kann ich nicht tun. Zumindest nicht, solange ihr noch auf der Jagd nach dem Dämon seid. Aber wenn du Fragen an sie hast, dann würde ich sie ihr jetzt stellen.«
»Hat sie denn schon etwas gesagt?«, fragte Jace.
»Ich denke, sie mag mich nicht besonders.«
»Weil du ein Hexenmeister bist?«
»Weil ich Magnus Bane bin.«
Jaces Blick offenbarte Unverständnis.
Magnus schien aber nicht die Absicht zu haben, ihn aufzuklären. »Geh zu ihr, Jace.«
Jace zögerte. »Was ist mit ihrer Gabe? Kann mich das irgendwie beeinflussen?«
Magnus rollte wieder mit den Augen. »Es gibt keinen Grund, sich vor ihren empathischen Fähigkeiten zu fürchten, auch, wenn sie zuweilen etwas unangenehm sein können. So oder so, wenn sie nicht gerade stirbt, hat sie ihre Fähigkeit unter Kontrolle. Also, keine Angst. Nur zu. Geh schon und stelle deine Shadowhunter-Fragen.«
Jace wurde misstrauisch. Magnus verhielt sich merkwürdig und drängte ihn etwas zu sehr, mit Siobhan zu reden. »Gibt es etwas im Besonderen, was ich sie fragen soll?«
Magnus wirkte ertappt und schüttelte heftig den Kopf. »Was? Nein? Wieso?«
Eine von Jaces Augenbrauen schob sich in die Höhe und seine leicht zusammengekniffenen Augen verrieten, dass Magnus sich beim Lügen etwas mehr hätte anstrengen sollen. Aber Jace hatte keine Zeit und keine Lust, sich auch noch damit zu befassen, also beließ er es dabei und ging in Richtung Gästezimmer.
Die Tür am Ende des Flures war nur angelehnt. Behutsam schob Jace sie auf. Er wusste nicht, warum er sich so vorsichtig verhielt. Wenn er mit ihr reden wollte, musste er sie ohnehin aufwecken. Aber sie schlief nicht. Ihr Blick ging nur kurz zu ihm und dann wieder aus dem Fenster neben dem Bett.
»Hey«, sagte er und mehr fiel ihm nicht ein.
Er nahm sich einen Stuhl aus der Ecke und setzte sich zu ihr. Magnus hatte sich gut um sie gekümmert. Keine Spur mehr von Blut in ihrem Gesicht oder in ihren Haaren. Nur die Blessuren von ihrem Sturz und die Bissspuren der Skerpia an ihren Armen waren noch sichtbar. Selbst der feine Schnitt am Oberarm, den Jace ihr beim Training zugefügt hatte und die Verbrennung am Hals waren verheilt.
Kurz saß Jace etwas hilflos da. Sie hatte ihr Gesicht zur anderen Seite gewandt und machte nicht den Eindruck, als hätte sie Interesse an einem Gespräch.
»Ich denke, du hast uns da draußen den Arsch gerettet«, sagte er schließlich.
»Denkst du.«
»Wie geht es dir?«
Sie sah ihn an und ihr Blick verriet, dass das eine ziemlich blöde Frage war.
»Du hast dich ziemlich gut geschlagen. Wer hat dich ausgebildet?«
»Mein Vater.«
»Dann war er ein ausgezeichneter Lehrer.«
Sie schwieg und wandte ihren Blick wieder ab.
Jace griff in die Innentasche seiner Lederjacke und holte das Foto ihrer Familie hervor, das er aus dem Branwell-Haus in Idris mitgenommen hatte, hielt es kurz in seinen Händen, ließ es wieder in seiner Tasche verschwinden und sagte leise: »Es tut mir leid, was dir und deiner Familie widerfahren ist.«
Sie zeigte keine Reaktion, also redete er weiter.
»Ich habe meine leiblichen Eltern nie kennengelernt. Valentine tötete sie, als meine Mutter mit mir schwanger war und er gab sich dann zehn Jahre lang als Michael Wayland, mein Vater, aus. Dann tötete er meinen Vater erneut …« Jace hielt inne, weil sich diese unheilvolle Erinnerung schlagartig wieder vor ihm abspulte. Seine Hand griff nach dem Ring, der an einer Kette um seinen Hals hing.
Siobhan wandte ihren Kopf in seine Richtung und sah ihn an. Ihr Blick hatte sich verändert. Sie wirkte nicht mehr so kühl und abweisend, wie noch einen Augenblick zuvor. Ihre Augen waren wieder so wach und aufmerksam, wie sonst. Überhaupt wurde ihm gerade bewusst, dass sie niemals etwas Unangenehmes, Bedrohliches oder Kaltes an sich gehabt hatte. Sie hatten noch nicht so viel miteinander zu tun gehabt, aber er erinnerte sich an die kurzen Momente, in denen sich ihre Blicke begegnet waren – auf dem Flur, im Trainingsraum oder in der Zentrale, in der Gasse zwischen dem Gewimmel unzähliger Dämonen und in dem Moment, als er dachte, es wäre ihr letzter.
»Das ist ein Herondale-Familienring?«, fragte sie.
»Er gehörte meinem leiblichen Vater.«
»Verstehe. Wie ging es weiter?«
»Die Lightwoods haben mich aufgenommen. Alec und Isabelle wurden zu meinen Geschwistern, Alec zu meinem Parabatei …«
»Dein Parabatei?«, unterbrach ihn Siobhan.
Jace nickte.
Siobhans Blick glitt ins Leere. Jace beobachtete sie. Ihre Gesichtszüge wirkten in diesem Licht noch feiner und das Blond ihrer Haare war fast so weiß, wie in der Nacht, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Es kam ihm plötzlich so vor, als seien Monate seitdem vergangen. Es herrschte dennoch eine unangenehme Spannung zwischen den beiden.
»Lightwood, Herondale, Fairchild«, sagte sie. »Hat sich die Shadowhunter-Elite dieser Tage also in New York niedergelassen.«
Jace hob kurz die Brauen und erwiderte. »Branwell ist auch kein so unbedeutender Name.«
»Hm«, machte sie und berührte die Schattenrune an ihrem Hals. Sie zog langsam deren Linien mit ihrem Zeigefinger nach. Jace hatte den Eindruck, dass ihr das gar nicht bewusst war.
»Wie ist das so?«, fragte er. »Diese Verbindung zu …«
»Einem Dämon?«, beendete sie seinen Satz.
Er nickte.
In diesem Moment fiel ihr Blick auf das Foto ihrer Familie, das halb aus seiner Jackentasche hervorschaute. Ihre Augen weiteten sich und trotz ihrer offensichtlichen Schmerzen, richtete sie sich ebenso abrupt auf und rupfte ihm das Foto aus der Tasche. »Wo hast du das her?«
»Deine Familie hat ein ziemlich beeindruckendes Anwesen in Idris.«
»Hat?«, sagte sie und fuhr mit den Fingern über das Bild in ihrer Hand. »Ich bin davon ausgegangen, der Rat hätte unser Haus zerstört oder verflucht, nachdem was …«, sie verstummte.
Jace ließ sie in dem Glauben, dass das nicht geschehen war. Sonst hätte er preisgeben müssen, dass er und Clary ebenfalls über spezielle Fähigkeiten verfügten, von denen Branwell jedoch nichts wissen sollte.
Er wollte sie gerade zu der Person auf dem Foto fragen, die offenbar nicht zur Familie gehörte, als er bemerkte, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie wirkte erstarrt. Das Foto war ihr aus den Händen gefallen und ihr Körper war ein einziger Krampf.
»Magnus!«, brüllte er, sprang auf und wusste nicht, was er tun sollte.
Magnus kam sofort in das Zimmer geeilt, legte seine Hände an ihren Kopf, sprach etwas in irgendeiner Sprache und sogleich löste sich ihr Anfall und sie sank bewusstlos zurück in die Kissen.
Jace sah Magnus erschrocken an. »Was ist passiert?«
Der Hexenmeister seufzte. »Ihr Körper wehrt sich in regelmäßigen Abständen gegen das Gift. Er schafft es nicht, sie stirbt und nur eine Sekunde später schlägt ihr Herz wieder. Eine Weile geht es ihr einigermaßen gut, dann wiederholt sich das Ganze.«
»Wie oft ist das schon passiert, seit wir sie hergebracht haben?«
»Siebenmal«, antwortet Magnus abwesend, der gerade das Foto der Branwells neben Siobhans Bett entdeckt.
»Siebenmal?«
Magnus hob das Bild zeitlupenartig vom Boden auf und hielt es nun in beiden Händen. Seinem Gesicht war sämtliche Farbe entwichen und Jace begann sich jetzt auch um ihn ernsthafte Sorgen zu machen. »Magnus?«
Der Hexenmeister blickte ihn mit glasigen Augen an, sagte jedoch immer noch keinen Ton.
»Weißt du, wer das auf dem Foto ist?«, fragte Jace.
»Die Branwells«, antwortete er knapp.
Jace trat näher und tippte auf den jungen Mann hinter Siobhan, der verblüffende Ähnlichkeit mit Alec hatte. »Ich meine den da. Wer ist das?«
»Das ist Yael.«
Jace erinnerte sich daran, was Alec ihm erzählt hatte. »Der Hexenmeister, mit dem du …?« Jace kam nicht dazu, den Satz zu beenden, da Magnus ihn plötzlich mit wütenden Katzenaugen anfunkelte und ihn ohne weitere Erklärung stehenließ. Doch Jace gab sich damit nicht zufrieden, er ging ihm hinterher und stellte ihn zur Rede. »Wie kommt es, dass dein Ex verdammt noch mal so aussieht wie Alec?«
»Was willst du mir unterstellen, Shadowhunter«, zischte Magnus ihn an.
»Ich weiß nicht, sag du es mir?«
Jace war jetzt ebenso wütend. Er liebte Alec wie einen Bruder. Ihn zu beschützen, war ihm wichtiger als alles andere. »Bist du nur mit Alec zusammen, weil er deiner verflossenen Liebe ähnelt?«
Der Hexenmeister ließ diese Frage unbeantwortet und sank erschöpft in den Sessel.
Jace hatte gehofft, dass er Unrecht hatte und Magnus sich lautstark gegen diese Anschuldigung wehren würde, doch stattdessen, saß er da wie ein Häufchen Elend und vermied es Jace in die Augen zu sehen. Jace war fassungslos. Und plötzlich gewann Wut die Oberhand. Er griff Magnus blitzartig am Kragen, zog ihn aus seinem Sessel und hatte eine Klinge an dessen Hals.
Magnus war erschrocken, aber geistesgegenwärtig genug, um Jace mit einer einzigen Handbewegung durch den Raum zu schleudern. Jace war dadurch erst recht angestachelt, er rappelte sich auf, funkelte den Hexenmeister böse an und knurrte: »Mistkerl!«
Magnus hob erneut seine Hand und Jace war nicht mehr in der Lage, sich zu rühren. Der Hexenmeister ließ sich zurück in den Sessel plumpsen, blickte Jace bekümmert an und erklärte: »Ich gebe zu, das erste Mal, als ich Alexander gesehen habe, da war ich schockiert und fasziniert zugleich. Und ja, ich wollte unbedingt den Mann kennenlernen, der …«, er ließ den Satz unbeendet und blickte wieder zu Jace, der immer noch, irgendwie versteinert und in Angriffshaltung dort stand und ihn zornig anfunkelte. »Aber es ist nicht so, wie du denkst. Alexander und Yael könnten unterschiedlicher nicht sein. Alec ist gütig, großherzig und rein. Yael hingegen war ein Hexenmeister, wie er im Buche steht. Er hatte neben seinen guten auch die schlimmsten der schlechten Eigenschaften eines Warlocks – er war durchtrieben, selbstsüchtig und kompromisslos, wenn es um seine Belange ging. Genau diese Eigenschaften und seine besessene Hingabe für Christian Branwell machten ihn so anfällig für die dunkle Magie.«
Magnus drehte sein Handgelenk kurz in der Luft und löste die Magie, die Jace bewegungsunfähig gemacht hatte. Sofort hatte Magnus wieder dessen Klinge an der Kehle, doch diesmal wehrte er sich nicht. »Nur zu, Shadowhunter. Ich habe es verdient«, sagte er.
Jaces Hand zitterte. Er konnte sich nur schwer im Zaum halten. »Liebst du Alec?«
»Mehr als mein Leben«, antwortete Magnus und sah Jace dabei so fest in die Augen, dass kein Zweifel daran bestand, dass er es auch so meinte.
Jace ließ seine Hand sinken. Er trat einen Schritt zurück und verstaute die Klinge wieder an seinem Gürtel.
»Wirst du es ihm sagen?«, fragte Magnus.
»Nein. Du wirst es ihm sagen. Früher oder später wird Alec es sowieso herausfinden.« Jace deutete auf das Foto in Magnus Hand.
Magnus rieb sich über die Stirn. »Ja, selbst wenn dieses Foto nicht existieren würde.«
»Wie meinst du das?«
»Es könnte sein, dass Yael vielleicht noch lebt.«
»Was? Ich dachte, er hätte sich nach Siobhans Tod selbst getötet? Das hast du doch Alec erzählt, oder nicht?«
»Es ist leicht, seinen Tod vorzutäuschen, wenn man ein Hexenmeister der dunklen Magie ist.«
»Warum hast du Alec das nicht gesagt?«, schimpfte Jace.
»Zum einen, wegen des Offensichtlichen«, er blickte wieder auf das Foto. »Und zum anderen, weil ich mir nicht sicher war. Aber niemand sonst könnte wohl eine ganze Stadt aus Idris verschwinden lassen.«
»Du meinst, das war Yael?«
Magnus nickte.
»Also was heißt das jetzt? Dass Yael und Beleth gemeinsame Sache machen?«
»Niemand hasst den Rat mehr als Yael, nachdem was sie Christian Branwell angetan haben.«
»Hat er nicht den Branwells geholfen Beleth zu binden, um ihn nach Edom zu verbannen?«
Magnus stand abrupt aus seinem Sessel auf. »Dunkle Magie verändert einen. Und wer weiß schon, was in über siebzig Jahren aus ihm geworden ist. Oder wo er sich aufgehalten hat. Hexenmeister wie er können sich in diversen Paralleldimensionen aufhalten. Ich weiß nicht, was er erlebt, gesehen oder in der Zwischenzeit sich und anderen angetan hat. Aber ich glaube nicht, dass noch sehr viel von dem anständigen Teil seiner Selbst übriggeblieben ist. Hass frisst sich durch die Seele wie Rost durch Stahl, bis nichts mehr davon übrig ist.«
»Wie konntest du uns nur so eine wichtige Information vorenthalten, Magnus?«, fluchte Jace. »In ein paar Stunden nehmen wir es mit dem mächtigsten Dämon auf, mit dem wir es je zu tun hatten, nur weil du behauptet hast, er wäre gerade schwach. Und du hältst es nicht für nötig, uns darüber zu informieren, dass es da eventuell noch einen dunklen Warlock gibt, der ganze Städte aus Idris verschwinden lassen kann und der vielleicht auf Beleths Seite ist?«
Magnus hob beschwichtigend die Hände. »Ich weiß. Ich weiß, wie das aussehen muss, aber ich habe das unter Kontrolle. Ich habe einen Plan und ich werde mich um Yael kümmern!«
Jace sah ihn zweifelnd an. »Bist du sicher, dass du es mit ihm aufnehmen kannst?«
»Wenn noch ein Rest Menschlichkeit in ihm steckt, dann ja.«
»Was ist mit Siobhan? Was wird aus ihr? Kann ich noch einmal mit ihr sprechen? Ich muss wissen, warum sie weggelaufen ist. Was sie vorhatte? Wo sie hinwollte.«
»Ich befürchte, das wird nicht möglich sein.«
»Wieso nicht?«
»Ich kann ihr nichts mehr verabreichen, um ihren Zustand zu verbessern oder ihre Schmerzen zu nehmen, denn das könnte Beleth ebenso stärken. Wir brauchen ihn aber so schwach wie möglich. Und selbst dann wird er noch eine Herausforderung sein.«
»Großartig«, murmelte Jace, blickte noch einmal in Richtung Gästezimmer und verließ dann ohne ein weiteres Wort das Loft.